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VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 13.07.2010 - 19 ZB 10.1129 - asyl.net: M18304
https://www.asyl.net/rsdb/M18304
Leitsatz:

Zur Zumutbarkeit der freiwilligen Rückkehr in den Irak nach langjährigem Aufenthalt in Deutschland (Art. 8 EMRK).

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Berufungszulassungsantrag, Achtung des Privatlebens, Achtung des Familienlebens, Verwurzelung, Familieneinheit, Integration, freiwillige Ausreise, Zumutbarkeit, Irak, Kurden, rechtliche Unmöglichkeit, faktischer Inländer, Verhältnismäßigkeit,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

Es ist nicht ernstlich fraglich, dass den Klägern der geltend gemachte Anspruch aus § 25 Abs. 5 AufenthG nicht zusteht; insbesondere sind die Kläger nicht aus rechtlichen Gründen gehindert, freiwillig in den Irak zurückreisen.

1. Der erkennende Senat hat in seiner Entscheidung vom 21. Dezember 2009 (Az. 19 C 09.1723) über die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 26. Juni 2009 im Prozesskostenhilfeverfahren dargelegt, dass den Klägern eine freiwillige Rückkehr in den Irak auch unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK nicht unmöglich ist.

Der Senat hat hierzu ausgeführt:

"Die freiwillige Ausreise ist rechtlich unmöglich, wenn dem Ausländer aus Rechtsgründen nicht zuzumuten ist, Deutschland zu verlassen. Allgemeine Widrigkeiten oder Überlegungen humanitärer Art, die keine Abschiebungshindernisse zur Folge haben, bleiben unberücksichtigt (BVerwG vom 27.6.2006 a.a.O.). Danach ist die Ausreise unzumutbar und damit unmöglich, wenn rechtliche zielstaats- und/oder inlandsbezogene Abschiebungshindernisse bestehen. Zu den inlandsbezogenen Abschiebungsverboten zählen auch die Verbote, die aus Verfassungsrecht (etwa mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG) oder aus Völkervertragsrecht (etwa aus Art. 8 EMRK) in Bezug auf das Inland herzuleiten sind (BVerwG vom 27.6.2006 a.a.O.). Eine rechtliche Unmöglichkeit der freiwilligen Ausreise wäre danach gegeben, wenn die Versagung der Aufenthaltserlaubnis einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Familien- und Privatleben darstellte. Ein unverhältnismäßiger Eingriff – und demzufolge eine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise – kann angenommen werden, wenn die "Verwurzelung" des Ausländers in Deutschland infolge fortgeschrittener beruflicher und sozialer Integration bei gleichzeitiger Unmöglichkeit einer Reintegration im Herkunftsstaat dazu führt, dass das geschützte Privatleben nur noch hier geführt werden kann (sog. faktischer Inländer). Die Annahme einer Unzumutbarkeit der Ausreise im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG unter dem Aspekt des nach Art. 8 EMRK geschützten "Privatlebens" setzt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) eine abgeschlossene und "gelungene" Integration des Ausländers in die Lebensverhältnisse in Deutschland voraus. Eine derartige Konstellation ist insbesondere denkbar bei Ausländern der zweiten Generation, die in Deutschland aufgewachsen sind und keinerlei Beziehung zum Herkunftsstaat der Eltern besitzen (vgl. VGH BW vom 22.7.2009 – 11 S 1622/07 <juris>). Zu berücksichtigen ist darüber hinaus, dass minderjährige Kinder grundsätzlich aufenthaltsrechtlich das Schicksal ihrer Eltern teilen (sog. familienbezogene Gesamtbetrachtung (vgl. VGH BW vom 26.7.2006 – 11 S 951/06 <juris>)). Steht den Eltern wegen deren mangelnder Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland über Art. 8 EMRK i.V.m. § 25 AufenthG kein Aufenthaltsrecht zu, so ist davon auszugehen, dass auch ein Minderjähriger, der im Bundesgebiet geboren wurde oder dort lange Zeit gelebt hatte und vollständig integriert ist, auf die von den Eltern nach der Rückkehr im Familienverband zu leistenden Integrationshilfen im Heimatland verwiesen werden kann. Ausnahmsweise kann etwas anderes gelten, wenn kein Elternteil in der Lage sein wird, diese Hilfen zu erbringen (vgl. VGH BW vom 22.7.2009 a.a.O.)."

