VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 20.01.2011 - 11 S 1069/10 - asyl.net: M18252
https://www.asyl.net/rsdb/M18252
Leitsatz:

EuGH-Vorlage insbesondere zu folgenden Fragen:

1. Folgt aus Unionsrecht für einen getrenntlebenden sorgeberechtigten drittstaatsangehörigen Elternteil zur Aufrechterhaltung der regelmäßigen persönlichen Beziehungen und direkten elterlichen Kontakte ein mit einer "Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers" zu dokumentierendes Verbleiberecht im Herkunftsmitgliedstaat seines Unionsbürgerkindes, wenn das Kind in Ausübung des Freizügigkeitsrechts von dort in einen anderen Mitgliedstaat verzieht?

2. Ist der sorgeberechtigte Vater eines minderjährigen Unionsbürgerkindes "Familienangehöriger" entsprechend Art. 2 Nr. 2 d) der Unionsbürger-Richtlinie 2004/38/EG?

3. Ist der Anwendungsbereich der EU-Grundrechtecharta nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GRCh schon dann eröffnet, wenn der Streitgegenstand von einem nationalen Gesetz (oder Gesetzesteil) abhängt, durch das auch - aber nicht nur - Richtlinien umgesetzt wurden?

4. Ist der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GRCh in Fortschreibung der ERT-Rechtsprechung (EuGH-Urteil vom 18. Juni 1991, Rs. C-260/89, Rn. 41-45) eröffnet, wenn ein Mitgliedstaat das Aufenthaltsrecht des getrenntlebenden drittstaatsangehörigen sorgeberechtigten Vaters einer minderjährigen Unionsbürgerin beschränkt, die sich mit ihrer Mutter wegen deren Berufstätigkeit überwiegend in einem anderen EU-Mitgliedstaats aufhält?

5. Können die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs seit der Stuttgarter Rechtssache Stauder (Rs. 29/69, Rn. 7) bis hin beispielsweise zur Rechtssache Mangold (Rs. C-144/04, Rn. 75) entwickelten "ungeschriebenen" EU-Grundrechte in vollem Umfang angewendet werden, auch wenn im konkreten Fall der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta nicht eröffnet ist, mit anderen Worten, stehen die gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV als allgemeine Unionsrechtsgrundsätze fortgeltenden Grundrechte eigenständig und unabhängig neben den neuen Grundrechten der Grundrechtecharta nach Art. 6 Abs. 1 EUV?

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Vorabentscheidungsverfahren, Vorlagebeschluss, EuGH, Aufenthaltsrecht, Unionsbürger, Familienangehörige, freizügigkeitsberechtigt, Eltern-Kind-Verhältnis, Sorgerecht, praktische Wirksamkeit, Rechtsschutzinteresse,
Normen: AEUV Art. 267, RL 2004/38/EG Art. 2 Nr. 2 Bst. d, RL 2004/38/EG Art. 3, RL 2004/38/EG Art. 7 Abs. 2, GR-Charta Art. 7, GR-Charta Art. 24 Abs. 3, EUV Art. 6 Abs. 1, GR-Charta Art. 51 Abs. 1 S. 1, FreizügG/EU § 5 Abs. 2 S. 1, RL 2004/38/EG Art. 10 Abs. 1 S. 1, GR-Charta Art. 45 Abs. 1, EUV Art. 6 Abs. 3, AEUV Art. 21 Abs. 1, AufenthG § 18, AufenthG § 7 Abs. 1 S. 2, AufenthG § 7 Abs. 1 S. 3
Auszüge:

[...]

Das Verfahren wird ausgesetzt.

Es wird gemäß Artikel 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden Fragen eingeholt:

A. Zu Artikel 2, 3 und 7 der Unionsbürger-Richtlinie 2004/38/EG:

1.) Ist insbesondere im Lichte von Art. 7 und 24 GRCh sowie Art. 8 EMRK in erweiterter Auslegung von Art. 2 Nr. 2 d) der Richtlinie 2004/38/EG "Familienangehöriger" auch ein drittstaatsangehöriger sorgeberechtigter Elternteil eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgerkindes, dem von diesem kein Unterhalt gewährt wird?

2.) Wenn ja: Gilt die Richtlinie 2004/38/EG insbesondere im Lichte von Art. 7 und 24 GRCh sowie Art. 8 EMRK in erweiterter Auslegung von deren Art. 3 Abs. 1 für diesen Elternteil auch ohne ein "Begleiten" oder "Nachziehen" gegenüber dem Herkunftsmitgliedstaat des weggezogenen Unionsbürgerkindes?

3.) Wenn ja: Folgt hieraus für diesen Elternteil insbesondere im Lichte von Art. 7 und 24 GRCh sowie Art. 8 EMRK ein Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate im Herkunftsmitgliedstaat des Unionsbürgerkindes in erweiterter Auslegung von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG, jedenfalls solange das Sorgerecht besteht und tatsächlich ausgeübt wird?

