OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 26.03.2010 - 1 B 33/10 - asyl.net: M18214
https://www.asyl.net/rsdb/M18214
Leitsatz:

Keine visumsfreie Einreise für türkische Staatsangehörige unter Berufung auf die passive Dienstleistungsfreiheit, da sich diese darauf beschränkt, Leistungen vorübergehend in einem anderen Vertragsstaat zu erbringen oder in Empfang zu nehmen und nicht dazu berechtigt, dauerhaft in einem Mitgliedstaat Aufenthalt zu nehmen, auch wenn dabei Dienstleistungen erbracht oder empfangen werden. Bei einem dauerhaften Aufenthalt fehlt diesen Dienstleistungen der grenzüberschreitende Charakter.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Familiennachzug, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Ehegattennachzug, deutscher Ehegatte, türkische Staatsangehörige, Visumspflicht, unerlaubter Aufenthalt, vorläufiger Rechtsschutz, Stillhalteklausel, Assoziationsberechtigte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Diskriminierung, Inländerdiskriminierung, Begründungserfordernis, Beschwerdeverfahren,
Normen: AufenthG § 4 Abs. 1, ZP Art. 41 Abs. 1, VwGO § 123 Abs. 1, VwGO § 146 Abs. 4 S. 3
Auszüge:

[...]

1. Der 1981 geborene Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Er begehrt eine Aufenthaltserlaubnis, weil er in der Türkei eine deutsche Staatsangehörige geheiratet hat. Nach der Ablehnung seines Antrags hat der Antragsteller einstweiligen Rechtsschutz beantragt. [...]

2. Die Beschwerde kann keinen Erfolg haben. Die dargelegten Gründe rechtfertigen keine Abänderung der angefochtenen Entscheidung (§ 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6 VwGO).

a) Für vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO ist hier kein Raum, denn der Antragsteller kann sich nicht auf eine Fiktionswirkung seines Antrages auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 81 Abs. 3 AufenthG berufen. Als er diesen Antrag im Januar 2009 stellte, nachdem er ohne Visum nach Deutschland gekommen war, war sein Aufenthalt rechtswidrig.

Der Antragsteller hätte nach § 4 Abs. 1 AufenthG eines Aufenthaltstitels bedurft. Aufgrund des Abkommens vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (Assiziierungsabkommen) ergab sich für ihn kein Recht auf Aufenthalt ohne vorherige Einholung eines Sichtvermerks. Die Bundesrepublik ist zwar nach Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen für die Übergangsphase der Assoziation (BGBl 1972 II S. 385) (Zusatzprotokoll) unmittelbar verpflichtet, im Verhältnis zur Türkei keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einzuführen. Deshalb darf die Inanspruchnahme dieser Freiheiten durch türkische Staatsangehörige keinen strengeren Regeln als den bei Inkrafttreten des Zusatzprotokolls am 01.01.1973 dafür maßgeblichen Vorschriften unterworfen werden (BVerwG, U. v. 30.04.2009, 1 C 6/08, NVwZ 2009, 1162, 1163). Nach der damals gültigen Rechtslage durften türkische Staatsangehörige ohne Visum nach Deutschland einreisen, wenn sie keine Erwerbstätigkeit ausüben wollten (§ 5 Abs. 1 der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes (DVAuslG) in der Fassung vom 12.03.1969 (BGBL I S. 207), zuletzt geändert durch Verordnung vom 13.09.1972 (BGBl I S. 1743).

