SG Berlin

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Zitieren als:
SG Berlin, Beschluss vom 07.02.2011 - S 148 AS 1401/11 ER - asyl.net: M18290
https://www.asyl.net/rsdb/M18290
Leitsatz:

1. Hat ein Ausländer die Verlängerung seines auslaufenden Aufenthaltstitels beantragt und liegt für ihn eine Ausweisung vor, so ist die Fiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG nicht anwendbar. Die (rechtliche) Erwerbsfähigkeit des Ausländers nach § 8 Abs. 2 SGB 2 ergibt sich bei Anfechtung der Ausweisung jedoch aus § 84 Abs. 2 S 2 AufenthG.

2. Ein Ausländer ist auch dann leistungsberechtigt nach dem SGB 2, wenn er nicht nach § 58 Abs. 2 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig ist und keinen Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG besitzt. Aus § 7 Abs. 1 S 1, 2 SGB II ergibt sich nicht, dass darüber hinaus ein gültiges Aufenthaltsrecht (noch) bestehen muss.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: SGB II, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerungsantrag, Fiktionswirkung, erwerbsfähig, vollziehbar ausreisepflichtig, vorläufiger Rechtsschutz, Leistungsausschluss, deutscher Ehegatte, soziokulturelles Existenzminimum
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 1, SGB II § 7Abs. 1 S. 2, AufenthG § 58 Abs. 2, AufenthG § 81 Abs. 4, AufenthG § 81 Abs. 2 S. 2, SGB II § 8 Abs. 2, SGG § 86b Abs. 2 S. 4, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 5, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, GG Art. 1 Abs. 1
Auszüge:

[...]

a) Gemessen an diesen Anforderungen ist vorliegend ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass dem Antragsteller ein Leistungsanspruch nach dem SGB II zusteht. Der Antragsteller unterliegt nicht dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB II (dazu aa). Er ist bleibt trotz der Ausweisung rechtlich erwerbsfähig (dazu bb). Aus § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ergibt sich nicht, dass Ausländer ohne vollziehbare Ausreisepflicht vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen wären (dazu cc). Der Antragsteller erfüllt schließlich die übrigen Leistungsvoraussetzungen nach dem SGB II (dazu dd).

aa) Nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB II sind solche Personen vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgenommen, die nach § 1 des AsylbLG leistungsberechtigt sind. [...]

Vorliegend kommt allein eine Leistungsberechtigung des Antragstellers nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG in Betracht. Hierfür fehlt es jedoch an der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht (vgl. § 58 Abs. 2 AufenthG). Diese wurde vom LaBO ausweislich des Verhandlungsprotokolls der Sitzung des Verwaltungsgerichts vom 2.12.2010 gerade vorübergehend – für bis zu 6 Monate – ausgesetzt. Der Wortlaut der Erklärung des LaBO ergibt, dass sich die Aussetzung nicht nur auf eine Abschiebungsandrohung bezog. Ausdrücklich wurde vielmehr die Vollziehbarkeit "des Bescheides vom 11.11.2010", also der Ausweisung selbst, ausgesetzt. Hierfür spricht auch die vom LaBo am 6.12.2010 ausgestellte Bescheinigung, wonach "die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht derzeit entfallen" sei (Bl. 717 der LA).[...]

bb) Der Antragsteller bleibt trotz Ausweisung auch (rechtlich) erwerbsfähig im Sinne des § 8 SGB II. Nach dessen Absatz 1 ist erwerbsfähig, wer nicht auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Aus § 8 Abs. 2 SGB II ergibt sich, dass Ausländer im Sinne von Absatz 1 nur erwerbstätig sein können, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Dies trifft auf den Antragsteller zu. Zunächst ist davon auszugehen, dass der Antragsteller als Ehegatte einer deutschen Staatsangehörigen eine Aufenthaltserlaubnis besaß, die ihn zur Erwerbstätigkeit berechtigte, vgl. § 28 Abs. 5, § 4 Abs. 2 AufenthG. Diese ist jedoch bereits abgelaufen.

Entgegen der Auffassung von Antragsteller und Beigeladenem ergibt sich die fiktive Verlängerung von Aufenthaltserlaubnis und Erwerbsberechtigung vorliegend auch nicht nach § 81 Abs. 4 AufenthG. Nach dieser Vorschrift gilt der bisherige Aufenthaltstitel vom Zeitpunkt seines Ablaufs bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend, wenn ein Ausländer die Verlängerung seines Aufenthaltstitels oder die Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels beantragt. Nach Sinn und Zweck der Vorschrift betrifft dies indes nur solche Fälle, in denen das Aufenthaltsrecht aus dem ursprünglichen Aufenthaltstitel noch besteht. § 81 Abs. 4 AufenthG soll demjenigen, der bereits einen Aufenthaltstitel besitzt, für die Zeit zwischen Ablauf des Titels und dem Abschluss des Verwaltungsverfahrens auf Erteilung eines neuen Titels den legalen Aufenthalt ermöglichen. Die hiermit geregelte Verlängerungsfiktion wirkt damit allein in zeitlicher Hinsicht. Ist der Betroffene zwischenzeitlich aus anderen Gründen außer dem Ablauf der befristeten Aufenthaltserlaubnis nicht mehr zum Aufenthalt berechtigt, heilt § 81 Abs. 4 AufenthG derartige Mängel nicht (vgl. Dienelt, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl., § 84 AufenthG Rn. 4, 5; § 51 Rn. 7).