B. Zu Artikel 6 Abs. 1 EUV in Verbindung mit der Grundrechtecharta:

1.a) Ist der Anwendungsbereich der Charta nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GRCh schon dann eröffnet, wenn der Streitgegenstand von einem nationalen Gesetz (oder Gesetzesteil) abhängt, durch das auch – aber nicht nur – Richtlinien umgesetzt wurden?

1.b) Wenn nein: Ist der Anwendungsbereich der Charta nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GRCh schon deshalb eröffnet, weil dem Kläger möglicherweise ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zusteht und er in Folge nach § 5 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern beanspruchen könnte, die ihre Rechtsgrundlage in Art. 10 Abs. 1 Satz 1 der Unionsbürger-Richtlinie 2004/38/EG hat?

1.c) Wenn nein: Ist der Anwendungsbereich der Charta nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GRCh in Fortschreibung der ERT-Rechtsprechung (EuGH-Urteil vom 18. Juni 1991, Rs. C-260/89, Rn. 41-45) eröffnet, wenn ein Mitgliedstaat das Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen sorgeberechtigten Vaters einer minderjährigen Unionsbürgerin beschränkt, die sich mit ihrer Mutter wegen deren Berufstätigkeit überwiegend in einem anderen EU-Mitgliedstaat aufhält?

2.a) Wenn der Anwendungsbereich der Charta eröffnet ist: Kann unmittelbar aus Art. 24 Abs. 3 GRCh ein europarechtliches Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Vaters abgeleitet werden, jedenfalls solange er das Sorgerecht für sein Unionsbürgerkind besitzt und tatsächlich ausübt, auch wenn sich das Kind überwiegend in einem anderen EU-Mitgliedstaat aufhält?

2.b) Wenn nein: Folgt aus dem Freizügigkeitsrecht des Unionsbürgerkindes nach Art. 45 Abs. 1 GRCh gegebenenfalls in Verbindung mit Art. 24 Abs. 3 GRCh ein europarechtliches Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Vaters, jedenfalls solange er das Sorgerecht für sein Unionsbürgerkind besitzt und tatsächlich ausübt, damit insbesondere dem Freizügigkeitsrecht des Unionsbürgerkindes nicht jede praktische Wirksamkeit genommen wird?

C. Zu Artikel 6 Abs. 3 EUV in Verbindung mit den allgemeinen Unionsrechtsgrundsätzen:

1.) Können die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs seit der Stuttgarter Rechtssache Stauder (Rs. 29/69, Rn. 7) bis hin beispielsweise zur Rechtssache Mangold (Rs. C-144/04, Rn. 75) entwickelten "ungeschriebenen" EU-Grundrechte in vollem Umfang angewendet werden, auch wenn im konkreten Fall der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta nicht eröffnet ist, mit anderen Worten, stehen die gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV als allgemeine Unionsrechtsgrundsätze fortgeltenden Grundrechte eigenständig und unabhängig neben den neuen Grundrechten der Grundrechtecharta nach Art. 6 Abs. 1 EUV?

2.) Wenn ja: Lässt sich zur effektiven Ausübung des Sorgerechts aus den allgemeinen Unionsrechtsgrundsätzen, insbesondere im Lichte des Rechts auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK, ein europarechtliches Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Vaters einer minderjährigen Unionsbürgerin ableiten, die sich mit ihrer Mutter wegen deren Berufstätigkeit überwiegend in einem anderen EU-Mitgliedstaats aufhält?

D. Zu Artikel 21 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Artikel 8 EMRK:

Wenn Art. 6 Abs. 1 oder Abs. 3 EUV nicht zu einem europarechtlichen Aufenthaltsrecht des Klägers führen: Lässt sich in Fortschreibung der Rechtssache Zhu und Chen (EuGH-Urteil vom 19. Oktober 2004, Rs. C-200/02, Rn. 45-47) zur effektiven Ausübung des Sorgerechts aus dem Freizügigkeitsrecht einer minderjährigen Unionsbürgerin, die sich mit ihrer Mutter wegen deren Berufstätigkeit überwiegend in einem anderen EU-Mitgliedstaats aufhält, nach Art. 21 Abs. 1 AEUV, gegebenenfalls im Lichte von Art. 8 EMRK, ein europarechtliches Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Vaters im Herkunftsmitgliedstaat des Unionsbürgerkindes ableiten?

E. Zu Artikel 10 der Unionsbürger-Richtlinie 2004/38/EG:

Wenn ein europarechtliches Aufenthaltsrecht bejaht wird: Besitzt ein drittstaatsangehöriger Elternteil in der Situation des Klägers einen Anspruch auf Ausstellung einer "Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers" gegebenenfalls entsprechend Art. 10 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie? [...]

Der Kläger macht geltend, er besitze ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht in Deutschland sowie einen Anspruch auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers. [...]

B) Die vorgelegten Fragen bedürfen einer Klärung durch den EuGH.

