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VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Urteil vom 01.02.2011 - RO 9 K 10.30381 - asyl.net: M18217
https://www.asyl.net/rsdb/M18217
Leitsatz:

Anerkennung eines in der Bundesrepublik Deutschland zu den Zeugen Jehovas konvertierten aserbaidschanischen Staatsangehörigen wegen drohender erheblicher Freiheitsentziehung im Hinblick auf eine Wehrdienstverweigerung.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Aserbaidschan, Zeugen Jehovas, Wehrdienstverweigerung
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Klage ist zulässig und im Hauptantrag begründet. Nach der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erweist sich der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 20. September 2010 in Nrn. 2 bis 4 als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -). Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG. [...]

Seine Anhörung in der mündlichen Verhandlung hat zur richterlichen Überzeugung ergeben, dass der Kläger auf Grund einer echten, tiefgehenden Glaubensentscheidung Anhänger der Zeugen Jehovas geworden ist. Nach seiner glaubhaften Schilderung und der vorgelegten Bestätigung des Herrn ... hatte dessen Sohn im Februar 2009 im Rahmen der Sozialarbeit der Zeugen Jehovas die Asylbewerberunterkunft aufgesucht und im Gespräch mit dem Kläger dessen Interesse für religiöse Themen geweckt. Seither hat sich dieser Kontakt stetig intensiviert und der Kläger besucht mittlerweile regelmäßig am Sonntag und Donnerstag die englischsprachigen Versammlungen der Zeugen Jehovas in ... Er hat überzeugend dargetan, dass er sich auch durch die Lektüre religiösen Schrifttums mit den Lehren der Zeugen Jehovas vertraut macht und deren Positionen teilt, insbesondere die prinzipielle Ablehnung des Militärdienstes.

Nach Auskunftslage sind die Zeugen Jehovas in Aserbaidschan zahlreichen Schikanen ausgesetzt, die sich allerdings in erster Linie gegen ihre bekanntermaßen stark ausgeprägte Missionstätigkeit richten. Ob diesen Maßnahmen bereits ein für den Flüchtlingsschutz ausreichendes Gewicht zukommt, einem Anhänger der Zeugen Jehovas die Rückkehr nach Aserbaidschan also schon deswegen unzumutbar ist, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Gleiches gilt für die Frage, wie weit der Schutz vor Eingriffen in die Religionsfreiheit im Sinne von Art. 9, 10 der Richtlinie 2004/83/EG reicht (vgl. dazu den Vorlagebeschluss des BVerwG v. 09.12.2010 - 10 C 19.09 und 10 C 21.09), Denn zur Überzeugung des Gerichts droht dem Kläger wegen seiner mittlerweile religiös fundierten Wehrdienstverweigerung eine Freiheitsentziehung von erheblicher Dauer.

Die Verfassung der Republik Aserbaidschan sieht zwar einen Ersatzdienst für die Wehrpflichtigen vor, deren Überzeugungen der Leistung eines aktiven Wehrdienstes entgegenstehen. Eine entsprechende gesetzliche Regelung existiert aber trotz wiederholter Anmahnung durch den Europarat bisher nicht. Zahlreiche Parlamentarier vertreten offen die Ansicht, dass sich Aserbaidschan im Krieg (mit Armenien) befinde und sich ein solches Gesetz deshalb nicht "leisten" könne (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16.12.2010, S. 16). Damit übereinstimmend wird in der Pressemitteilung Nr. 72/10 der Zeugen Jehovas vom 25. Oktober 2010 (vnvw.jehovaszeugen.de) berichtet, dass der Wehrpflichtige Farid Mammadov, der wiederholt die Ableistung eines alternativen Zivildienstes aus Gewissengründen beantragt hatte, in zweiter Instanz zu einer Haftstrafe von 9 Monaten Dauer verurteilt worden ist, da es für sein Begehren keine gesetzliche Grundlage gebe. Auf Grund des somit naheliegenden Risikos einer entsprechenden Strafverfolgung ist dem Kläger Flüchtlingsschutz zu gewähren. [...]