OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Beschluss vom 04.02.2011 - 2 A 227/10 - asyl.net: M18242
https://www.asyl.net/rsdb/M18242
Leitsatz:

Im Rahmen der den Ausländerbehörden und - gegebenenfalls, aus Anlass einer Rechtsbehelfseinlegung - den Verwaltungsgerichten obliegenden prognostischen Beurteilung einer Wiederholungsgefahr bei Straftätern setzt eine Berücksichtigung mit der Begehung der jeweiligen Straftaten im Zusammenhang stehender nicht stoffgebundener Abhängigkeiten des Straftäters wie einer "Spielsucht", eines Kaufzwangs beziehungsweise einer Klepto- oder Pyromanie nicht zwingend voraus, dass diese bereits das vom Bundesgerichtshof im Strafverfahren geforderte qualifizierte Ausmaß einer "schwersten Persönlichkeitsveränderung" erreicht hat, die Anlass zur Prüfung gibt, ob dem Betroffenen wegen einer krankhaften seelischen Störung beziehungsweise wegen einer schweren seelischen Abartigkeit eine erhebliche Verminderung oder gar eine Aufhebung seiner Steuerungs- und damit Schuldfähigkeit im Verständnis der §§ 20, 21 StGB zugute gehalten werden kann. Auch in diesem Sinne "unterschwellige" nicht stoffgebundene Süchte können, wenn sie vorliegen und mitursächlich für die Begehung der Straftaten, hier einem fortgesetzten Handel mit Betäubungsmitteln zur Beschaffung von "Spielgeld", gewesen sind, die Annahme einer Wiederholungsgefahr rechtfertigen, wenn keine grundlegenden Veränderungen in den Gesamtumständen erkennbar sind.

Zum Anspruch auf zeitliche Begrenzung der Folgen von Ausweisung und Abschiebung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG unter Berücksichtigung einerseits familiärer Bindungen eines mehrfach straffällig gewordenen Ausländers im Inland und andererseits einer erhebliche Gefahr erneuter Begehung von Straftaten, konkret im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität.

Der Wunsch, dauerhaft den Kontakt mit Kindern in Deutschland zu pflegen, rechtfertigt nicht die Erteilung einer Betretenserlaubnis nach § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, da dieser Anlass kein vorübergehender Umstand wäre, dem durch eine Erlaubnis zum "kurzfristigen" Betreten auch nur ansatzweise Rechnung getragen werden könnte.

Eine Betretenserlaubnis darf darüber hinaus nicht erteilt werden, wenn selbst der kurzfristige Aufenthalt des betreffenden Ausländers mit einiger Wahrscheinlichkeit zu einer erneuten Gefährdung der öffentlichen Sicherheit führt.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Wiederholungsgefahr, Spielsucht, Betretenserlaubnis, nachträgliche Befristung, Ausweisung, pathologische Spielleidenschaft,
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3, AufenthG § 11 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Der Vortrag des Klägers begründet keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), (vgl. dazu allgemein etwa OVG des Saarlandes, Beschluss vom 21.6.2002 – 1 Q 55/01 -, SKZ 2002, 289, Leitsatz Nr. 15, wonach die Frage des Vorliegens ernstlicher Zweifel am Maßstab der Ergebnisfehlerhaftigkeit zu beurteilen ist und eine Prognose dahingehend erfordert, ob das angestrebte Rechtsmittel voraussichtlich Erfolg haben wird, ständige Rechtsprechung; in dem Zusammenhang auch BVerwG, Beschluss vom 10.3.2004 – 7 AV 4/03 -, DVBl. 2004, 838, wonach die Vorschrift – ebenso wie der Tatbestand zu Nr. 2 – die Richtigkeit der Entscheidung gewährleisten soll und "ernstliche Zweifel" (Nr. 1) auch dann nicht anzunehmen sind, wenn sich das angegriffene Urteil zwar nicht aus den darin angegebenen Gründen, aber aus anderen Gründen als richtig erweist) mit der das Verwaltungsgericht seine Klage auf Verpflichtung des Beklagten zur Befristung der Folgen seiner Ausweisung und Abschiebung sowie zur Erteilung einer Betretenserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland abgewiesen hat.