1) Vorbemerkungen

a) Die Tochter des Klägers ... besitzt zwar neben der deutschen Staatsangehörigkeit auch noch die japanische und US-amerikanische Staatsangehörigkeit. Dies hindert sie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs aber nicht daran, sich - anknüpfend an die deutsche Staatsangehörigkeit - auf ihre Unionsbürgerschaft zu berufen (vgl. EuGH, Urteil vom 7. Juli 1992, Rs. C-369/90, Rn. 11 <Micheletti> und Urteil vom 11. November 1999, Rs. C-179/98, Rn. 30 <Mesbah>).

b) Nach Auffassung des Senats müsste dem Kläger im Lichte insbesondere der Wertungen des Art. 24 Abs. 3 GRCh sowie Art. 8 EMRK im Ergebnis ein europarechtliches Aufenthaltsrecht in Deutschland zustehen, jedenfalls solange er das Sorgerecht für sein Unionsbürgerkind besitzt und tatsächlich ausübt. Aufgrund der räumlichen Entfernung von Japan nach Wien würde ansonsten sehr viel dafür sprechen, dass die derzeit bestehenden regelmäßigen persönlichen Beziehungen und direkten Kontakte zwischen Vater und Tochter abbrechen, d.h. die in Art. 24 Abs. 3 GRCh normierten Rechte des Kindes dadurch verloren gingen, dass das Kind (gemeinsam mit seiner Mutter) von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat. Anders formuliert: Müsste der drittstaatsangehörige Elternteil in der Situation des Klägers den Herkunftsstaat seines Unionsbürgerkindes verlassen, sobald das Unionsbürgerkind von seiner Freizügigkeit Gebrauch macht, würde dieser Umstand möglicherweise von der Ausübung der Unionsbürgerrechte abhalten. Dies widerspricht auch der grundsätzlichen Auffassung des Gerichtshofs zu dieser Problematik (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 7. Juli 1992, Rs. C-370/90, Rn. 19 f. <Singh> sowie Urteil vom 23. September 2003, Rs. C-109/01, Rn. 53 f. <Akrich>).

c) Die Vielzahl der Vorlagefragen ergibt sich aus dem Umstand, dass es für den Senat offen erscheint, welchen dogmatischen Weg der Gerichtshof nunmehr nach Inkrafttreten des Lissabonvertrags am 1. Dezember 2009 mit der Grundrechtecharta einschlagen wird. Nach Auffassung des vorlegenden Senats könnte der Fall über die Unionsbürger-Richtlinie 2004/38/EG und/oder Art. 6 Abs. 1 EUV in Verbindung mit der Grundrechtecharta und/oder Art. 6 Abs. 3 EUV in Verbindung mit den allgemeinen Unionsrechtsgrundsätzen und/oder Art. 21 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 8 EMRK gelöst werden. Sämtliche Vorlagefragen lassen sich natürlich auch in einer einzigen Frage zusammenfassen:

Folgt aus dem Recht der Europäischen Union für einen sorgeberechtigten drittstaatsangehörigen Elternteil zur Aufrechterhaltung der regelmäßigen persönlichen Beziehungen und direkten elterlichen Kontakte ein mit einer "Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers" zu dokumentierendes Verbleiberecht im Herkunftsmitgliedstaat seines Unionsbürgerkindes, wenn das Kind in Ausübung des Freizügigkeitsrechts von dort in einen anderen Mitgliedstaat verzieht?

2.) Zur Unionsbürger-Richtlinie 2004/38/EG

Die Falllösung über den Weg dieser Richtlinie scheint dem Senat zwar rechtlich möglich, aber doch eher fernliegend, weil hier zu sehr insbesondere mit dem Argument des "effet utile" gegen den klaren Wortlaut der Normen argumentiert werden müsste.

a) Zu Frage A.1):

