1. In Afghanistan herrscht landesweit ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, die Zahl der Gewaltakte hat in den letzten Jahren stetig zugenommen. Trotz der sich drastisch verschlechternden Sicherheitslage droht jedoch keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit jedes einzelnen Rückkehrers, daher kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG.
2. Der psychisch kranke Kläger (PTBS), der in Afghanistan nicht auf den Rückhalt eines sozialen Netzwerks zurückgreifen könnte, wäre jedoch außer Stande, aus eigener Kraft für seine Existenz zu sorgen. Es ist angesichts der rudimentären medizinischen und psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten auch nahezu ausgeschlossen, dass der Kläger in dem zu erwartenden Fall einer Retraumatisierung die erforderliche psychotherapeutische Einzelbehandlung bekäme, daher Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG.
[...]
1. Die Voraussetzungen für die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegen nicht vor.
Nach dieser Vorschrift ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Durch diese Vorschrift wird Art. 15 c) der Qualifikationsrichtlinie in deutsches Recht umgesetzt. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG entspricht den Vorgaben des Art. 15 c) der Qualifikationsrichtlinie (BVerwG, Urt. v. 24.06.2008 - 10 C 43/07 -, Juris). Die Tatbestandsvoraussetzungen der "erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben" entsprechen denen einer "ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder Unversehrtheit" im Sinne von Art. 15 Buchstabe c QRL (BVerwG, a.a.O.).
a) Der Einzelrichter geht davon aus, dass in Afghanistan insgesamt ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht. Nach der Bewertung der Beklagten ist die Situation "auch im Norden Afghanistans", d.h. auch in dem bisher als relativ sicher eingestuften Bereich des Landes, als bewaffneter Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts zu qualifizieren (vgl. Regierungserklärung durch den Bundesminister des Auswärtigen Dr. Westerwelle am 10. Februar 2010, Plenarprotokoll 17/22 des Deutschen Bundestages, S. 1894, 1896). Der Einzelrichter sieht keinen Grund, dieser Einschätzung der Bundesregierung, in ganz Afghanistan sei nunmehr vom Vorliegen eines bewaffneten Konflikts im Sinne des humanitären Völkerrechts auszugehen, nicht zu folgen.
b) Es fehlt aber an einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers aufgrund dieses Konflikts. [...]
Die Zahl der Gewaltakte in Afghanistan hat in den letzten Jahren stetig zugenommen. Nach Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update vom 11.08.2010, Die aktuelle Sicherheitslage, S. 4) betrug die Zahl der Gewaltakte landesweit pro Monat im Jahre 2008 noch 741. Sie stieg im Jahre 2009 auf 960 und hat im Januar 2010 im Vergleich zum Vorjahr erneut um 40 % zugenommen. Nach Angaben der UNO forderte der Konflikt in Afghanistan im Jahre 2009 2.412 Opfer unter der Zivilbevölkerung (UNAMA, Afghanistan: Annual Report an Protection of Civilians in Armed Conflict, 2009, Januar 2010, S. 1). Zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 2010 dokumentierte die UNO 3.268 Opfer unter der Zivilbevölkerung, darunter 1.271 Tote und 1.997 Verletzte (UNAMA, Afghanistan: Mid Year Report an Protection of Civilians in Armed Conflict, 2010, August 2010, Executive Summary). Legt man diese Zahl zugrunde, so kann von einer Opferzahl von bis zu etwa 7.000 im Gesamtjahr 2010 ausgegangen werden. Es kann von einer sich drastisch verschlechternden Sicherheitslage gesprochen werden (vgl. VG Gießen, Urt. v. 26.08.2010 - 2 K 1754/10.GI.A -, Asylmagazin 2010, 375 ff.).
Dies vermag der Klage jedoch nicht zum Erfolg zu verhelfen. Zwar kann unter Berücksichtigung der sich verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan kein Ort im Land als sicher eingestuft werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update vom 11.08.2010, Die aktuelle Sicherheitslage, S. 4). Zur Beurteilung der Frage, ob daraus auch eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers resultiert, folgt der Einzelrichter im Sinne der Einheitlichkeit der Rechtsprechung den Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts in seiner Entscheidung vom 27. April 2010 (Az. 10 C 4.09, Juris). Danach muss die Zahl der Akte willkürlicher Gewalt im Verhältnis zur Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen unter Berücksichtigung der Anzahl der Opfer und der Schwere der Schädigungen bei der Zivilbevölkerung so hoch sein, dass sie einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts gleich kommt. [...]
