VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 03.02.2011 - 13a B 10.30394 - asyl.net: M18295
https://www.asyl.net/rsdb/M18295
Leitsatz:

1. Es kann dahinstehen, ob die in Afghanistan stattfindenden gewalttätigen Auseinandersetzungen als vereinzelt auftretende Gewalttaten oder aber als anhaltende Kampfhandlungen bewaffneter Gruppen zu qualifizieren sind, da dem Kläger als alleinstehendem, arbeitsfähigen jungen Mann (Schiit von der Minderheit der Hazara) aus dem Distrikt Shekh Ali in der Provinz Parwan keine erhebliche individuelle Gefahr droht (§ 60 Abs 7 S. 2 AufenthG).

2. Auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Die Versorgungslage in Afghanistan ist zwar äußerst schlecht. Es ist aber davon auszugehen, dass der heute knapp 25-jährige Kläger auch ohne nennenswertes Vermögen und ohne abgeschlossene Berufsausbildung im Falle einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten etwa in Kabul wenigstens ein kümmerliches Einkommen zu erzielen, damit ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren und sich allmählich wieder in die afghanische Gesellschaft zu integrieren.

Schlagwörter: Asylverfahren, Abschiebungsverbot, subsidiärer Schutz, Afghanistan, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, allgemeine Gefahr, erhebliche individuelle Gefahr, Gefährdungsdichte, Shekh Ali, Parwan, Kabul, Sicherheitslage, Hazara, Schiiten, Versorgungslage, extreme Gefahrenlage, Existenzminimum,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 3
Auszüge:

[...]

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Zu Recht hat das Bundesamt den Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens mit dem Ziel, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG festzustellen, abgelehnt. Beim Kläger liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anerkennung von Abschiebungsverboten hinsichtlich Afghanistan nicht vor. Damit bedarf es auch keiner Prüfung, ob eine ein Wiederaufgreifen rechtfertigende Sach- oder Rechtslagenänderung eingetreten war. [...]

Die Frage, ob die in Afghanistan oder Teilen von Afghanistan stattfindenden gewalttätigen Auseinandersetzungen nach Intensität und Größenordnung als vereinzelt auftretende Gewalttaten im Sinn von Art. 1 Nr. 2 ZP II oder aber als anhaltende Kampfhandlungen bewaffneter Gruppen im Sinne von Art. 1 Nr. 1 ZP II zu qualifizieren sind, kann dahinstehen, weil nach der Überzeugung des Senats der Kläger keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre. Bezüglich der Gefahrendichte ist zunächst auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die ein Kläger typischerweise zurückkehren wird (BVerwG vom 14.7.2009 BVerwGE 134, 188 = NVwZ 2010, 196). Zur Feststellung der Gefahrendichte ist eine jedenfalls annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden, sowie eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen (Todesfälle und Verletzungen) bei der Zivilbevölkerung erforderlich (BVerwG vom 27.4.2010 NVwZ 2011, 51).