Der vorlegende Senat geht allerdings davon aus, dass der sorgeberechtigte Vater auch ohne Unterhaltsgewährung durch sein Unionsbürgerkind im Sinne von Art. 2 Nr. 2 d) der Richtlinie "Familienangehöriger" ist. Zwar sind nach dem Wortlaut der Vorschrift nur solche Verwandten in aufsteigender Linie "Familienangehörige", denen der freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger Unterhalt gewährt, was die Tochter des Klägers offensichtlich nicht tut. Im Lichte von Art. 7 und 24 GRCh sowie Art. 8 EMRK dürfte Art. 2 Nr. 2 d) der Richtlinie jedoch erweiternd dahingehend auszulegen sein, dass die Einschränkung der Unterhaltsgewährung nicht im Falle minderjähriger freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger gilt, wenn der Verwandte in aufsteigender Linie sorgeberechtigt ist, es sich also insbesondere um einen sorgeberechtigten Elternteil handelt. Der Richtlinien-Gesetzgeber hat bei der Formulierung von Art. 2 Nr. 2 d) wohl in erster Linie die Fälle im Auge gehabt, in denen der freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger volljährig und erwerbstätig ist, und hat deshalb den Nachzug seiner Verwandten in aufsteigender Linie restriktiv gefasst, um eine Belastung der öffentlichen Kassen zu vermeiden bzw. zu begrenzen. Denn er hat in Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie die besondere Situation des nicht aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigten Elternteils, der das Sorgerecht hinsichtlich eines minderjährigen Kindes ausübt, gesehen und gewürdigt. Hier wird für den Fall des Todes oder Wegzugs des freizügigkeitsberechtigten anderen Elternteils den Kindern und dem personensorgeberechtigten Elternteil bis zum Abschluss der Ausbildung der Kinder ein Aufenthaltsrecht eingeräumt, und zwar völlig losgelöst von irgendwelchen Unterhaltszahlungen. Vor diesem Hintergrund wäre es nicht nachzuvollziehen und nicht zu rechtfertigen, dass gewissermaßen bis zum Zeitpunkt des Todes oder des Wegzugs bei bis dahin erfolgender gemeinsamer Ausübung der Personensorge der drittstaatsangehörige sorgeberechtigte Elternteil zur Wahrung der Familieneinheit nicht an der Freizügigkeit teilnähme und lediglich den allgemeinen Status eines Drittstaatsangehörigen hätte. Im Übrigen hat sich der Gerichtshof auch zum inhaltlich im Wesentlichen gleich lautenden Art. 1 Abs. 2 b) der - aufgehobenen - Richtlinie 90/364/EWG vom 28. Juni 1990 in Fällen, in denen nur ein Elternteil für ein freizügigkeitsberechtigtes Kleinkind tatsächlich gesorgt hat, vom strikten Wortlaut der Norm gelöst und dem betreffenden Elternteil ein Freizügigkeitsrecht als Familienangehöriger zuerkannt, obwohl er von dem Kind keinen Unterhalt erhielt. Dies wurde überzeugend damit begründet, dass andernfalls dem freizügigkeitsbedingten Aufenthaltsrecht des Kindes jede praktische Wirksamkeit genommen würde (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Oktober 2004, Rs. C-200/02, Rn. 45 f. <Zhu und Chen>). Auch Art. 3 Abs. 2 a) der Unionsbürger-Richtlinie steht der erweiternden Auslegung von Art. 2 Abs. 2 d) nicht entgegen, weil die Mitgliedstaaten hiernach nur die Pflicht haben, nach Maßgabe der innerstaatlichen Vorschriften den Aufenthalt von bestimmten Familienangehörigen zu erleichtern; hierdurch wird eine gegebenenfalls grundrechtlich gebotene effektive Sicherung der Familieneinheit im Unionsrecht auf sekundärrechtlicher Ebene nicht gesperrt.

b) Zu Frage A. 2.):

Gerade der hier zu beurteilende Fall des Klägers zeigt, dass es der Schutz der Rechte des Kindes auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen verlangen kann, im Einzelfall darauf zu verzichten, das europarechtliche Aufenthaltsrecht des sorgeberechtigten Elternteils davon abhängig zu machen, dass dieser sein Unionsbürgerkind "begleitet oder ihm nachzieht".

c) Zu Frage A. 3.):

Aus diesem Grund könnte im Lichte von Art. 7 und 24 GRCh sowie Art. 8 EMRK ein Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate im Herkunftsmitgliedstaat des Unionsbürgerkindes in erweiterter Auslegung von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie jedenfalls solange bejaht werden, wie das Sorgerecht des drittstaatsangehörigen Elternteils besteht und tatsächlich ausgeübt wird.

3.) Zu Art. 6 Abs. 1 EUV in Verbindung mit der Grundrechtecharta:

Dem Senat erscheint die Falllösung über den Weg der Grundrechtecharta besonders nahe liegend und auch integrationsfördernd, um im Sinne von Absatz 4 der Präambel der Charta den Schutz ihrer Grundrechte - hier insbesondere des auf den Fall "passenden" Artikels 24 Abs. 3 GRCh - zu stärken und sie in der Rechtspraxis noch sichtbarer zu machen.

a) Zu den Fragen B. 1.a)-c):

