VG Chemnitz

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Zitieren als:
VG Chemnitz, Urteil vom 22.12.2010 - A 5 K 495/10 - asyl.net: M18321
https://www.asyl.net/rsdb/M18321
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG für Kurden yezidischer Religionszugehörigkeit wegen Verfolgungsgefahr in Syrien aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und langen Verbleibens im Ausland, noch drohenden Militärdienstes und exilpolitischer Tätigkeit.

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, subsidiärer Schutz, Syrien, Kurden, Yeziden, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Exilpolitik, erniedrigende Behandlung, Folter, Deutsch-Syrisches Rückübernahmeabkommen, illegale Ausreise, Asylantrag, Willkür,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist im Hinblick auf § 60 Abs. 2 AufenthG begründet. [...]

Dem Kläger, von dessen syrischer Staatsangehörigkeit nunmehr auch das Gericht ausgeht, droht als kurdischem Volkszugehörigen bei einer Rückkehr nach Syrien aufgrund des langen Verbleibens im Ausland, der Asylantragstellung in Deutschland und der yezidischen Religionszugehörigkeit im Zusammenhang mit der kurdischen Volkszugehörigkeit und der noch drohenden Ableistung des Militärdienstes sowie seinen noch im gerichtlichen Verfahren behaupteten exilpolitischen Tätigkeiten in der Bundesrepublik Deutschland nach Überzeugung des Gerichtes gegenwärtig mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zumindest eine menschenrechtswidrige Behandlung, wenn nicht gar Folter. [...]

In der in das Verfahren eingeführten Stellungnahme des Europäischen Zentrums für kurdische Studien Berlin (EZKS) vom 25.11.2009 an den Bevollmächtigten des Klägers wird von zwei Fällen berichtet, in denen zum einen eine Familie und in dem anderen Fall eine Einzelperson nach der Rückführung aus Deutschland in Syrien verhaftet worden seien. Dem EZKS zufolge habe die verhaftete Familie einen Teil der Haftzeit in Räumen ohne Tageslicht verbringen müssen. Der Familie seien Schläge angedroht worden und sie sei aufgrund der fehlenden Arabischkenntnisse der Kinder beschimpft worden. Die Familie habe kaum Kontakt zur Außenwelt gehabt. Eine Person sei aufgrund ihrer Zuckerkrankheit in der Folge kollabiert. Einem Sohn sei angedroht worden, man werde ihm seinen Schuh in den Mund stopfen, wenn er nicht die Wahrheit sage. Am 29.10.2009 habe eine Verhandlung vor dem 3. Strafgericht in Damaskus stattgefunden. Der Familie sei vorgeworfen worden, das Land illegal verlassen zu haben. Der zweite berichtete Fall zeige, dass Inhaftierungen keinesfalls stets nach wenigen Tagen oder Wochen enden, sondern auch längerfristig andauern könnten. In jenem Fall sei eine Anklage unter Berufung auf Art. 287 des Syrischen Strafgesetzbuches erfolgt. Dieser Straftatbestand stelle die wissentliche falsche oder übertriebene Informationsverbreitung im Ausland unter Strafe. Der Betroffene habe in Deutschland an diversen Demonstrationen teilgenommen, sei jedoch weder Mitglied einer politischen Partei gewesen, noch habe er regimekritische Artikel im Internet oder anderswo veröffentlicht.

Offenbar sind auch dem Bundesinnenministerium Fälle von Verhaftungen von aus Deutschland abgeschobenen Syrern bekannt geworden. Einer zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Kleinen Anfrage der Abgeordneten Ina Korter und Filiz Polat (Grüne) zur Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 18.02.2010 und der diesbezüglichen Antwort der Landesregierung zufolge existiert ein Rundschreiben des Bundesinnenministeriums vom 16.12.2009 an die Innenministerien und Senatsverwaltungen der Länder. Das Länderrundschreiben vom 16.12.2009 enthalte den Hinweis, dass das Bundesamt wegen drei Inhaftierungsfällen nach Rückführung syrischer Staatsangehöriger unter anderem gebeten worden sei, Entscheidungen über Asylfolgeanträge vorläufig zurückzustellen, bis eine aktualisierte Lagebewertung des Auswärtigen Amtes vorliege. Bis dahin würden die Länder gebeten, bei anstehenden Abschiebungen besonders sorgfältig zu prüfen.

Von drei Inhaftierungsfällen, die insgesamt sechs Personen betreffen, berichtet auch das Auswärtige Amt in seinen Ad hoc-Ergänzungsberichten vom 28.12.2009 und 07.04.2010 zum Lagebericht vom 09.07.2009. Einem der dort genannten Fälle lässt sich die zum Gegenstand des Verfahrens gemachte Mitteilung von amnesty international vom 08.10.2009 auf der Internetseite der Organisation zuordnen.