Das gilt zunächst insoweit, als der Kläger die Feststellung in der erstinstanzlichen Entscheidung angreift, dass nicht erkennbar sei, dass er seine "pathologische Spielleidenschaft", die nach dem Strafurteil vom Juni 2002 zu einer erheblich verminderten Einsichts- und Steuerungsfähigkeit bei der Begehung der Straftaten geführt habe, zwischenzeitlich erfolgreich bekämpft habe, und meint, dass ihm "keine aktuelle hochgradige Spiel- und Alkoholsucht unterstellt" werden könne. In dem Zusammenhang muss klargestellt werden, dass sich das Verwaltungsgericht bei der Annahme einer "offensichtlichen Gefahr erneuter schwerwiegender Straffälligkeit" das damals mit Blick auf eine mögliche vorzeitige Haftentlassung gefertigte und aus Sicht des Klägers negative Gutachten vom Januar 2005 zu Eigen gemacht hat, wonach wegen der gesamten Lebenssituation und der Perspektiven (ausdrücklich:) "unabhängig" von einer ungelösten Alkohol- und Glücksspielproblematik eine Entlassung aus der Haft als mit dem "hohen Risiko weiterer Straftaten verbunden" angesehen wurde (vgl. dazu das Prognosegutachten des Instituts für Gerichtliche Psychologie und Psychiatrie vom 24.1.2005, dort Seite 20 ("Abschlussbeurteilung")) Die aus Sicht des Verwaltungsgerichts nicht erfolgreich bekämpfte Suchtproblematik des Klägers wurde als die negative Prognose hinsichtlich künftiger Straffreiheit bei Rückkehr nach Deutschland zusätzlich stützender Aspekt angesprochen (vgl. dazu Seite 16 der Entscheidungsgründe, dort letzter Absatz ("Hinzu kommt…")).

Wenn der Kläger in dem Zusammenhang auf eine gewandelte strafrechtliche Behandlung der "Spielsucht" im Gefolge einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2005 (vgl. BGH, Beschluss vom 12.1.2005 – 2 StR 138/04 –, NStZ 2005, 281) hinweist, so kann dem Vorbringen zunächst allenfalls entnommen werden, dass er inzwischen wohl die Auffassung vertritt, dass ihm vom Strafgericht seinerzeit zu Unrecht eine verminderte Schuldfähigkeit nach § 21 StGB zugestanden worden ist, somit eine – aus seiner Sicht – ungünstigere, weil längere Freiheitsstrafe zu verhängen gewesen wäre. Dem muss indes nicht weiter nachgegangen werden. Im Rahmen der den Ausländerbehörden und – gegebenenfalls, aus Anlass einer Rechtsbehelfseinlegung – den Verwaltungsgerichten obliegenden prognostischen Beurteilung einer Wiederholungsgefahr setzt eine Berücksichtigung mit der Begehung der jeweiligen Straftaten im Zusammenhang stehender nicht stoffgebundener Abhängigkeiten des Straftäters wie einer "Spielsucht", eines Kaufzwangs beziehungsweise einer Klepto- oder Pyromanie nicht zwingend voraus, dass diese bereits das vom Bundesgerichtshof im Strafverfahren geforderte qualifizierte Ausmaß einer "schwersten Persönlichkeitsveränderung" erreicht hat, die Anlass zur Prüfung gibt, ob dem Betroffenen wegen einer krankhaften seelischen Störung beziehungsweise wegen einer schweren seelischen Abartigkeit eine erhebliche Verminderung oder gar eine Aufhebung seiner Steuerungs und damit Schuldfähigkeit im Verständnis der §§ 20, 21 StGB zugute gehalten werden kann. Auch in diesem Sinne "unterschwellige" nicht stoffgebundene Süchte können, wenn sie zum einen vorliegen und zum anderen – hier unstreitig – mitursächlich für die Begehung der Straftaten, hier einem fortgesetzten Handel mit Betäubungsmitteln zur Beschaffung von "Spielgeld", gewesen sind, die Annahme einer Wiederholungsgefahr rechtfertigen, wenn keine grundlegenden Veränderungen in den Gesamtumständen erkennbar sind. Vor diesem Hintergrund begründet allein der Verweis auf eine möglicherweise von den Maßstäben her verschärfte strafrechtliche Beurteilung der Schuldfähigkeit in dem Bereich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils des Verwaltungsgerichts.