Dazu müsste jedoch zunächst der Anwendungsbereich der Charta nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GRCh eröffnet sein, was durchaus fraglich erscheint. Denn die Charta gilt für die Mitgliedstaaten - ausdrücklich und bewusst - "ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union" und natürlich grundsätzlich nur hinsichtlich dieses Unionsrechts und nicht etwa bei der Anwendung von rein nationalem Recht (vgl. EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2010, Rs. C-400/10 PPU, Rn. 52 <McB.>). Was dies auf der normativen sowie administrativen Ebene für die Mitgliedstaaten und die nationalen Gerichte im Einzelnen bedeutet, ist aus Sicht des Senats nicht hinreichend klar. Vom Gerichtshof sind bislang im Wesentlichen nur zwei Konstellationen zur alten Rechtslage weiter ausjudiziert: Nach der "Wachauf"-Rechtsprechungslinie binden die Unionsgrundrechte die mitgliedstaatlichen Organe bei Ausführung oder Umsetzung eines vom Unionsrecht initiierten Aktes, d.h. in der sogenannten "agency situation". Wird also etwa eine EU-Verordnung angewendet oder eine Richtlinie umgesetzt, sind die Chartarechte anwendungsvorrangig zu beachten (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Juli 1989, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609 <Wachauf>). Diese Konstellation ist im vorliegenden Fall wohl nicht gegeben. Nach der "ERT"-Rechtsprechungslinie binden die vorrangigen Unionsgrundrechte die mitgliedstaatlichen Organe im Sinne von Schranken-Schranken weiter dann, wenn sie die durch den AEU-Vertrag gewährleisteten Grundfreiheiten durch nationale Maßnahmen einschränken wollen. Denn diese Grundfreiheiten sind das grundsätzlich umfassend unionsrechtlich geschützte Zentrum des europäischen Binnenmarktes (vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juni 1991, Rs. C-260/89, Rn. 42-44 <ERT>). Dieser dogmatische Ansatz könnte im Falle des Klägers fruchtbar zu machen sein.

Der vorliegende Streitgegenstand des Aufenthaltsrechts des Klägers hängt von einer - europarechtskonformen - Auslegung des deutschen Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) und des deutschen Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) ab. Möglicherweise kann der Kläger jedenfalls aufgrund der Schutzwirkungen des Art. 8 EMRK eine Aufenthaltserlaubnis nach § 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG beanspruchen, um sein Sorgerecht in Ulm bzw. von Ulm aus auch in Wien ausüben zu können. Dies wäre ein Aufenthaltszweck, der von dem Aufenthaltsgesetz (insbesondere in den §§ 27- 36) eigentlich nicht vorgesehen ist. Oder dem Kläger steht möglicherweise eine Aufenthaltskarte in entsprechender Anwendung von § 5 Abs. 2 FreizügG/EU zu. Durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970), das am 28.08.2007 in Kraft getreten ist, wurden insgesamt elf Richtlinien der Europäischen Union in das innerstaatliche Recht umgesetzt. Dadurch wurden Teile des Aufenthaltsgesetzes geändert, nicht jedoch der konkrete § 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Der § 5 Abs. 2 FreizügG/EU hingegen setzt direkt Art. 10 Abs. 1 der Unionsbürger- Richtlinie 2004/38/EG um, wie überhaupt das gesamte Freizügigkeitsgesetz/EU heute vor allem der Umsetzung dieser Richtlinie dient.

b) Zu Frage B. 1.a):

Vor diesem Hintergrund erscheint es besonders unklar, ob der Anwendungsbereich der Charta immer schon dann eröffnet ist, wenn der Streitgegenstand von einem nationalen Gesetz (oder Gesetzesteil) abhängt, durch das auch - aber nicht nur - Richtlinien umgesetzt wurden. Liegt überhaupt noch eine "Durchführung des Recht der Union" im Sinne von Art. 51 Abs. 1 GRCh vor, wenn gegebenenfalls entscheidungserhebliche Richtlinien (wie im vorliegenden Fall) einmal in nationales Recht umgesetzt worden sind? Kaum vertretbar dürfte die Auffassung sein, das nationale Umsetzungsgesetz sei in diesem Sinne kein "EU-Durchführungsrecht", sondern rein nationales Recht, weswegen auch nur nationale Grundrechte gelten könnten. Gut vertretbar hingegen erscheint dem Senat die Gegenansicht, wonach das nationale Umsetzungsgesetz nichts anderes ist als materielles Unionsrecht im Kleide eines nationalen Gesetzes, weswegen die Chartarechte uneingeschränkt vorrangig anwendbar sind. Denn nur so kann ein unionsweiter und einheitlicher Grundrechtsstandard gegenüber unionsrechtlich veranlassten Grundrechtseingriffen gewährleistet werden. So könnte dann jedes Richtlinienumsetzungsgesetz - wie beispielsweise das gesamte Freizügigkeitsgesetz/EU - oder jedenfalls jeder Gesetzesteil, der zur Umsetzung einer Richtlinie dient, pauschal als durchgeführtes Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 GRCh einzustufen sein, was praktisch einfach, rechtssicher und klar handhabbar wäre (in diese Richtung weist möglicherweise EuGH, Urteil vom 27. Juni 2006, Rs. C-540/03, Rn. 23-23 <Familienzusammenführung> sowie schon EuGH, Urteil vom 24. März 1994, Rs. C-2/92, Rn. 16 <Bostock> in Abgrenzung zur Gegenansicht von GA Gulmann im Schlussantrag hierzu unter Rn. 33). Dieser gewissermaßen "makrologische" Ansatz würde allerdings wohl zugleich die Zuständigkeit des Gerichtshofs zu Lasten insbesondere der nationalen Verfassungsgerichte erweitern.