Unter Zugrundelegung dieser rechtlichen Maßstäbe und der oben skizzierten Erkenntnislage geht der Einzelrichter davon aus, dass in Afghanistan trotz der sich drastisch verschlechternden Sicherheitslage die Gefahrenschwelle einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit jedes einzelnen Rückkehrers nicht überschritten ist. Legt man eine Opferzahl von bis zu 7.000 landesweit im Jahr 2010 zugrunde und stellt dem die Gesamtbevölkerungszahl Afghanistans von etwa 32 Millionen Einwohnern gegenüber, so kann nach den im Flüchtlingsrecht entwickelten Kriterien nicht davon ausgegangen werden, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr allein durch ihre Anwesenheit dort Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung im Sinne des Art. 15 c) der Qualifikationsrichtlinie ausgesetzt zu sein, der Kläger also als "jedermann" dort automatisch Opfer willkürlicher Gewalt würde. Dem entsprechend ist auch der UNHCR nicht in der Lage, bestimmte Konfliktgebiete in Afghanistan zu benennen, in denen es aufgrund allgemeiner Gewalt oder aufgrund von Ereignissen, welche die öffentliche Ordnung erheblich beeinträchtigen, zu einer schweren und willkürlichen Bedrohung des Lebens, der physischen Integrität oder der Freiheit kommt (UNHCR, Bericht vom 10.11.2009, S. 9).
Auch für eine besondere individuelle Betroffenheit, die sich gerade mit Blick auf den gewaltsamen innerstaatlichen Konflikt ergeben müsste, liegen im Fall des Klägers keine Anhaltspunkte vor.
2. Die Klage ist allerdings hinsichtlich der Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG begründet, weil dem Kläger im Falle einer Rückkehr nach Kabul mit hoher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben auf Grund der dortigen Situation droht.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, welcher der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidungen nach § 60 a Abs. 1 AufenthG berücksichtigt (§ 60 Abs..7 Satz 3 AufenthG). Beruft sich der einzelne Ausländer auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, kann er Abschiebungsschutz regelmäßig nur im Rahmen eines generellen Abschiebestopps nach § 60 a Abs. 1 AufenthG erhalten. In einem solchen Fall steht dem Ausländer wegen allgemeiner Gefahren ein Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht zu (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.12.2000 - 1 B 165.00 -, Juris). Die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG ist aber für das Bundesamt und die Gerichte jedenfalls dann unbeachtlich, wenn die oberste Landesbehörde trotz einer extremen allgemeinen Gefahrenlage keinen generellen Abschiebestopp nach § 60 a Abs. 1 AufenthG erlassen bzw. diesen nicht verlängert hat und ein vergleichbar wirksamer Schutz dem betroffenen Ausländer nicht vermittelt wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.07.2001 - 1 C 2.01 -, Juris). Entfällt oder endet bei solchen Gegebenheiten der Abschiebestopp, besteht demzufolge nicht nur die Möglichkeit, sondern darüber hinausgehend die staatliche Verpflichtung, in verfassungskonformer Einschränkung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot festzustellen, wenn die Rückkehr des Ausländers in seine Heimat ihn einer vor der Werteordnung des Grundgesetzes nicht zu rechtfertigenden Gefahr aussetzen würde. Allgemeine Gefahren können nur dann Schutz vor Abschiebung begründen, wenn der Ausländer einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass er im Fall seiner Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwerster Verletzung ausgeliefert würde und diese Gefahren alsbald nach seiner Rückkehr und landesweit drohen würden.
Im Hinblick auf die Lebensbedingungen in Afghanistan, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, kann der Kläger Abschiebungsschutz ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Wann danach allgemeine Gefahren zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung (hierzu und zum Folgenden BVerwG, Urt. v. 29.06.2010 - 10 C 10.09 -, Juris). Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde.
Diese Voraussetzungen sind zur Überzeugung des Einzelrichters jedenfalls im vorliegenden Einzelfall aufgrund der extrem schlechten Versorgungslage in Afghanistan und im Raum Kabul sowie angesichts der erschwerenden persönlichen Umstände des Klägers erfüllt.