Der Kläger stammt nach seinen Angaben aus einem Ort im Distrikt Shekh Ali der nordwestlich der Provinz Kabul liegenden Provinz Parwan. Dort hat er nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vom 3. Februar 2011 bis ca. 1995 bei seinen Eltern und anschließend weitere drei Jahre bei Nachbarn gewohnt. Die Provinz Parwan hat ca. 500.000 Einwohner, wobei im Distrikt Shekh Ali rund 23.000 Einwohner leben (Informationszentrum Asyl und Migration des Bundesamts, Afghanistan, Zur Sicherheitslage in ausgewählten Provinzen, April 2009, S. 50). In dieser Dokumentation wurde die Sicherheitslage in dieser Provinz im Jahre 2009 als moderat eingestuft. Bei vier sicherheitsrelevanten Ereignissen im Jahr 2008 seien acht Zivilisten getötet und 81 Zivilisten verletzt worden. Allein bei einem Handgranatenüberfall auf eine Hochzeitsfeier seien sechs Zivilisten getötet und 64 verletzt worden. Wenn man diese Zahlen zueinander ins Verhältnis setzt, betrug die statistische Wahrscheinlichkeit, im Jahre 2008 in Parwan Opfer eines Anschlags zu werden, ca. 0,018% pro Jahr. Für die folgenden Jahre liegen keine nur auf die Provinz Parwan bezogenen Zahlen vor. Allerdings wird von der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (United Nations Assistance Mission in Afghanistan - UNAMA; Internet: unama.unmissions.org) diese Provinz gemeinsam mit den Provinzen Kabul, Panjisher, Wardak, Logar und Kapisa der Zentralregion Afghanistans zugerechnet (Einteilung s. UNAMA, Afghanistan Annual Report an Protection of Civilians in Armed Conflict 2009, Appendix II). Dies ist zudem von Bedeutung, als - wie vom Verwaltungsgericht angenommen - eine Rückkehr des Klägers auch nach Kabul in Betracht kommt, da er nach seinen Angaben in Parwan keine Verwandten mehr hat. Sowohl die Provinz Kabul mit Kabul als Hauptort wie die Provinz Parwan liegen in der Zentralregion. UNAMA hat für diese Region 2009 280 zivile Tote bei einer Gesamteinwohnerzahl von 5,7 Millionen gezählt. Für das erste Halbjahr 2010 wurden 103 zivile Tote in der Zentralregion ermittelt (UNAMA, Afghanistan, Mid Year Report 2010, Protection of Civilians in Armed Conflict, S. 28). Eine weitere Angabe hinsichtlich der Verletzten enthalten die genannten Quellen nicht. Allerdings werden für Gesamt-Afghanistan für 2009 insgesamt rund 6.000 tote oder verletzte Zivilisten genannt (D-A-CH, Korporation Asylwesen Deutschland - Österreich - Schweiz, Sicherheitslage in Afghanistan, Juni 2010). Bei 2.412 Toten (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, 11.8.2010) sind damit rund 3.600 Verletzte festzustellen. Das entspricht den für das Jahr 2009 von UNAMA für Gesamt-Afghanistan ermittelten 2.412 getöteten und 3.566 verletzten Zivilisten. Für das erste Halbjahr 2010 wurden von UNAMA 1.271 Tote und 1.997 Verletzte angegeben. Damit beträgt für die Jahre 2009/2010 das Verhältnis Tote zu Tote/Verletzte rund 1:2,6. Für die Zentralregion lassen sich zusammengefasst für 2010 geschätzt rund 300 Tote und 480 Verletzte, also insgesamt rund 800 tote und verletzte Zivilisten feststellen. Die statistische Wahrscheinlichkeit, in der Zentralregion (mit den Provinzen Parwan und Kabul) im Jahre 2010 Opfer eines Anschlags zu werden, betrug damit rund 0,015%, wobei die Zahlen des 2. Halbjahrs nur geschätzt sind. Dass dieses Verhältnis für Parwan oder Kabul signifikant anders wäre, ist nicht ersichtlich.

Allerdings hat sich die Sicherheitslage in ganz Afghanistan landesweit verschlechtert. Der Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 27.7.2010, Stand: Juli 2010, (Lagebericht) geht für das Jahr 2010 von einer Zunahme sicherheitsrelevanter Ereignisse um 30 bis 50% gegenüber dem Vorjahr aus (S. 13). Nach Amnesty International (vom 20.12.2010) ist laut UNAMA im ersten Halbjahr 2010 ein Anstieg der toten und verletzten Zivilisten um 31 % im Vergleich zum Jahre 2009 zu verzeichnen Insgesamt variiert die Sicherheitslage jedoch regional. Im Raum Kabul ist im Vergleich zum Vorjahr für das Jahr 2010 keine wesentliche Verschlechterung der Sicherheitslage festzustellen (Lagebericht S. 14; in der genannten Dokumentation von D-A-CH, S. 27, wird die Situation der Provinz Kabul als stabil bezeichnet). Gemäß der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (vom 18.10.2010) ist es allerdings regierungsfeindlichen Gruppierungen mittlerweile u.a. auch in der Provinz Parwan gelungen, sich auszubreiten. Im Rahmen der Vorbereitungen zu den Parlamentswahlen sei es dort zu Gewaltakten gekommen, ohne dass hierüber jedoch nähere Angaben gemacht werden. Die Stellungnahme des UNHCR vom 30. November 2009 nennt die Provinz Parwan nicht gesondert als von der mit dem Konflikt verbundenen Gewalt betroffenes Gebiet, Nach der Dokumentation "Afghanistan December 2009" der Migrationsbehörde Schwedens vom 22. Januar 2010 "ist es zurzeit in Parwan recht ruhig". Kabul wiederum wird nach dem Lagebericht (S. 14) als im landesweiten Vergleich objektiv betrachtet als leidlich sichere Stadt bezeichnet, auch wenn das Gefühl der Unsicherheit durch eine Serie spektakulärer Terroranschläge allgemein zugenommen habe. Nach alldem ist festzustellen, dass sich die Sicherheitslage im Jahre 2010 in der Zentralregion mit den Provinzen Parwan und Kabul selbst unter Berücksichtigung einer unzureichenden Schätzung für das 2. Halbjahr 2010 bei den Verletzten- und Totenzahlen nicht derart verschärft hat oder im Jahre 2011 sich derart verschärfen wird, dass bei Annahme eines innerstaatlichen oder internationalen Konflikts davon ausgegangen werden könnte, der diesen Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt habe ein so hohes Niveau erreicht, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

