VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 18.01.2011 - A 6 K 615/10 - asyl.net: M18231
https://www.asyl.net/rsdb/M18231
Leitsatz:

Einer alleinstehenden Frau mit "westlichem" Lebensstil, die nicht religiös ist und keine finanziellen Mittel hat, droht bei einer Rückkehr in den Irak nach wie vor geschlechtsspezifische Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure (Fortführung der Kammerrechtsprechung, vgl. Urteil vom 26.06.2007 - A 6 K 394/07 -, juris [asyl.net, M10868]).

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Irak, alleinstehende Frauen, westlicher Lebensstil, geschlechtsspezifische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzfähigkeit,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 3, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4c
Auszüge:

[...]

Ob die Klägerin im Falle einer Rückkehr in den Irak von nichtstaatlichen Akteuren wegen der Tätigkeit ihres Vaters verfolgt würde, kann offen bleiben. Immerhin glaubt das Gericht der Klägerin aber, dass ihre Eltern und ihr Bruder im Herbst 2009 von Unbekannten ermordet worden sind und dass sie lediglich aus Zufall dem Anschlag entging. [...]

Entscheidend ist, dass sie nach einer Rückkehr in den Irak mit hoher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifische Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu erwarten hätte, und zwar im gesamten Staatsgebiet, ohne dass der Staat oder staatsähnliche bzw. internationale Organisationen sie davor schützen könnten (§ 60 Abs. 1 S. 1, 3 und 4c AufenthG). [...]

Das Auswärtige Amt führt im Lagebericht vom 28.11.2010 aus, die Stellung der Frau habe sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Hussein-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. In der irakischen Gesellschaft würden Tendenzen zur Durchsetzung islamischer Regeln, z.B. Kleidervorschriften zunehmen. Muslimische und christliche Frauen würden verstärkt unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Möglichkeiten zur Teilnahme am öffentlichen Leben würde eingeschränkt. Es gebe viele Anzeichen, dass "Ehrenmorde" in der Praxis noch immer weitgehend straffrei blieben und verbreitet seien.

Das Deutsche Orient- Institut legt in der Stellungnahme vom 17.06.2008 an das VG Göttingen dar, die zunehmende Radikalisierung von Teilen der irakischen Gesellschaft hin zu fundamentalistisch radikalislamischen Überzeugungen stelle insbesondere für die Sicherheit der Frau eine Gefährdung dar. [...]

Das Europäische Zentrum für Kurdische Studien führt in seinem Gutachten vom 15.08.2008 an das VG Göttingen aus, ein westlich geprägter Lebensstil einer Frau sei im kurdisch verwalteten Nordirak ein klarer Tabubruch. Dieser ziehe massiven Druck und Ausgrenzung nach sich. Eine Frau, deren Verhalten als "ehrlos" eingestuft werde, werde verstärkt sexuellen Avancen und Übergriffen ausgesetzt sein. Gewalttätige Übergriffe männlicher Verwandter bis hin zu "Ehrenmorden" seien nicht auszuschließen. Die Situation „westlich“ orientierter Frauen außerhalb der kurdisch verwalteten Region stelle sich in weiten Teilen noch deutlich schwieriger dar. [...]

Wie sich auch aus dem Lagebericht vom 28.11.2010 ergibt, bietet der irakische Staat keinen ausreichenden Schutz vor solchen Verfolgungen; dies leuchtet schon deswegen ein, weil das beschriebene Verhalten gegenüber "westlich" orientierten Frauen fest in der irakischen, männlich dominierten Gesellschaft verankert ist, so dass der Staat gar keinen Anlass sieht, dagegen vorzugehen.

Von derartiger Verfolgung wird auch die Klägerin betroffen sein. Sie machte auf das Gericht den Eindruck einer am westlichen Lebensstil orientierten, selbstbewussten jungen Frau, die gerne auf eigenen Füßen stehen würde und die nur auf dem Papier Sunnitin ist. [...] Das Gericht glaubt der Klägerin auch, dass sie im Irak Niemanden hätte, bei dem sie unterkommen könnte, weil ihr Vater sich verhasst gemacht habe, so dass die Verwandten sich von der Familie abgewandt hätten und es auch keine Freunde der Familie gegeben habe. Die Nachbarn, die der Klägerin nach dem Anschlag geholfen haben, sind Christen und leiden selbst unter Repressalien; sie können ihr daher nicht helfen. Bei einer Rückkehr in den Irak wäre sie damit ganz auf sich allein gestellt. Sie würde dann alsbald Anstoß erregen, und zwar selbst wenn sie sich in der Öffentlichkeit gegen ihren Willen den dortigen Bekleidungsvorschriften unterwerfen würde. Als alleinstehende, nicht religiöse Frau ohne Verwandte und Freunde und ohne finanzielle Mittel (ihr Geld und Schmuck wurden für die Reise nach Deutschland ausgegeben) würde sie mit großer Wahrscheinlichkeit rasch ins Blickfeld von Fundamentalisten geraten. Dies würde dann zu den vom Auswärtigen Amt und dem Europäischen Zentrum für Kurdische Studien beschriebenen schlimmen Repressalien führen, ohne dass sie Schutz vor Verfolgung erwarten könnte. Damit ist ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, so dass Nummer 2 des Bescheides vom 03.02.2010 aufzuheben war. [...]