Die Versorgungslage im gesamten Land ist auch für gesunde und arbeitsfähige Afghanen als katastrophal anzusehen ist. [...]
Der Sachverständige Dr. Mostafa Danesch hat schon in seinem Gutachten vom 23. Januar 2006 ausgeführt, dass die Wirtschaftslage in Afghanistan desolat sei, es kaum bezahlbare Wohnungen gebe, die Arbeitslosenquote ca. 80 % betrage und die Kriminalität enorm angewachsen sei. Staatliche und soziale Sicherungssysteme seien nicht bekannt, Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherungen gebe es nicht. Nach Ansicht von Dr. Danesch stoßen insbesondere Rückkehrer auf große Schwierigkeiten, wenn sie außerhalb eines Familienverbandes oder nach längerer Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehren und ihnen ein soziales oder familiäres Netzwerk sowie örtliche Kenntnisse fehlen. Rückkehrern sei es praktisch unmöglich, sich eine Existenz aufzubauen. Innerhalb kürzester Zeit hätten 1,5 Millionen Rückkehrer Kabul überschwemmt, wo sich die Hilfsorganisationen nicht in der Lage gesehen hätten, für eine derartige Masse Menschen Nahrungsmittel und Unterkünfte zu stellen und ihnen eine wirtschaftliche Perspektive zu eröffnen. Internationale Organisationen hätten bei der Auswahl der Hilfsbedürftigen strenge Maßstäbe angelegt und Rückkehrern aus Europa unterstellt, sie seien finanziell besser gestellt. Das Heer der Tagelöhner und Arbeitslosen lasse die Aussicht auf Arbeit gering erscheinen. In den Zeltlagern seien die hygienischen Verhältnisse ebenfalls katastrophal. Von der Bevölkerungszahl in Kabul seien etwa die Hälfte mittellose Flüchtlinge, weshalb die Hilfsangebote nur einen kleinen Teil erreichten. Lebensmittelpreise und Mieten seien in astronomische Höhen gestiegen, die Versorgung sei in einem lebensbedrohlichen Maß ungesichert. In einer weiteren Stellungnahme hält Dr. Danesch an dieser Einschätzung fest und betont, gerade der Zustrom von rund 4,4 Mio. Flüchtlingen nach Afghanistan habe die Lage "noch einmal massiv verschärft" (vgl. Stellungnahme v. 04.12.2006 an den Hessischen VGH, S. 24). Abgeschobene Rückkehrer aus Europa erhielten von den UN 12 Dollar pro Person und seien dann auf sich gestellt; weitere Hilfen gebe es momentan in Kabul nicht (S. 25). Sauberes Trinkwasser sei knapp. Die Wohnsituation sei "katastrophal'', selbst ein einfaches Zimmer koste 15 bis 20 Dollar bei einem durchschnittlichen Tageslohn von 2 Dollar, sei also für Rückkehrer nicht erschwinglich (S. 25 f.). In der Baubranche könnten Rückkehrer bei 80 % Arbeitslosigkeit allenfalls saisonal und nur tageweise Arbeit finden (S. 29). Die medizinische Versorgung sei speziell auch für Kinder derart unzureichend, dass eine Krankheit in den meisten Fällen den sicheren Tod bedeute, eine systematische Gesundheitsversorgung existiere nicht (S. 29 ff.). Diese Einschätzung hält Dr. Danesch zuspitzend aufrecht (Stellungnahme v. 24.08.2007, S. 22 ff.). Er hält eine Rückkehr nicht generell für "nicht vertretbar", wohl aber die Rückführung von Personen, die nicht "alleinstehend, jung und gesund wären, keinerlei politische, religiöse oder ethnisch motivierte Verfolgung zu fürchten hätten", "über ausreichende finanzielle Mittel" verfügten "und auf eine intakte, in die afghanische Gesellschaft integrierte Großfamilie bauen" könnten (Stellungnahme v. 24.08.2007, S. 6 f.).