Es ist auch nicht anzunehmen, dass sich die allgemeine Gefahr bei dem Kläger durch individuelle gefahrerhöhende Umstände zuspitzt. Diese ergeben sich auch nicht daraus, dass der Kläger der Minderheit der Hazara angehört. Nach dem Lagebericht (S. 21) hat sich die Situation der traditionell diskriminierten Hazara insgesamt verbessert, obwohl die hergebrachten Spannungen in lokal unterschiedlicher Intensität fortbestehen und auch immer wieder aufleben würden. Die Hazara seien in der öffentlichen Verwaltung zwar noch immer stark unterrepräsentiert, wobei dies aber eher eine Folge der früheren Marginalisierung zu sein scheine als eine gezielte Benachteiligung neueren Datums (Bundesasylamt der Republik Österreich, Die politische Partizipation der Minderheit der Hazara, 29.1.2010). Anhaltspunkte, dass der Kläger als Hazara in den Provinzen Parwan und Kabul einer besonderen Gefahr unterliegen würde, sind nicht ersichtlich. Neben zahlreichen anderen Ethnien leben Hazara schon immer in diesen Provinzen. Von den zwischen März 2002 und Januar 2009 mit Unterstützung des UNHCR in die Provinz Parwan zurückgekehrten 143.377 Personen waren 4.550 Hazara, von den in die Provinz Kabul zurückgekehrten rund 1,15 Millionen Personen waren 161.000 Hazara (Bundesamt, Sicherheitslage in Afghanistan, April 2009, S. 18 und 53). Auch die schiitische Religionszugehörigkeit des Klägers führt angesichts der Tatsache, dass rund 15% der afghanischen Bevölkerung schiitische Muslime sind und die Lage am Ashura-Fest seit 2007 ruhig geblieben ist (Lagebericht S. 22), nicht zu einem gefahrerhöhenden Umstand. [...]

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG mit entsprechender Aufhebung der Regelung in Nr. 2 des Bescheids vom 3. August 2007. Nachdem die Voraussetzungen für die Feststellung eines unionsrechtlich begründeten Abschiebungsverbots nicht erfüllt sind, sind - wie auch vom Kläger beantragt - Abschiebungsverbote nach nationalem Recht zu prüfen. Anhaltspunkte für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind nicht ersichtlich; aber auch die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor. [...]