Dass diese Voraussetzungen hier erfüllt sind, unterliegt nicht ansatzweise ernsthaften Zweifeln und das sieht auch der Kläger, zumindest was seine diesbezügliche Therapiebedürftigkeit angeht, nach Aktenlage offensichtlich genauso. [...]

Die Prognose neuerlicher Straffälligkeit wäre daher auch nach einem – wie der Kläger einwendet – "erheblichen Zeitablauf" nicht anders. Im Übrigen schätzte der Kläger offensichtlich seinen Bedarf an professioneller Hilfe in der Vergangenheit durchaus realistisch ein, etwa wenn er im Rahmen des Gesprächs über die Vollzugsplanerstellung im September 2003 erklärte, er sehe bei sich eine "hochgradige Erkrankung an Spielsucht", und insoweit einen Therapiewunsch äußerte. Entsprechend äußerte sich sein Prozessbevollmächtigter in einem Schreiben vom Dezember 2003 an die Justizvollzugsanstalt. Darin heißt es, der Kläger sei aufgrund der bestehenden "Suchterkrankung in zweierlei Bereichen, die ausschlaggebend für seine delinquenten Handlungen" gewesen seien, sehr interessiert an einer Therapie zur Aufarbeitung. Ob diese Problematik letztlich ohne eine Änderung der wirtschaftlichen Perspektive des nunmehr über 50 Jahre alten Klägers für ein Leben in Deutschland überhaupt erfolgreich "aufgearbeitet" werden könnte, scheint sehr fraglich, muss aber hier nicht vertieft werden.

Einer näheren Befassung mit den insoweit vom Kläger in der Begründung des Zulassungsantrags wörtlich zitierten "Überlegungen" des seinerzeit vom Strafgericht beauftragten Gutachters, (vgl. dazu das Gutachten des Instituts für Gerichtliche Psychologie und Psychiatrie vom 10.5.2002, speziell Seite 19, letzter Absatz) ob das vom Kläger diesem gegenüber geschilderte Spielverhalten bereits die Annahme einer "schweren seelischen Abartigkeit" (§ 20 StGB) darstellte oder nur als "exzessive Spielleidenschaft" zu qualifizieren war, bedarf es daher ebenso wenig wie eines Eingehens auf die Frage, ob – wie der Kläger meint – die in diesem Punkt auf den gutachterlichen Feststellungen basierende Entscheidung des Landgerichts Saarbrücken vom Mai 2002 insofern heute "keinen Bestand mehr hätte". Bei richtigem Verständnis könnte es dabei letztlich ohnedies nur darum gehen, ob der Kläger im Rahmen der Beurteilung der subjektiven Voraussetzungen einer Strafbarkeit nach den §§ 20, 21 StGB am Maßstab der neueren strafgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. hierzu etwa Fischer StGB, 57. Auflage 2010, § 20 Rn 41 mit zahlreichen Nachweisen) im Ergebnis "zu gut weggekommen" ist. Für den vorliegenden Rechtsstreit spielt das keine Rolle.