Die vom Auswärtigen Amt bestätigten drei Inhaftierungsfälle greift das EZKS in seiner ebenfalls zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Stellungnahme vom 14.02.2010 an den Bevollmächtigten des Klägers erneut auf und führt hierzu nähere Details aus: Nochmals wird von Unterbringung in Hafträumen ohne Tageslicht, Androhung von Schlägen und Beschimpfungen sowie Kontaktsperren zur Außenwelt berichtet. Einem der Verhafteten sei es nach seiner Freilassung gelungen, in die Türkei zu flüchten. Der Betreffende habe davon berichtet, dass er sieben Tage in einer Einzelzelle festgehalten worden sei. Diese sei so klein gewesen, dass er sich zum Schlafen nicht habe ausstrecken können. Es sei vollkommen dunkel gewesen, so dass er nicht zwischen seiner Wasserflasche und der Flasche, die ihm zum Urinieren überlassen worden sei, habe unterscheiden können. Es sei ilm nur einmal täglich erlaubt gewesen, die Zelle zum Stuhlgang zu verlassen. Während sämtlicher Verhöre habe man ihm die Augen verbunden und die Hände auf dem Rücken gefesselt. Er sei beschimpft, geohrfeigt sowie mit Kabeln auf die Füße und andere Körperteile geschlagen worden. Um weitere Schläge zu vermeiden, habe er schließlich das verlangte Geständnis abgegeben. Darüber hinaus berichtet das EZKS in der Stellungnahme vom 14.02.2010 von einem am 27.06.2009 aus Zypern Abgeschobenen. Auch dieser sei in Syrien in Untersuchungshaft gelangt und dort gefoltert worden. Konkret sei er so lange auf die Fußsohlen geschlagen worden (sog. Falaqa-Methode, Bastonade), dass seine Füße eine Woche lang gefühllos gewesen seien. Der Betreffende befinde sich nach wie vor in Haft. Das EZKS weist in seiner Stellungnahme vom 14.02.2010 schließlich darauf hin, dass es begonnen habe, weitere Fälle von in jüngster Vergangenheit aus Deutschland abgeschobenen Kurden, über deren Verbleib nichts bekannt sei, zu recherchieren. Bislang habe man eine weitere Person identifiziert, die 2009 nach Syrien abgeschoben und einem Bekannten zufolge dort festgenommen und gefoltert worden sei.

Nach alledem liegen ernst zu nehmende Erkenntnisse über willkürliche Verhaftungen durch die syrischen Stellen bei abgeschobenen syrischen Exilanten vor, wobei sich insbesondere ein bestimmter Verfolgungsmodus nicht erkennen lässt. Die Verhaftungen betreffen sowohl exilpolitisch tätige Exilsyrer, als auch Personen, die sich im Ausland nicht exilpolitisch betätigt haben. Soweit konkrete Vorwürfe gegenüber den Betroffenen überhaupt erhoben werden, reichen diese vom Vorwurf des illegalen Verlassens des Landes bis hin zum Vorwurf der wissentlichen Verbreitung von falschen oder übertriebenen Informationen im Ausland. Während der Haftzeit kommt es zu physischer und psychischer Folter sowie zu sonstiger menschenrechtswidriger Behandlung.

In Ansehung dieser Erkenntnisse sind nach Überzeugung des Gerichts im Fall des Klägers sein Weggang ins Ausland und der dortige lange Verbleib, die kurdische Volkszugehörigkeit und sein Glauben sowie die exilpolitische Betätigung und der ihm noch drohende Militärdienst in Syrien geeignet, eine Rückkehrgefährdung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auszulösen. Nach der Flucht ins Ausland und der Asylantragstellung in Deutschland im Zusammenhang mit der kurdischen Volkszugehörigkeit ist unter Berücksichtigung seines Vorbringens zur Begründung des Asylbegehrens - gleichgültig, ob in Gänze zutreffend oder nicht - davon auszugehen, dass die syrischen Sicherheitskräfte ein ernsthaftes Verfolgungsinteresse an ihm haben könnten. Es ist zu befürchten, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit z.B. unter dem Vorwurf einer illegalen Ausreise, der Exilbetätigung oder auch aus schlicht nicht nachvollziehbaren Gründen ähnlichen Repressalien wie die Betroffenen in den genannten Referenzfällen ausgesetzt sein würde. Bei einer Rückkehr nach Syrien müsste mithin aller Voraussicht nach der Kläger mit einer Festnahme und damit einhergehender menschenrechtswidriger Behandlung rechnen. Unter diesen Umständen erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Rückkehr des Klägers in den Heimatstaat als unzumutbar.

Es liegen mithin beim Kläger die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG vor. [...]