Nach den Erkenntnismitteln, die Gegenstand des Verfahrens sind, ist jedoch nicht davon auszugehen, dass der Kläger als allein stehender arbeitsfähiger männlicher afghanischer Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen ließe. Nach sämtlichen Auskünften und Erkenntnismitteln ist zwar die Versorgungslage in Afghanistan schlecht. So weist der Lagebericht (S. 33 f.) darauf hin, dass der Staat, einer der ärmsten der Welt, in extremen Maß von Geberunterstützung abhängig ist. Weniger als zwei Drittel der laufenden Ausgaben können durch eigene Einnahmen gedeckt werden; der Entwicklungshaushalt ist zu 100 % geberfinanziert. 2010 werde zwar eine über dem langjährigen Mittel liegende Ernte erwartet. Allerdings führe die verbreitete Armut landesweit vielfach zu Mangelernährung. Problematisch bleibe die Lage der Menschen insbesondere in den ländlichen Gebieten des zentralen Hochlands. Staatliche soziale Sicherungssysteme existierten praktisch nicht. Die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen in Städten sei nach wie vor schwierig. Die medizinische Versorgung sei - trotz erkennbarer Verbesserungen - immer noch unzureichend. Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe verweist in ihrem Update vom 11. August 2010 (a.a.O., S. 16 f.) darauf, dass in Afghanistan, dem zweitärmsten Land der Welt, weiterhin über ein Drittel der Bevölkerung in Armut leben würde. Der Zugang zu Lebensmitteln, Wasser und Unterkünften habe sich aufgrund der gewaltsamen Auseinandersetzungen, insbesondere im Süden und Südosten des Landes massiv verschlechtert. In Kabul habe die Regierung mit der Urbanisierung, insbesondere was die sanitären Bedingungen betreffe, nicht Schritt halten können; die Lage werde zunehmend besorgniserregend. In weiten Teilen Afghanistans sei die Lebensmittelknappheit endemisch. Naturkatastrophen, jahrelange Trockenheit, hohe Lebensmittelpreise und der bewaffnete Konflikt hätten die Versorgungslage weiter verschärft. Die Arbeitslosenquote betrage rund 40%. Die Zerstörung von Wohnhäusern habe zu Wohnungsknappheit geführt. 46% der Rückkehrer sehe sich mit Unterkunftsproblemen konfrontiert und 28% verfügten über kein stabiles Einkommen. Die medizinische Versorgung sei völlig unzureichend. Kapazitäten, weitere Rückkehrer aufzunehmen, bestünden nicht.

In seinem Gutachten an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 7. Oktober 2010 verweist Dr. Mostafa Danesch u.a. darauf, dass 36% der Afghanen in absoluter Armut leben würden. Das durchschnittliche Monatseinkommen in Afghanistan betrage 35 Dollar. Die Lebensverhältnisse in Afghanistan seien inzwischen so dramatisch, dass ein alleinstehender Rückkehrer keinerlei Aussicht hätte, sich aus eigener Kraft eine Existenz zu schaffen. Auch betrage die Arbeitslosenquote in Kabul schätzungsweise 60%. Das einzige "soziale Netz", das in Afghanistan in der Lage sei, einen älteren Arbeitslosen aufzufangen, sei die Großfamilie und/oder der Freundeskreis. Bereits in früheren Auskünften (etwa vom 21.8.2008 und vom 3.12.2008) hatte Danesch die Versorgungslage in Afghanistan und insbesondere in Kabul als katastrophal bezeichnet. Amnesty International weist in seinen Stellungnahmen vom 20. Dezember 2010 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof und vom 29. September 2009 an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ebenfalls darauf hin, dass sich die schon in den letzten Jahren hoch problematische Versorgungslage in Afghanistan noch weiter verschlechtert habe. Eines der dringenden Probleme sei heute bedingt durch eine andauernde Dürre die Nahrungsmittelversorgung. Die Lebensmittelpreise hätten sich entsprechend vervielfacht. Nichtregierungsorganisationen und andere internationale Organisationen würden bei ihrer humanitären Arbeit durch die zunehmenden Anschläge in ihrer Arbeit noch stärker eingeschränkt als bisher. Auch in Kabul verschlechtere sich die ohnehin verheerende humanitäre Situation weiter, die vor allem durch den rasanten Bevölkerungsanstieg und die kriegs-beschädigte Infrastruktur bedingt sei. Es herrsche akute Wohnungsnot. Der Großteil der Einwohner von Kabul lebe in slumähnlichen Wohnverhältnissen. Es fehlten sanitäre Einrichtungen und vor allem die Trinkwasserversorgung sei sehr schlecht.