Auch nach dem Bericht "Zur Lage in Afghanistan" vom Informationsverbund Asyl stellt sich die Situation in Afghanistan als katastrophal dar. Danach gehört Afghanistan zu den ärmsten Ländern der Welt. Etwa 70 % der Bevölkerung litten an Unterernährung. Es gebe so gut wie keine öffentliche Wasserversorgung, 60 bis 70 % der Bevölkerung hätten lediglich Zugang zu öffentlichen Brunnen, die kaum als Trinkwasser geeignet seien. Die Bevölkerung sei seit 2001 um etwa 75 % gewachsen, was die Hauptstadt Kabul völlig überfordere. Teilweise werde davon ausgegangen, dass Kabul mittlerweile 4,5 Millionen Einwohner habe, in den letzten Jahren allerdings die Fläche der Stadt nur um ein Drittel gewachsen sei. Die Zahl der Obdachlosen werde auf mindestens 10.000 geschätzt, Gruppen von Vertriebenen würden darüber hinaus häufig in öffentlichen Gebäuden und Ruinen leben. Familien, die ein Zimmer zur Miete gefunden hätten, müssten dafür 15 bis 20 Dollar pro Monat ausgeben, der Tageslohn betrage hingegen maximal zwei Dollar. Das Gesundheitssystem sei völlig unzureichend. Die Gesundheitskosten seien gewaltig und von den meisten Familien nicht zu bezahlen. Jeden Monat würden etwa fünf bis sechs Kinder sterben, weil sie zu spät im Krankenhaus aufgenommen würden. Es fehle an moderner Ausrüstung, Medikamenten und Personal im Krankenhaus. Eines der größten Probleme sei die Arbeitslosigkeit. Eine feste Arbeitsstelle zu finden, sei nahezu unmöglich. Die Familien würden deshalb versuchen, sich mit gelegentlicher Lohnarbeit ihre Existenz zu sichern.
Ähnlich teilt das Auswärtige Amt (Lagebericht Afghanistan vom 27.7.2010, S. 4, 33 ff.) mit, dass die Erntebilanz 2009 deutlich besser als im Dürrejahr 2008 ausgefallen sei, 2010 zwar wieder eine niedrigere Ernte erwartet werde, diese aber immer noch über dem langjährigen Mittel liege. Davon dürften auch die Rückkehrer profitiert haben. Die Armut führe aber landesweit zu Mangelernährung. Rückkehrer könnten auf Schwierigkeiten stoßen, wenn sie außerhalb des Familienverbandes oder nach längerer Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehrten und ihnen ein soziales und familiäres Netzwerk und Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlten. Freiwillig zurückkehrende Afghanen seien in den ersten Jahren meist bei Familienangehörigen untergekommen, was die in der Regel nur sehr knapp vorhandenen Ressourcen (Wohnraum, Versorgung) noch weiter strapaziere. Eine zunehmende Zahl von Rückkehrern verfüge aber nicht mehr über diese Anschlussmöglichkeiten.
UNHCR weist in einer Auskunft an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 30. November 2009 (S. 6 f.) darauf hin, die aktuelle Menschenrechtslage und humanitäre Situation in Afghanistan sei durch einen drastischen Anstieg der Lebensmittelpreise, schwache bzw. fehlende soziale Dienste und die gestiegene Anzahl ziviler Opfer des bewaffneten Konflikts geprägt. Zugleich habe es einen massiven Rückgang humanitärer Hilfe durch die Vereinten Nationen und andere Organisationen mit einem Mandat für Schutz und Hilfe gegeben, da der Zugang zu vielen Teilen Afghanistans erschwert bzw. nicht möglich sei (S. 7). In Kabul habe sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt durch eine steigende Anzahl von Binnenvertriebenen sowie wachsender Migration aus wirtschaftlichen Gründen weiter verschärft. Die meisten Personen in städtischen Gebieten, wie z.B. Kabul, seien nicht in der Lage, die durchschnittlichen Kosten von 200-250 US-$ pro Monat für eine Ein- oder Zwei-Zimmer-Wohnung aufzubringen. Üblicherweise werde ein Mindestgehalt von ungefähr 400 US-$ pro Monat benötigt, um die Miete sowie andere notwendige Ausgaben bezahlen zu können. Dieser Betrag könne von der überwiegenden Mehrheit der Afghanen nicht aufgebracht werden. Weiterhin sei die extreme Knappheit an Nahrungsmitteln durch die ausgeprägte Dürre verschlechtert und durch den globalen Preisanstieg weiter erschwert worden. 35 % der afghanischen Haushalte hätten im Jahre 2008 ihren täglichen Bedarf an Nahrungsmitteln nicht decken können. In 2008 lebten 42 % der afghanischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und insgesamt 5 Millionen Menschen, die noch im Jahr 2007 in der Lage waren, für sich selbst zu sorgen, seien nunmehr hilfsbedürftig. Grundsätzlich stelle die hohe Arbeitslosenquote in Afghanistan angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten ein weiteres Problem dar. Noch 2005 habe eine afghanische Familie lediglich 56 % der monatlichen Einnahmen für Nahrungsmittel ausgegeben, 2008 habe diese Zahl schon bei 85 % gelegen.
