BAMF

Merkliste
Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 03.02.2011 - 5419446-150 - asyl.net: M18258
https://www.asyl.net/rsdb/M18258
Leitsatz:

1. Keine Gruppenverfolgung von Roma im Kosovo. Auch wenn man von einer gewissen Dunkelziffer von Übergriffen ausgeht, da viele Minderheiten Repressalien nicht zur Anzeige bringen bzw. deren Anzeigen nicht immer mit der erforderlichen Gründlichkeit nachgegangen wird, sind nicht alle Minderheitenangehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt. Häufig ist die von Minderheiten "gefühlte Unsicherheit" stärker als das eigentliche Bedrohungspotential, da das Vertrauen in die Rechtstaatlichkeit geschwächt ist. Inzwischen verfügt jede regionale Dienststelle der Kosovo-Polizei über Polizeibeamte, die ausschließlich für die Belange der Minderheitengemeinschaften zuständig sind.

2. Zur Registrierung und zum Erwerb der kosovarischen Staatsangehörigkeit.

3. Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für körperlich und geistig behindertes Kind ohne familiäre Bindungen.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Abschiebungsverbot, Kosovo, Serbien, Roma, Diskriminierung, Gruppenverfolgung, Registrierung, Staatsangehörigkeit, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4c
Auszüge:

[...]

Eine konkret drohende individuelle und asylerhebliche Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG wurde für den Antragsteller nicht geltend gemacht.

Der Antragsteller kann sich auch nicht allein wegen seiner Volkszugehörigkeit auf § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG berufen.

Seit den Unruhen im März 2004 ist es zu keinen vergleichbaren Übergriffen auf Minderheiten mehr gekommen. In Einzelfällen können insbesondere Roma Opfer von Übergriffen und Repressalien (z.B. Belästigungen, Einschüchterungen) durch die Bevölkerungsmehrheit werden. Bei Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen handelt es sich aber häufig nicht um ethnisch motivierte Streitigkeiten, sondern um Streitigkeiten zwischen Nachbarn oder Verletzungen des persönlichen Ehrgefühls. Nach den vorliegenden Erkenntnissen über die Zahl der bisher bekannt gewordenen interethnischen Zwischenfälle handelt es sich fast ausschließlich um Vorkommnisse, die zwischen Serben und Albanern stattfinden. Die Anzahl interethnischer Vorfälle gegen Angehörige der Roma, Ashkali und Ägypter geht weiterhin zurück. EULEX liegen auch keine Erkenntnisse vor, dass Anzeigen insbesondere von Minderheiten nicht angenommen bzw. nicht bearbeitet werden. (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 20.06.2010, 508-516.80/3 KOS). Auch wenn man von einer gewissen Dunkelziffer ausgeht, da viele Minderheiten Repressalien nicht zur Anzeige bringen bzw. deren Anzeigen nicht immer mit der erforderlichen Gründlichkeit nachgegangen wird, sind nicht alle Minderheitenangehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Verfolgung im Sinn des § 60 Absatz 1 Satz 4c AufenthG ausgesetzt (vgl. OVG Bautzen, Urteil vom 26.03.2010; VGH Mannheim, Urteil vom 24.04.2008, A 6 S 1026/05 und Urteil vom 04.02.2010, A 11 S 331/07; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28.09.2006, OVG 12 B 3.06; OVG Lüneburg, Beschluss vom 06.09.2005). Häufig ist die von Minderheiten "gefühlte Unsicherheit" stärker als das eigentliche Bedrohungspotential, da das Vertrauen in die Rechtstaatlichkeit geschwächt ist. Trotz noch vorhandener Mängel bei Polizei und Justiz ist im Allgemeinen davon auszugehen, dass die Sicherheitskräfte willens und in der Lage sind, auch Verfolgungsmaßnahmen von Dritten wirksam zu unterbinden. Die Polizei hat sich bislang im regionalen Vergleich als gute Stütze der demokratischen Strukturen etabliert und wird in ihrer Arbeit durch die EULEX-Mission flankiert. Inzwischen verfügt jede regionale Dienststelle der Kosovo-Polizei über Polizeibeamte, die ausschließlich für die Belange der Minderheitengemeinschaften zuständig sind. Zumeist sind solche Beamte selbst Angehörige einer Minderheit. Nach den vorliegenden Erkenntnissen unterhalten diese Beamten ständige Kontakte zu den in ihrem Zuständigkeitsbereich lebenden Minderheitengemeinschaften. Regelmäßig findet ein Austausch mit den jeweiligen Führern der örtlichen Minderheitengemeinschaften statt. Auch hierdurch soll gewährleistet werden, dass Minderheitenangehörigen die Möglichkeit geboten wird, u.a. gegen sie gerichtete Straftaten anzuzeigen und verfolgen zu lassen. Sollte dennoch jemand kein Vertrauen in die Polizei haben, können Anzeigen auch bei der EULEX-Polizei gestellt werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo vom 20.06.2010, 508-516.80/3 KOS).