So liegt der Fall hier. Denn der Antragsteller ist mit Verfügung vom 11.11.2010 ausgewiesen worden. Die Ausweisung bewirkt die Verpflichtung des Antragstellers, aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland auszureisen, sein Aufenthalt ist mangels Aufenthaltsrecht gegenwärtig unrechtmäßig (§ 50 Abs. 1 AufenthG). Daran ändert es auch nichts, dass die Vollziehung der Ausweisung vom LaBO am 2. Dezember 2010 befristet ausgesetzt wurde. Denn wie sich aus § 84 Abs. 2 S. 1 AufenthG ergibt, lassen Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit der Ausweisung (welche die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendet) unberührt. Gleiches gilt für die freiwillige Einräumung der Vollzugsaussetzung durch die Behörde. Die Hemmung der Vollziehbarkeit hat auf die Wirksamkeit der Ausweisung also keinen Einfluss.

Aus § 84 Abs. 2 S. 2 AufenthG ergibt sich jedoch, dass der Aufenthaltstitel für Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer Erwerbstätigkeit u.a. als fortbestehend gilt, solange der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat. Da das verwaltungsgerichtliche Verfahren betreffend die Ausweisung noch nicht abgeschlossen ist, kommt diesem nach § 84 Abs. 2 S. 1 AufenthG noch aufschiebende Wirkung zu. Der Antragsteller ist somit zur Ausübung einer Erwerbsbeschäftigung derzeit berechtigt. Die Streitfrage, ob ein (rechtlich) nicht erwerbfähiger Ausländer, der Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft von Anspruchsberechtigten nach dem SGB II ist, einen Anspruch nach § 28 SGB II auf Sozialgeld besitzt (vgl. dazu Birk, in: LPK-SGB II, 3. Aufl., § 28 Rn. 6) kann damit vorliegend offen bleiben.

cc) Nach Auffassung des Gerichts kann aus § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass Ausländer nach dem SGB II nur dann leistungsberechtigt sind, wenn sie überhaupt ein (noch gültiges) Aufenthaltsrecht besitzen (a.A. Brühl/Schoch, in: LPK-SGB II, 3. Aufl., § 7 Rn. 26; offenbar auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 20.12.2007 – L 5 B 2037/07 AS ER, Rn. 14). Aus § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ergibt sich, dass solche Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, keinen Leistungsanspruch nach dem SGB II besitzen. Eine inhaltsgleiche Vorschrift findet sich in § 23 Abs. 3 S. 1, 2. Halbsatz SGB XII. Diese Normen gehen auf die Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 29. April 2004 (ABl. L 229 vom 29. Juni 2007, S. 35, sog. Unionsbürgerrichtlinie) zurück, wonach ein Mitgliedsstaat nicht verpflichtet ist, einem Unionsbürger und seinen Familienangehörigen während der Zeit der Arbeitssuche Sozialhilfe zu gewähren. Der Gesetzgeber ging dabei davon aus, dass dem bloßen Arbeitssuchenden zumutbar ist, seinen Lebensunterhalt im Mitgliedsstaat vollständig aus eigenen Mitteln zu bestreiten, da derartige Personen regelmäßig auch keinen Anspruch nach dem AsylbLG besitzen.

Die typische Konstellation der Arbeitssuche trifft aber vorliegend ersichtlich nicht zu. Der Antragsteller besaß als Ehegatte einer deutschen Staatsangehörigen ursprünglich einen Aufenthaltstitel aus familiären Gründen, der ihn auch zur Erwerbstätigkeit in Deutschland berechtigte. Dieser fiel nachträglich fort (s. bb). Sofern nach dem SGB II und dem SGB XII überhaupt ein bestehendes Aufenthaltsrecht vorausgesetzt würde, stünde der Antragsteller schlechter, als er stehen würde, wenn die Vollziehbarkeit der Ausweisung nicht ausgesetzt worden wäre. Denn in diesem Fall käme ihm ein Anspruch nach dem AsylbLG zu (s. aa). Die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Auslegung erscheint dem Gericht vor dem Hintergrund der aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Verpflichtung, zumindest das physische Existenzminimums eines jeden (nicht nur eines aufenthaltsberechtigten) Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes zu gewährleisten, zweifelhaft. Aus einer Zusammenschau mit § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG ergibt sich nach Auffassung der Kammer vielmehr, dass ein Anspruch nach dem SGB II (bzw. SGB XII) dem Grunde nach gegeben ist, solange der betroffene Ausländer nicht vollziehbar ausreisepflichtig ist. Denn soll der Sozialhilfebezug vermieden werden, so besteht gerade die Möglichkeit, gegenüber dem Betroffenen (vollziehbar) aufenthaltsbeendende Maßnahmen einzuleiten (so auch Schlette, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 23 Rn. 54d; LSG Baden-Württemberg, Beschl. v. 23. Juli 2008 – L 7 3031/08 ER B, Rn. 17; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 27. November 2008 – L 8 SO 173/08 ER, Rn. 16). [...]