In Würdigung dieser Umstände spricht zur Überzeugung des Einzelrichters Vieles dafür, dass die aus Deutschland zurückkehrenden Asylbewerber, die - wie der Kläger - nicht auf den Rückhalt eines sozialen Netzwerkes von Verwandten oder Freunden zurückgreifen können, außer Stande sind, aus eigener Kraft für ihre Existenz zu sorgen. Sie haben kaum eine Chance, der Obdachlosigkeit und der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Eine Betätigung als Tagelöhner ist angesichts des Heeres von freiwilligen Rückkehrern, die sich um solche Einkommensquellen bemühen, nahezu ausgeschlossen. Die abgeschobenen Rückkehrer unterfallen auch nicht dem Mandat des UNHCR, der mit seinem Programm nur freiwillige Rückkehrer unterstützt, und können deshalb nicht mit humanitärer Hilfe rechnen (vgl. Informationsverbund Asyl, "Zur Lage in Afghanistan").
Ob jeder Rückkehrer aufgrund der geschilderten schlechten Versorgungslage "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert wird", kann jedoch letztlich offen bleiben. Aus der Biografie des Klägers und seinem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung sind hinreichende Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass sich die allgemein schlechte Versorgungslage in seiner Person aufgrund seiner psychischen Konstitution und seiner Lebensgeschichte bei einer Rückführung nach Kabul zu einer existenziellen Gefährdung verdichten würde.
Der Einzelrichter geht zunächst davon aus, dass der Kläger aufgrund seiner psychischen Konstitution erheblich höher gefährdet ist als sonstige, an Körper und Geist gesunde Rückkehrer. Ausweislich der Stellungnahme der behandelnden Psychotherapeutin Frau ... vom 21. November 2006 und der ergänzenden Stellungnahme vom 14. Februar 2008 litt der Kläger aufgrund seiner Erlebnisse in Afghanistan jedenfalls bis zum Jahr 2008 an einer erheblich protrahierten posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS ICD 10 F 43.1). [...]
Diese psychisch äußerst instabile Konstitution des Klägers führt zwar für sich genommen nicht zur Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Er ist jedoch im Zusammenhang mit der in der psychotherapeutischen Stellungnahme vom 22. November 2006 geschilderten Gefahr einer Retraumatisierung im Falle einer Rückkehr sowie mit den in Afghanistan nicht oder nur rudimentär vorhandenen Möglichkeiten einer psychotherapeutischen Behandlung zu sehen, die durch die vorhandenen Erkenntnisquellen belegt werden (Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 27.07.2010, S. 34; Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe "Behandlung von Trauma in Kabul" v. 26.02.2009). Bei einer Rückkehr nach Afghanistan wäre für den Kläger nicht sichergestellt, dass er die Schlafmittel erhält, die er benötigt, um angesichts seiner Angstzustände einen ansatzweise geregelten Schlaf zu finden und damit einem annähernd geregelten Alltag nachgehen zu können. Darüber hinaus ist angesichts der rudimentären medizinischen und psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten nahezu auszuschließen, dass der Kläger in dem zu erwartenden Fall einer Retraumatisierung die erforderliche psychotherapeutische Einzelbehandlung bekäme. Eine Verschlechterung seines ohnehin bereits eingeschränkten psychischen Gesundheitszustandes kann damit als sicher gelten. Berücksichtigt man zusätzlich, dass der Kläger nach Kabul zurückkehren müsste, ohne mit den dortigen aktuellen Verhältnissen vertraut zu sein und ohne über familiäre oder soziale Netzwerke zu verfügen, so spitzt sich aufgrund seiner besonderen persönlichen Lage die oben beschriebene katastrophale Versorgungslage für den Kläger zu einer extremen Gefahrenlage im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. [...]