Der Antrag auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG ist somit ebenfalls abzulehnen.

Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 7 Satz 2 oder Abs. 5 AufenthG liegen hinsichtlich Kosovo oder Serbien nicht vor.

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Personen kosovarischer Herkunft, die bisher serbische Staatsbürger waren, dies auch weiterhin sind. Nach den bisherigen Erfahrungen ist nicht damit zu rechnen, dass Serbien diese Personen aus der serbischen Staatsangehörigkeit entlässt. Auch das kosovarische Staatsangehörigkeitsgesetz (kos. StAG), das am 16. Juni 2008 in Kraft getreten ist, lässt Mehrstaatigkeit (§ 3 kos. StAG) zu.

Mit Inkrafttreten der Verfassung haben alle rechtmäßigen Bewohner Kosovos kraft Gesetzes ein Recht auf die kosovarische Staatsbürgerschaft; außerdem auch alle Bürger der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien (und deren Abkömmlinge), die am 1. Januar 1998 ihren ständigen Wohnsitz in Kosovo, unabhängig vom derzeitigen Wohnort, hatten.

Jede Person, die als in Kosovo für gewöhnlich aufhältig im Zivilregister gem. § 2.1 UNMIK-Verordnung Nr. 2000/13 registriert ist, wird als Staatsbürger Kosovos betrachtet und wird als solcher in das Staatsbürgerschaftsregister eingetragen (§ 28 Abs. kos StAG "The status of habitual residents of Kosovo"). Allerdings existierte in Kosovo bisher kein Meldewesen. Die Bewohner Kosovos konnten sich im Zentralen Personenregister als habitual residents registrieren lassen. Dafür musste nachgewiesen werden, in Kosovo geboren zu sein oder mindestens einen in Kosovo geborenen Elternteil zu haben oder mindestens fünf Jahre ununterbrochen in Kosovo gewohnt zu haben. Ausgenommen von dieser Regel waren Personen, die aufgrund ihrer Flucht die minimale Residenzpflicht nicht erfüllen konnten. Nur bei Vorliegen der Voraussetzungen und Registrierung erhielt man einen Personalausweis, womit man ein UNMIK-Reisedokument beantragen konnte. Nicht registrierte rechtmäßige Bewohner Kosovos haben laut Art. 155 der Verfassung ebenfalls ein Recht auf die kosovarische Staatsbürgerschaft, müssen jedoch selbst einen Antrag auf Eintragung ins Bürgerregister stellen. Nähere Ausführungsvorschriften hierzu sind noch nicht erlassen.

Personen, die Kosovo vor dem 1. Januar 1998 verlassen haben, müssen die Einbürgerung beantragen. Eine erleichterte Einbürgerung gibt es für die Mitglieder der Kosovo-Diaspora (und deren Abkömmlinge einer Generation) nach § 13 Abs. 1 kos StAG, die nachweisen können in Kosovo geboren zu sein und noch enge familiäre oder wirtschaftliche Beziehungen in Kosovo zu haben. [...]

Es liegt jedoch ein Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Kosovo und Serbien vor.

Von einer Abschiebung soll gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dem Ausländer eine erhebliche individuelle und konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht.

Diese Voraussetzungen liegen unter Beachtung der hier im Einzelfall gegebenen Besonderheiten vor.

Im Weiteren wird auf den Bescheid der Mutter vom 03.02.2011 (Az.: 5418478-150) verwiesen. [...]