Gewissermaßen "mikrologisch" könnte aber auch wie folgt abgegrenzt werden müssen: Soweit zwar nicht das gesamte Gesetz oder der gesamte Gesetzesteil, wohl aber die konkrete nationale Norm oder ein Normteil inhaltlich vollständig der Richtlinie entspricht, gelten die Chartarechte. Soweit die Mitgliedstaaten hingegen etwa aus Anlass der Richtlinienumsetzung - darüber hinaus - eigene, rein nationale Regelungen getroffen haben, greifen auch nur die nationalen Grundrechte ein (in diese Richtung weist möglicherweise EuGH, Urteil vom 13. Juni 1996, Rs. C-144/95, Rn. 12 <Maurin>). Dieser Ansatz liegt auf den ersten Blick dogmatisch und theoretisch durchaus nahe, würde in der Rechtspraxis allerdings regelmäßig einen erheblichen Rechercheaufwand erfordern, den der Instanzrichter mitunter nicht leisten kann (oder will - und deshalb Unionsrecht lieber ignoriert). Es dürfte unstreitig sein, dass häufig ganz und gar nicht klar oder genau ermittelbar ist, welche Norm bzw. welcher Normteil tatsächlich der Umsetzung einer Richtlinie dient. Besonders deutlich wird dies in der Situation, in der eine Richtlinie gar nicht gesondert umgesetzt wird, weil der Mitgliedstaat die Auffassung vertritt, die bestehende nationale Rechtslage sei bereits richtlinienkonform. Mit Ablauf der Umsetzungsfrist "verwandeln" sich hier bestehende Gesetze - für den Instanzrichter im einzelnen kaum genau belegbar - in Richtlinienumsetzungsrecht. Der "mikrologische" Ansatz dürfte in der Rechtspraxis mithin zu erheblicher Rechtsunsicherheit bezüglich der Anwendbarkeit der Charta führen. Wenn sich das einheitliche Begehren eines Klägers (hier: Aufenthaltsrecht in Ulm) zudem auf mehrere Anspruchsgrundlagen stützen lässt, würde dieser Ansatz gegebenenfalls auch zu Rechtswegspaltungen und widersprüchlichen Entscheidungen führen, wie der vorliegende Fall illustriert: Hinsichtlich § 5 Abs. 2 FreizügG/EU wäre die Charta dann möglicherweise anwendbar, nicht aber bezüglich § 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Hinsichtlich § 5 Abs. 2 FreizügG/EU hätte der Gerichtshof die Entscheidungskompetenz - im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens etwa mit dem Ergebnis A. Ein klagabweisendes Urteil könnte hingegen bezüglich § 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG vom Bundesverfassungsgericht anhand der deutschen Grundrechte im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde überprüft werden - gegebenenfalls mit dem Ergebnis B. Sich widersprechende höchstrichterliche Entscheidungen aber erscheinen gerade im Grundrechtsbereich unglücklich. Allerdings: Nach einem Beitritt der Union zur EMRK nach Art. 6 Abs. 2 EUV könnte nicht nur gegen eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, sondern möglicherweise auch gegen eine Entscheidung des Gerichtshofs der Straßburger EGMR angerufen werden, der dann in verschiedenen Konstellationen im EUGrundrechtsraum "harmonisierend" das letzte Wort haben könnte.

c) Zu Frage B. 1.b):

Würde sich der Gerichtshof – auch zum Schutz der Rechtsprechungskompetenzen der nationalen Höchstgerichte in der Tradition des Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 Abs. 3 EUV) – der skizzierten "mikrologischen" Lösung anschließen, wäre die bewusst pauschal formulierte Frage B. 1.a) zu verneinen. Der Anwendungsbereich der Charta könnte im konkreten Fall dann aber schon deshalb eröffnet sein, weil der Kläger unter Berufung auf § 5 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern einklagt, die ihre Rechtsgrundlage in Art. 10 Abs. 1 Satz 1 der Unionsbürger-Richtlinie 2004/38/EG hat. Es erscheint für den Senat offen, ob auch diese Frage zu verneinen ist. Zwar muss die Frage, ob die Charta in einem Rechtsstreit anwendbar ist, wohl nach der materiellen Rechtslage beurteilt werden. Allein durch einen auf Unionsrecht zielenden prozessualen Klageantrag kann der Anwendungsbereich der Charta wohl kaum eröffnet werden. Andererseits besteht im konkreten Fall die Möglichkeit, dass der Kläger beispielsweise auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 1 AEUV i.V.m. Art. 8 EMRK ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht besitzt, das durch die begehrte Aufenthaltskarte dokumentiert werden muss. Deshalb stellt sich hier die Frage, ob schon die Möglichkeit eines unionsrechtlichen Anspruchs genügt, um den Anwendungsbereich der Charta gemäß ihres Art. 51 Abs. 1 Satz 1 zu eröffnen ("Möglichkeitstheorie"). Denn ansonsten blieben die Chartarechte in Leistungs-Konstellationen wohl "totes Papier", weil ja nicht erst die materielle Rechtslage - ohne die Charta - abschließend geprüft werden kann, um dann festzustellen, dass der Anwendungsbereich der Charta eröffnet ist.