2. An diesen rechtlichen Vorgaben, die sich das Verwaltungsgericht zu eigen gemacht hat, hält der Senat fest.

Dafür, dass die Kläger auch in Anbetracht ihrer weiteren Integrationsleistungen seit Ergehen des Beschlusses bereits besonders integriert und – ihrem Heimatland völlig entfremdet – "faktische Inländer" geworden wären, bestehen keine Anhaltspunkte. Wie zu Recht im angefochtenen Urteil ausgeführt, sind die wirtschaftliche Integration der Kläger zu 1 und 2 wie auch die sprachliche Integration des Klägers zu 1 anzuerkennen, vermögen aber keine Verwurzelung derart zu begründen, dass nun ihre Ausreise nicht mehr verlangt werden kann. Die Kläger zu 1 und 2 haben in ihrem Heimatland 35 Jahre gelebt und halten sich weniger als 9 Jahre in Deutschland auf. Sie haben den Großteil ihres Lebens im Irak verbracht und sind damit mit den dortigen Gegebenheiten, der Kultur und der Sprache in Wort und Schrift vertraut. Es ist nicht erkennbar, dass ihnen eine Wiedereingliederung in die dortige Gesellschaft nicht möglich sein sollte, zumal beide Kläger ihre Berufsausbildung im Irak absolviert und – nach eigenen Angaben – Verwaltungswissenschaften studiert haben. Von einer Verwurzelung in Deutschland bzw. einer Entwurzelung und damit der Unzumutbarkeit der Rückkehr in den Irak kann daher nicht ausgegangen werden.

Die Kläger zu 3 bis 5 - allesamt im Irak geboren - sind im Alter von 9, 7 und 3 Jahren in das Bundesgebiet eingereist und sind (noch) minderjährig. Sie haben unbezweifelbar prägende Jahre im Bundesgebiet verbracht. Allein der Umstand, dass sie als Kinder in die Bundesrepublik eingereist und aufgewachsen und zur Schule gegangen sind bzw. noch gehen, rechtfertigt gegenwärtig nicht, dass ihnen eine Rückkehr nach Maßgabe des Art. 8 EMRK unzumutbar ist. So können die Kläger zu 3 bis 5 als minderjährige Kinder der Kläger zu 1 und 2 bei einer Rückkehr die Unterstützung ihrer Eltern in Anspruch nehmen. Nach wie vor ist auch davon auszugehen, dass die Kläger zu 3 und 4 eine muttersprachliche Kompetenz besitzen und dieser Sprache im Umgang mit ihren Eltern nicht entfremdet worden sind. Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht für die Klägerin zu 5, die als 3-jährige mit ihren Eltern und Geschwistern ins Bundesgebiet eingereist ist und im Gegensatz zu ihren Geschwistern eine geringere muttersprachliche Kompetenz besitzen wird. Gleichwohl wird auch hier bei lebensnaher Betrachtungsweise angenommen werden können, dass sie der kurdischen Sprache im Umgang mit ihren Eltern und Geschwistern nicht völlig entfremdet ist. Durch die Unterstützungshandlungen ihrer Eltern ist auch gesichert, dass den Klägern zu 3 bis 5 eine Rückkehr ins Land ihrer Herkunft nicht unzumutbar ist. Die Möglichkeit und Zumutbarkeit der Integration in den Herkunftsstaat (vgl. hierzu VGH BW vom 3.11.2008 – 11 F 2235/08 <juris>) wird auch dadurch unterstützt, dass offensichtlich noch weitere Verwandte der Kläger im Irak leben.

3. Das Vorbringen der Kläger, es sei keine familienbezogene Gesamtbetrachtung anzustellen, vielmehr sei bei der Frage der Zumutbarkeit allein auf die Reintegrationsmöglichkeiten der Kinder abzustellen, vermag nicht zu überzeugen. Im Rahmen der gebotenen Gesamtschau ist bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs bei minderjährigen Kindern regelmäßig nicht nur deren Integration isoliert in den Blick zu nehmen und festzustellen, inwieweit sie selbst – etwa im Hinblick auf Sprachkenntnisse, Schulbesuch und persönlichen Umgang – in der Bundesrepublik Deutschland verwurzelt sind. Vielmehr kommt auch der Frage Bedeutung zu, in welchem Umfang sich ihre Familie kulturell, sozial und wirtschaftlich in die bundesdeutschen Lebensverhältnisse integriert hat (Burr in: GK-Aufenthaltsgesetz, § 25 RdNr. 161; VGH BW vom 10.5.2006 – 1 S 234/05 <juris>; OVG Lüneburg vom 29.1.2009 – 11 LB 136/07 <juris>).