Damit ist zweifellos von einer äußerst schlechten Versorgungslage in Afghanistan auszugehen. Im Wege einer Gesamtgefahrenschau ist jedoch nicht anzunehmen, dass dem Kläger bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod drohe oder er alsbald schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte. So wird im Lagebericht (S. 33) darauf hingewiesen, dass der Internationale Währungsfonds in einer aktuellen Untersuchung vom April 2010 bei der Wirtschaftslage bzw. den makroökonomischen Rahmenbedingen durchaus positive Tendenzen sehe: Bis etwa Mitte des Jahrzehnts sei mit einem realen jährlichen Wirtschaftswachstums zwischen 6 und 8% zu rechnen. Aufgrund günstiger Witterungsbedingungen sei die Erntebilanz 2009 deutlich besser ausgefallen als im Dürrejahr 2008; dies habe zu einer signifikanten Verbesserung der Gesamtversorgungslage im Land geführt. 2010 werde eine etwas niedrigere Ernte erwartet, die jedoch immer noch deutlich über dem langjährigen Mittel liege. Von diesen verbesserten Rahmenbedingungen dürften grundsätzlich auch die Rückkehrer profitiert haben. Auch sei zwar die Versorgung mit Wohnraum zu angemessenen Preisen in den Städten nach wie vor schwierig. Allerdings bemühe sich das Ministerium für Flüchtlinge und Rückkehrer um eine Ansiedlung der Flüchtlinge in Neubausiedlungen für Rückkehrer. Dort erfolge die Ansiedlung unter schwierigen Rahmenbedingungen; für eine permanente Ansiedlung seien die vorgesehenen "townships" kaum geeignet. Soweit ausgeführt wird, der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser und Gesundheitsversorgung sei häufig nur sehr eingeschränkt möglich, bedeutet dies andererseits, dass jedenfalls der Tod oder schwerste Gesundheitsgefährdungen alsbald nach der Rückkehr nicht zu befürchten sind.

Ähnliches ergibt sich aus den anderen Erkenntnismitteln. Die Feststellungen in der Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 11. August 2010 (a.a.O.) zu den Unterkunftsproblemen und zum fehlenden stabilen Einkommen führen nicht zur Annahme einer extremen Gefahrenlage in dem beschriebenen Sinn. Für den Hinweis, dass viele Rückkehrer sich am Rande der Stadt Kabul in informellen Siedlungen niedergelassen hätten, wo oft kein Zugang zu Elektrizität, sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen gegeben sei, gilt das Gleiche. Hinsichtlich der Arbeitsmöglichkeiten geht Danesch in seiner Auskunft vom 7. Oktober 2010 (a.a.O.) davon aus, dass am ehesten noch junge kräftige Männer, häufig als Tagelöhner, einfache Jobs, bei denen harte körperliche Arbeit gefragt ist, fänden. In diesen Sektor, meist im Baugewerbe, ströme massiv die große Zahl junger Analphabeten. Ein älterer Mann, der vor lange im Westen gelebt habe, hätte keine Chance auf einen solchen Arbeitsplatz. Daraus ergibt sich jedoch im Umkehrschluss, dass bei anderen Voraussetzungen eine Beschäftigung möglich ist. Nach Amnesty International (Afghanistan Report 2010) leben Tausende von Vertriebenen in Behelfslagern, wo sie nur begrenzten Zugang zu Lebensmitteln und Trinkwasser, Gesundheitsversorgung und Bildung erhalten. Eine Mindestversorgung ist damit aber gegeben.

Das Erfordernis des unmittelbaren - zeitlichen - Zusammenhangs zwischen Abschiebung und drohender Rechtsgutverletzung setzt zudem für die Annahme einer extreme Gefahrensituation wegen der allgemeinen Versorgungslage voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann (Renner, AuslR, 9. Aufl. 2011, RdNr. 54 zu § 60). Mangelernährung, unzureichende Wohnverhältnisse und eine schwierige Arbeitssuche führen jedoch nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit "alsbald" zu einer Extremgefahr. Diese muss zwar nicht sofort, also noch am Tag der Ankunft eintreten. Erforderlich ist jedoch eine hinreichende zeitliche Nähe zwischen Rückkehr und unausweichlichem lebensbedrohenden Zustand. Diese ist nicht ersichtlich (vgl. auch BVerwG vom 29.6.2010 a.a.O.).

Nach alldem ist davon auszugehen, dass der Kläger, ein heute knapp 25jähriger lediger, gesunder Afghane, der mangels familiärer Bindungen keine Unterhaltslasten hat, auch ohne nennenswertes Vermögen und ohne abgeschlossene Berufsausbildung im Falle einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten etwa in Kabul wenigstens ein kümmerliches Einkommen zu erzielen, damit ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren und sich allmählich wieder in die afghanische Gesellschaft zu integrieren. Hierfür spricht auch, dass der Kläger nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vom 3. Februar 2011 während seines dreijährigen (illegalen) Aufenthalts in Iran zunächst auf einer Baustelle, dann in einer Plastikfirma gearbeitet und sich das Geld für seine Ausreise im Wesentlichen selber finanziert hat. Die für eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan dort alsbald verhungern würde oder ähnlich existenzbedrohenden Mangellagen ausgesetzt wäre, liegt nicht vor. [...]