d) Zu Frage B. 1.c):

Im konkreten Fall könnte der Anwendungsbereich der Charta jedenfalls in Fortschreibung der ERTRechtsprechung eröffnet sein. Unmittelbar wird das Freizügigkeitsrecht insbesondere nach Art. 21 Abs. 1 bzw. Art. 45 Abs. 1 AEUV von ... und ihrer Mutter durch die Ablehnung der Beklagten, dem Kläger ein familienbezogenes Aufenthaltsrechts zuzuerkennen, zwar nicht behindert oder gar verhindert. Die beiden sind ja auch nach Wien gezogen, um dort zu leben bzw. zu arbeiten. Im Sinne des "effet utile" sowie des "Abschreckungsverbots" (vgl. die EuGH-Urteile Singh und Akrich oben unter 1. b.) aber wird das Freizügigkeitsrecht von ... und ihrer Mutter hierdurch sehr wohl behindert und also eingeschränkt. Wüssten ... und ihre Mutter, dass der Kläger (z.B. nach Verlust seines Arbeitsplatzes) ohne ihren (erneuten) Wohnsitz in Deutschland nach Japan zurückkehren muss, könnte sie dies am (fortdauernden) Aufenthalt in Wien hindern. Gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs entspricht es heute, dass sich eine Person, deren Bewegungsmöglichkeit in der EU "behindert" oder "weniger attraktiv gemacht" wird – selbst wenn dies durch den Mitgliedstaat der eigenen Staatsangehörigkeit geschieht –, auf Unionsrecht berufen kann (GAin Sharpston, Schlussantrag vom 30. September 2010, Rs. C34/09, Rn. 72 m.w.N. <Ruiz Zambrano>). Gleiches muss zumindest für enge Familienangehörige dieser Person gelten, wenn ein grenzüberschreitender Sachverhalt innerhalb der Union gegeben ist. Der Senat ist deshalb der Auffassung, dass jedenfalls diese Vorlagefrage bejaht werden sollte, auch um die Charta in der Rechtspraxis der Mitgliedstaaten noch tiefer zu verankern und damit die europäische Integration gerade beim Menschenrechtsschutz, der Seele Europas, weiter voranzubringen.

e) Zu Frage B. 2.a):

Wäre die Charta somit anwendbar, könnte dem Kläger ein (von ...s Rechten abgeleitetes) Aufenthaltsrecht unmittelbar aus Art. 24 Abs. 3 GRCh zustehen. Der Senat stellt diese Vorlagefrage vor dem Hintergrund, dass die Charta überwiegend "klassische" subjektive Abwehrrechte umfasst, von denen viele allerdings zugleich eine objektive Schutzpflichtendimension aufweisen (wie etwa die Pflicht zur Sicherung der Medienpluralität in Art. 11 GRCh). Eine ganze Reihe von Normen (wie bspw. der Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst in Art. 29 GRCh oder das Recht auf Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse nach Art. 36 GRCh) können des Weiteren als derivative Teilhaberechte gelesen werden. Originäre Leistungsrechte kennt die Charta hingegen nur ganz ausnahmsweise (wie etwa den Anspruch auf Prozesskostenhilfe in Art. 47 Satz 4 GRCh oder das in Art. 34 Abs. 2 GRCh normierte Recht auf Sozialleistungen). Gehört Art. 24 Abs. 3 GRCh dennoch auch in vorliegender Fallkonstellation zu den echten Leistungsrechten, d.h. stellt diese Norm aus Gründen des "effet utile" eine - aufenthaltsrechtliche - Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers gegenüber der Beklagten dar?

f) Zu Frage B. 2.b):

Würde die Frage 2.a) etwa aus grundrechtsdogmatischen Erwägungen heraus verneint, könnte dem Kläger jedoch ein entsprechender abgeleiteter Anspruch aus Art. 45 Abs. 1 GRCh (gegebenenfalls in Verbindung mit Art. 24 Abs. 3 GRCh) zustehen. In diese Richtung weist das Urteil "Zhu und Chen" des Gerichtshofs vom 19. Oktober 2004 (Rs. C-200/02, Rn. 47 Satz 2), in dem aus dem Freizügigkeitsrecht des Kindes nach Art. 18 EG (und der Richtlinie 90/364/EWG) das Aufenthaltsrecht eines personensorgeberechtigten Elternteils abgeleitet wurde. Das grundrechtliche Freizügigkeitsrecht nach Art. 45 Abs. 1 GRCh kennt im Übrigen - abgesehen von den allgemeinen Schranken der Art. 52 bis 54 GRCh - anders als Art. 21 Abs. 1 AEUV von seinem Wortlaut her keinerlei Bedingungen. Nach Überzeugung des Senats sollte zumindest diese Vorlagefrage bejaht werden.