Wie zutreffend von der Beklagten unter Bezugnahme auf die genannte Entscheidung des VGH BW vom 10.5.2006 (a.a.O.) ausgeführt, sprechen hierfür mehrere Erwägungen. Für die Beurteilung der Verwurzelung von minderjährigen Kindern kommt es auch darauf an, inwieweit ihre innerfamiliären Lebensverhältnisse von der nationalen Herkunft der Gesamtfamilie geprägt sind. Darüber hinaus sind bei der für die aufenthaltsrechtliche Entscheidung relevanten Frage, ob eine (Re-)Integration minderjähriger Kinder in das Land der Staatsangehörigkeit möglich ist, die Fertigkeiten und möglichen Unterstützungsleistungen der Eltern sowie deren Verbindungen im Heimatland in Rechnung zu stellen. Ferner würde ein allein aus der Integration des minderjährigen Kindes hergeleitetes Aufenthaltsrecht dazu führen, dass den Eltern (und im Weiteren auch den minderjährigen Geschwistern) ohne nähere Prüfung ihrer Integration unter Bezugnahme auf Art. 6 GG, Art. 8 EMRK in der Regel zumindest Abschiebungsschutz zu gewähren wäre, was einwanderungspolitische Belange der Bundesrepublik Deutschland in ganz erheblichem Maße berühren und zu einer einseitigen Gewichtung der privaten Belange des betroffenen Ausländers führen würde. Darüber hinaus spricht die Tatsache, dass minderjährige Kinder ihren Lebensunterhalt in der Bundesrepublik Deutschland regelmäßig nicht alleine sichern können, sondern hierfür auf die Unterstützung ihrer Familie angewiesen sind, dafür, deren wirtschaftliche Integration in die Gesamtbetrachtung einzubeziehen. Auch die Konzeption des Aufenthaltsgesetzes geht davon aus, dass minderjährige Kinder grundsätzlich das aufenthaltsrechtliche Schicksal ihrer Eltern teilen (vgl. § 27 Abs. 1 i.V.m. §§ 29 Abs. 1 - 4, 32 Abs. 1 und 3, 34 AufenthG). Erst volljährige Kinder sind aufenthaltsrechtlich grundsätzlich selbstständig zu behandeln, weil zwischen ihnen und ihren Eltern – anders als bei Minderjährigen – regelmäßig keine Beistands-, sondern eine bloße Begegnungsgemeinschaft besteht.

An dieser rechtlichen Beurteilung ändert sich im hier maßgeblichen Zusammenhang grundsätzlich auch nichts dadurch, dass das Aufenthaltsgesetz für Kinder nach Vollendung des 16. Lebensjahres unter bestimmten Umständen ein selbstständiges Aufenthaltsrecht vorsieht (vgl. § 35 Abs. 1 AufenthG). § 35 Abs. 1 AufenthG schafft einen privilegierten Erwerbstatbestand für nachgezogene Kinder von Ausländern, die zum Zeitpunkt der Vollendung ihres 16. Lebensjahres mindestens fünf Jahre im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sind, die zum Zwecke des Familiennachzugs nach § 27 AufenthG – welcher seinerseits grundsätzlich ein Aufenthaltsrecht der Eltern bzw. des sorgeberechtigten Elternteils voraussetzt (vgl. § 32 AufenthG) – erteilt worden ist. Aus dieser gesetzlichen Regelung lassen sich für die hier vorliegende Fallkonstellation keine vergleichbaren Rechte herleiten.

Nachdem die Kläger zu 1 und 2 jeweils 35 Jahre lang im Irak lebten und die Kläger zu 3 bis 5 dort ihre Kleinstkinderzeit bzw. die Kläger zu 3 und 4 ihre Kinderzeit verbracht haben, spricht alles dafür, dass die innerfamiliären Verhältnisse nach wie vor von der nationalen Herkunft der Gesamtfamilie geprägt sind. Es ist ebenso die Annahme gerechtfertigt, dass die Kläger zu 3 bis 5 nach wie vor der kurdischen Sprache mächtig sind. Es wäre lebensfern anzunehmen, dass die Kläger zu 1 und 2 nach einem nur knapp 9-jährigen Aufenthalt untereinander und innerhalb der Familie nicht mehr ihre Muttersprache sprächen. Die Kläger zu 3 bis 5 sind auch im Falle einer Rückkehr nicht auf sich alleine gestellt, sondern können wesentliche Unterstützungsleistungen durch ihre Eltern erhalten, die hierzu auch in der Lage sind. Wie bereits ausgeführt, leben noch weitere Verwandte der Kläger im Irak, die den Klägern bei ihrer Wiedereingliederung behilflich sein können.

Aus den dargelegten Gründen sind die Kläger nicht aufgrund der Gesamtentwicklung "faktisch zu Inländern" geworden, denen wegen den Besonderheiten ihres Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug (mehr) haben, schlechterdings nicht mehr zugemutet werden kann (vgl. VGH BW vom 3.11.2008 – 11 S 2235/08 <juris>). [...]