VG Saarland

Merkliste
Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 26.10.2010 - 2 K 147/10 - asyl.net: M18236
https://www.asyl.net/rsdb/M18236
Leitsatz:

Keine Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Irak, Yeziden, religiöse Verfolgung, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling unter dem Gesichtspunkt einer Gruppenverfolgung von Angehörigen der yezidischen Religionsgemeinschaft im Irak zu.

Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Dabei muss die Gesamtzahl der Angehörigen der von den Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe (hier: Yeziden) ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungshandlungen gegen die betroffene Gruppe festgestellt werden, die an ein oder mehrere Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG anknüpfen (hier: yezidischer Glauben). Alle danach gleich gearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen dann zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Die für die Gruppenverfolgung entwickelten Maßstäbe sind auch anwendbar unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) und übertragbar auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG.

Unter Anwendung dieser Grundsätze steht zur Überzeugung des Gerichts in dem nach § 77 Abs. 1 AsylVfG für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung fest, dass eine Gruppenverfolgung der Yeziden im Irak derzeit nicht gegeben ist. Die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte haben bisher sowohl die Kammer (vgl. zuletzt Urteil vom 12.08.2008 –2 K 122/08) als auch das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes Beschluss vom 26.03.2007 (3 A 30/07), in dem ausgehend von der Gesamtzahl der Yeziden im Irak von 475.000 und 137 festgestellten Übergriffen eine Anschlagsdichte von 1 : 3467 ermittelt worden ist) verneint und dabei hat es zur Überzeugung des Gerichts auch nach Auswertung neuerer Erkenntnisse zu verbleiben.

Die Kammer hat in dem erwähnten Urteil vom 12.08.2008 (2 K 122/08) unter Berücksichtigung der seit der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts berichteten Übergriffe (vgl. Europäisches Zentrum für kurdische Studien an VG Köln vom 26.05.2008; Uwe Brocks – GIGA – Institut für Nahoststudien – an VG Köln vom 07.09.2007; Pressemitteilungen der Süddeutschen Zeitung und Neue Zürcher Zeitung vom 16.08.2007 sowie in FAZ vom 14.07.2008) festgestellt, dass sich nach dem Ansatz des Oberverwaltungsgerichts unter Einbeziehung von weiteren 400 asylerheblichen Übergriffen ein Verhältnis von 537 : 475.000 ergebe. Da mithin weiter mehr als 99 % der yezidischen Bevölkerung von Übergriffen verschont blieben, seien die Anforderungen, die an die Annahme einer Regelvermutung zu stellen seien, nach wie vor nicht erfüllt.

Daran ist auch unter Berücksichtigung der seither berichteten weiteren Übergriffe (vgl. bspw. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11.04.2010; Stellungnahme des Europäischen Zentrums für kurdische Studien (EZKS) vom 17.02.2010) festzuhalten, zumal es ausweislich des der Kammer vorliegenden Erkenntnismaterials zu (terroristischen) Übergriffen in dem Ausmaß des Vorfalls am 14.08.2007 in Sinjar, bei dem 336 Yeziden ermordet und etwa 1.000 Familien obdachlos geworden seien, nicht mehr gekommen ist.

Als gesichert erscheinen ungeachtet der weiter einzubeziehenden Dunkelziffer ein Feuerüberfall am 14.12.2008 auf ein Haus in Sinjar-Stadt mit 7 Toten und ein Selbstmordattentat ebenfalls in Sinjar-Stadt am 13.08.2009 mit 21 Toten und 32 Verletzten (vgl. EZKS vom 17.02.2010, Seite 14).

Selbst wenn man eine zahlenmäßig niedrigere Gruppengröße als in dem erwähnten Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes von nur 200.000 bis 250.000 Personen zugrunde legen würde und weiter davon ausginge, dass alle berichteten Maßnahmen gegen die Yeziden verfolgungsrelevant im Sinne der Art. 9 Abs. 1 a) und Abs. 1 b), Art. 9 Abs. 2 a) und Art. 9 Abs. 3 i. V. m. Art. 10 der Qualifikationsrichtlinie wären, wäre die bekannt gewordene Zahl der Übergriffe in den vergangenen Jahren nicht geeignet, eine Verfolgung der Yeziden als religiöse Gruppe zu belegen.

Selbst bei Annahme eines zugunsten des Klägers gerundeten Verhältnisses von 600 : 200.000 (Eingriffshandlungen im Verhältnis zur Personengesamtzahl) bleiben weiter mehr als 99 % der Yeziden von Übergriffen verschont; damit hält das Ausmaß der Verfolgungshandlungen einen sicheren Abstand zu der kritischen Verfolgungsdichte, wobei offenbleiben kann, ob diese Grenze angesichts der Gruppengröße bereits bei einer Verfolgungsdichte von 1/10 erreicht wäre oder erst etwa 1/3 hinreichend wäre (vgl. dazu VG Karlsruhe, Urteil vom 09.06.2010 – A 10 K 3473/09 – juris; BVerwGE 101, 123 ff.).

Betrachtet man in der Provinz Ninive diejenigen Gebiete, in denen Yeziden vornehmlich leben (Distrikt Sinjar, Distrikte Sheikhan und Al-Sheikhan, Subdistrikt Baschika) ist zudem, was die Gefahr von Verfolgungshandlungen angeht, festzuhalten, dass in den Distrikten Sheikhan und Al-Sheikhan die Sicherheitslage grundsätzlich besser ist als im Distrikt Sinjar (vgl. EZKS, Stellungnahme vom 17.02.2010, S. 23). [...]