4.) Zu Art. 6 Abs. 3 EUV in Verbindung mit den allgemeinen Unionsrechtsgrundsätzen:

Eine Lösung des Falles wäre natürlich auch über die bisherigen "ungeschriebenen" EU-Grundrechte denkbar.

a) Zu Frage C. 1.):

Wenn der Gerichtshof zu dem Ergebnis kommt, dass der Anwendungsbereich der Charta im vorliegenden Fall unter keinem Gesichtspunkt eröffnet ist, stellt sich die Frage nach den "ungeschriebenen" EU-Grundrechten. Gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV bleiben diese bisher vom Gerichtshof entwickelten Grundrechte als allgemeine Grundsätze zwar Teil des Unionsrechts und damit eigentlich anwendbar. Gilt dies aber auch dann, wenn nach Art. 51 Abs. 1 GRCh die EU-Grundrechte im konkreten Fall nicht zur Anwendung kommen sollen, d.h. stehen die (ungeschriebenen) Grundrechte nach Art. 6 Abs. 3 EUV völlig eigenständig und unabhängig neben den (Charta-)Grundrechten nach Art. 6 Abs. 1 EUV? Diese Frage hat im Übrigen möglicherweise auch hohe Relevanz für Polen und das Vereinigte Königreich (sowie voraussichtlich bald Tschechien), für die die Geltung der Charta nach dem entsprechenden Lissabon-Protokoll Nr. 30 teilweise eingeschränkt wurde. Um zu keinen Widersprüchen zwischen dem geschriebenen und dem ungeschriebenen EU-Grundrechtsschutz zu gelangen, sollte die Vorlagefrage nach Auffassung des Senats verneint werden. Ist der Anwendungsbereich der Charta verschlossen, dürfen die - wesensgleichen - (ungeschriebenen) EU-Grundrechte im konkreten Fall nicht gewissermaßen durch die Hintertüre des Art. 6 Abs. 3 EUV dennoch zur Anwendung gebracht werden. Für Polen, das Vereinigte Königreich und voraussichtlich bald Tschechien würde dies bedeuten, dass sie die neue Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GRCh für die Anwendung von Art. 6 Abs. 3 EUV fruchtbar machen können. Auf diese Weise würde auch eine Spaltung des EU-Grundrechtsraumes vermieden, an der niemand Interesse haben kann.

b) Zu Frage C. 2.):

Kommt der Gerichtshof dennoch zu dem Ergebnis, dass Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 GRCh im Rahmen des Art. 6 Abs. 3 EUV keine Relevanz hat, dürfte dem Kläger im konkreten Fall nach der oben (unter 1. b.) dargelegten Auffassung des Senats aus dem Recht auf Achtung des Familienlebens insbesondere gemäß Art. 8 EMRK ein europarechtliches Aufenthaltsrecht zuzusprechen sein. Denn der Gerichtshof hat etwa in seinem Urteil Carpenter vom 11. Juli 2002 (Rs. C-60/00, Rn. 40-42) das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens als Teil der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts anerkannt. In dieses Recht dürfte im vorliegenden Fall dadurch unverhältnismäßig eingegriffen werden, dass dem Kläger die Zuerkennung eines familienbezogenen Aufenthaltsrechts in Ulm versagt wird.

5.) Zu Art. 21 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 8 EMRK (Frage D.):

Im Lichte des Urteils "Zhu und Chen" des Gerichtshofs vom 19. Oktober 2004 (Rs. C-200/02, Rn. 47 Satz 2) müsste dem Kläger nach Auffassung des Senats jedenfalls über das Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV ein Aufenthaltsrecht zuzusprechen sein, wenn weder der direkte Weg über die Charta noch der Weg über die "ungeschrieben" EU-Grundrechte gegangen werden kann.

6.) Zu Art. 10 der Unionsbürger-Richtlinie 2004/38/EG (Frage E.):

Zwar ist Art. 10 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie nicht direkt anwendbar, wenn der Kläger - mangels Unterhaltsgewährung durch ... - nicht als "Familienangehöriger" in erweiterter Auslegung von Art. 2 Nr. 2 d) oder - mangels "Begleiten oder Nachziehen" - nicht als Berechtigter im Sinne des Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie anzusehen sein sollte (vgl. hierzu oben unter 2. zu den Vorlagefragen A.1. und A.2.). Wird vom Gerichtshof jedoch zu seinen Gunsten ein europarechtliches Aufenthaltsrecht zur Ausübung der Personensorge in Ulm und von Ulm aus zuerkannt, liegt es nach Auffassung des Senats ausgesprochen nahe, ihm konsequent dann auch in entsprechender Anwendung von Art. 10 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie eine "Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers" zuzubilligen. Denn insoweit würde eine unbeabsichtigte Regelungslücke vorliegen sowie eine durchaus vergleichbare Sach- und Rechtslage. Dies wäre zudem praxisgerecht, weil der Kläger dann korrespondierend zu seinem unionsrechtlichen Aufenthaltsrecht über ein unionsrechtliches Dokument verfügen würde, das sein Aufenthaltsrecht ausweist. Auch sind die Behörden aller Mitgliedstaaten mit den Formalitäten der Aufenthaltskarte wohl gut vertraut. [...]