Die Standstill-Klausel in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls ist indes nur anwendbar, soweit türkische Staatsangehörige von den genannten Freiheiten Gebrauch machen. Der Antragsteller beruft sich allein auf seine passive Dienstleistungsfreiheit. Es kann dahinstehen, ob das Assoziierungsabkommen sich auf eine Inanspruchnahme der passiven Dienstleistungsfreiheit erstreckt (zweifelnd OVG Berlin-Brandenburg, B. v. 06.10.2009, 12 M 25/09, NVwZ-RR 2010, 126 m. Nwn.). Denn der Antragsteller hat diese Freiheit nicht wahrgenommen. Da die Dienstleistungsfreiheit sich darauf beschränkt, Leistungen vorübergehend in einem anderen Vertragsstaat zu erbringen oder in Empfang zu nehmen, berechtigt sie nicht dazu, dauerhaft in einem Mitgliedstaat Aufenthalt zu nehmen, auch wenn dabei Dienstleistungen erbracht oder empfangen werden, denn bei einem dauerhaften Aufenthalt fehlt diesen Dienstleistungen der grenzüberschreitende Charakter (EuGH, U. v. 05.10.1988, 196/87, Steymann, Slg 1988, 6159, Rn. 17; U. v. 17.06.1997, C-70/95, Sodemare, Slg. 1994, I-3395, Rn. 38; U. v. 19.10.2004, C-200/02, Zhu und Chen, Slg. 2004, I-9925, Rn. 22; Mielitz, Die Visumsfreiheit türkischer Touristen, NVwZ 2009, 276, 278). Deshalb wird der Familiennachzug, mit dem ein dauerhafter Aufenthalt im Bundesgebiet erstrebt wird, von der Dienstleistungsfreiheit nicht erfasst (Dienelt, Auswirkungen der Soysal-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs auf das Visumverfahren türkischer Staatsangehöriger, ZAR 2009, 182, 188; Mielitz, a. a. O., 278 f.; Gutmann, Legalisierung des illegalen Aufenthalts?, NJW 2009, 3218). Die Einreise des Antragstellers diente dem Familiennachzug.

b) Auch vorläufigen Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO kann der Antragsteller nicht beanspruchen. Soweit die Beschwerde sich auf ein Recht des Antragstellers aus Art. 14 i. V. m. Art. 8 EMRK beruft, genügt sie nicht den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO. Danach muss eine Beschwerde gegen einen Beschluss des Verwaltungsgerichts in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Der Antragsteller hat zur Begründung seiner Beschwerde Bezug auf das Vorbringen in erster Instanz und eine darin für die Unzulässigkeit einer Inländerdiskriminierung beim Familiennachzug angeführte Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs genommen, ohne sich mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts auseinanderzusetzen. Eine solche Wiederholung des erstinstanzlichen Vortrags genügt grundsätzlich nicht dem Begründungserfordernis (vgl. VGH Baden-Württemberg, B. v. 08.11.2004, 9 S 1536/04, NVwZ-RR 2006, 74; Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl., 2009, § 146 Rn. 41; Meyer-Ladewig/Rudisile in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, Stand 2009, § 146 Rn. 13c). Etwas anderes könnte gelten, wenn der Beschwerdevortrag erkennen ließe, dass der angefochtene Beschluss den Vortrag in erster Instanz vernachlässigt. Auch hierfür lässt sich dem Vorbringen jedoch nichts entnehmen.

Unabhängig davon ist festzustellen, dass eine unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Personengruppen nur dann eine Diskriminierung im Sinne von Art. 14 EMRK darstellt, wenn es für die Unterscheidung keinen objektiven und angemessenen Rechtfertigungsgrund gibt und/oder zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel kein angemessenes Verhältnis besteht (Peukert, EMRK, 3. Aufl., 2009, Art. 14 Rn. 7 m. Nwn.). Der Vortrag des Antragstellers lässt nicht erkennen, dass diese Voraussetzungen hier erfüllt sind. Soweit der Antragsteller sich auf eine Entscheidung des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahr 1997 beruft, vernachlässigt er bereits dessen aktuelle Rechtsprechung. Der Gerichtshof hat klargestellt, dass eine unterschiedliche Behandlung von Ansprüchen Drittstaatsangehöriger auf Familienzusammenführung, die daran anknüpft, ob die stammberechtigten Angehörigen von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben oder nicht, mit Art. 14 EMRK vereinbar ist (Erkenntnisse vom 13.10.2007, B1462/06, und 16.12.2009, G244/09 u. a., beide abrufbar unter www.ris.bka.gv.at). Es ist nicht vorgetragen, dass die Frau des Antragstellers von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätte. [...]