Soweit der Kläger in dem Zusammenhang ferner beanstandet, dass das Verwaltungsgericht eine "nachhaltige Familienbindung an seine in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Familienangehörigen" bei der Rückfallprognose nicht ausreichend berücksichtigt habe, ist zum einen klarzustellen, dass die familiären Bindungen als solche im Rahmen der Beurteilung des Vorliegens eines Ausnahmefalls im Verständnis des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in den angefochtenen Verwaltungsentscheidungen und im erstinstanzlichen Urteil eine ausführliche an den Fakten orientierte Würdigung erfahren haben. Zum anderen ist nach Aktenlage offensichtlich, dass – und auch dies haben der Beklagte und das Verwaltungsgericht zutreffend herausgestellt – weder die Begründung beider Partnerschaften mit der Exehefrau und mit der Lebensgefährtin noch die Geburten der beiden Kinder dem Kläger auch nur im Entferntesten zu einer grundlegenden Änderung seines Verhaltens, geschweige den zu einer Aufgabe seiner kriminellen Aktivitäten auf dem Gebiet des Betäubungsmittelhandels, Anlass gegeben haben. Beispielhaft lässt sich das an Folgendem verdeutlichen: Der Kläger, der bereits zuvor weitere Straftaten begangen hatte, während er unter Bewährung stand, hat 1992 eine Tochter bekommen und im Dezember 1993 deren deutsche Mutter geheiratet. Da ihm dies die realistische Chance auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis eröffnete, zog er seine damals anhängige Asylklage mit dem Bemerken zurück, er wolle sich nun gerne mit Frau und Kind ein gemeinsames Leben in Deutschland aufbauen. Die wirtschaftliche Grundlage dieser Unternehmung sollte nach den Feststellungen in einem späteren Strafverfahren offenbar eine gerade im Jahr 1993 in Angriff genommene Ausweitung des Handels mit Betäubungsmitteln sein. Zu dieser Zeit ist der Kläger nach dem Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken vom Dezember 1995 (vgl. das Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken vom 7.12.1995 – 35-739/95 –, Blatt 109 der Ausländerakte) in größerem Stil auch überregional in den Drogenhandel eingestiegen, indem er ab dem 1.6.1993 nach und nach 3,3 kg Haschisch "gewinnbringend verkaufte", bevor er im Sommer 1995 zunächst in Untersuchungshaft genommen und im Dezember 1995 zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten wegen fortdauernden unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringen Mengen verurteilt wurde. Auch die zweite "Heirat nach islamischem Ritus" und die Geburt des Sohnes des Klägers im Juni 2001 gab ihm keinen Grund, sich auf dem legalen Arbeitsmarkt zu bemühen. Der Kläger, der bereits unmittelbar nach seiner Haftentlassung 1997 erneut mit Haschischmengen im Kilobereich gehandelt hatte, bestellte zeitlich unmittelbar vor oder nach der Geburt des Kindes im Sommer 2001 bei einem in den Niederlanden lebenden Landsmann eine Lieferung von 50 kg Haschisch (vgl. hierzu im Einzelnen die Tatsachenfeststellung im Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 11.6.2002 – 5-6/02 –, dort Seite 13). Vor diesem Hintergrund ist eigentlich nicht mehr nachzuvollziehen, wenn der Kläger nun in den Raum stellt, dass angesichts der familiären Bindungen eine Rückfallgefahr bei ihm nicht bestehe.

Das Verwaltungsgericht hat ferner zu Recht entschieden, dass ein Anspruch auf Erteilung einer Betretenserlaubnis nach § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, sofern man einen solchen ohne eine vorherige Beschränkung der Folgen der Ausweisung in Betracht ziehen wollte, aus mehreren Gründen nicht besteht, zumal der insoweit vom Kläger angeführte Anlass einer Wiederaufnahme der familiären Gemeinschaft mit Lebensgefährtin und Kindern sicher kein vorübergehender Umstand wäre, dem durch eine Erlaubnis zum "kurzfristigen" Betreten auch nur ansatzweise Rechnung getragen werden könnte. Der Kläger will eine dauerhafte Rückverlegung seines Wohnsitzes nach Deutschland erreichen. Das ist schon nach dem Wortlaut des § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht Sinn und Zweck der Regelung über die Betretenserlaubnis. Dabei handelt es sich nicht um einen Aufenthaltstitel. Im Ergebnis nichts anderes gilt auch für das am Ende der Begründung des Zulassungsantrags geäußerte Begehren, einer Rückkehr nach Deutschland, um hier ein Sachverständigengutachten "bezüglich seiner Suchtsituation" erstellen zu lassen. Weshalb das eine zwingende Anwesenheit des Klägers in Deutschland erfordern sollte, ist nicht nachzuvollziehen. Eine Betretenserlaubnis darf darüber hinaus nicht erteilt werden, wenn selbst der kurzfristige Aufenthalt des betreffenden Ausländers mit einiger Wahrscheinlichkeit zu einer erneuten Gefährdung der öffentlichen Sicherheit führt. Dass das beim Kläger der Fall wäre, ergibt sich aus den obigen Ausführungen zu § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. [...]