OVG Nordrhein-Westfalen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.03.2010 - 18 B 111/10 - asyl.net: M18337
https://www.asyl.net/rsdb/M18337
Leitsatz:

Die Niederlassungserlaubnis ist wegen des 18-monatigen Aufenthalts in der Türkei erloschen (§ 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG). Dem steht nicht § 51 Abs. 2 S. 1 AufenthG entgegen, da der Antragsteller zwar mehr als 30 Jahre in der Bundesrepublik gelebt hat, sein Lebensunterhalt aber nicht gesichert ist. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Prüfung der Sicherung des Lebensunterhalts ist der Eintritt der Erlöschensvoraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG. Es ist vorliegend nichts dafür ersichtlich, dass der Antragsteller sechs Monate nach seiner Ausreise über eigenes Einkommen oder Vermögen verfügte, dass zur Deckung seines Lebensunterhalts ausgereicht hätte. Es liegt auch kein Abschiebungshindernis nach Art. 8 Abs. 1 EMRK (Schutz des Familien- und Privatlebens) vor.

Schlagwörter: Niederlassungserlaubnis, Erlöschen, freiwillige Ausreise, Sicherung des Lebensunterhalts, Beurteilungszeitpunkt, Prognose, türkische Staatsangehörige, Stillhalteklausel, Achtung des Privatlebens
Normen: AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 7, AufenthG § 51 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 2 Abs. 3, ARB 1/80 Art. 13, ARB 1/80 Art. 7 S. 1, EMRK Art. 8 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Niederlassungserlaubnis des Antragstellers ist nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG erloschen, weil er im August 2007 aus dem Bundesgebiet ausgereist und erst am 5. Februar 2009 wieder nach Deutschland zurückgekehrt ist. Durch seinen etwa 18-monatigen Aufenthalt in der Türkei hat der Antragsteller die Sechs-Monats-Frist des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG deutlich überschritten. Eine Verlängerung dieser Frist durch die Ausländerbehörde hat er weder beantragt noch erhalten.

Einem Erlöschen der Niederlassungserlaubnis nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG stand nicht § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG entgegen. Nach dieser Vorschrift erlischt die Aufenthaltserlaubnis eines Ausländers, der sich mindestens 15 Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, nicht nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG, wenn sein Lebensunterhalt gesichert ist und kein Ausweisungsgrund nach § 54 Nr. 5 bis 7 oder § 55 Abs. 2 Nr. 8 bis 11 AufenthG vorliegt. Für die Beurteilung, ob der Lebensunterhalt gesichert ist, ist nicht auf die im Zeitpunkt der Wiedereinreise gegebenen Umstände abzustellen (so aber Bay. VGH, Beschluss vom 15. Oktober 2009 - 19 CS 09.2194 u.a. -, InfAuslR 2010, 7).

Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt ist vielmehr der des Eintritts der Erlöschensvoraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG. Die Niederlassungserlaubnis erlischt nur dann nicht, wenn eine in diesem Zeitpunkt zu treffende Prognose ergibt, dass der Lebensunterhalt des Ausländers für einen erneuten Aufenthalt in Deutschland im Sinne von § 2 Abs. 3 AufenthG gesichert ist (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Januar 2002 - 18 B 732/01 -, AuAS 2002, 86 (zu § 44 Abs. 1a AuslG 1990); Bay. VGH, Urteil vom 1. Oktober 2008 - 10 BV 08.256 -, juris).

Die Rechtssicherheit gebietet, dass sich zu jedem Zeitpunkt eindeutig feststellen lässt, ob die Niederlassungserlaubnis fortbesteht oder erloschen ist. Dies wäre bei einem Abstellen auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse im Zeitpunkt der Wiedereinreise nicht gewährleistet, weil im Zeitraum zwischen dem Ablauf der Frist des § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG und der Wiedereinreise keine sichere Aussage darüber möglich ist, ob der Lebensunterhalt des Ausländers bei einer Rückkehr nach Deutschland gesichert sein wird.

Hiernach stand § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG einem Erlöschen der Niederlassungserlaubnis des Antragstellers nicht entgegen. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Antragsteller sechs Monate nach seiner im August 2007 erfolgten Ausreise über eigenes Einkommen oder Vermögen verfügte, das zur Deckung seines Lebensunterhalts ausgereicht hätte. Auch eine Prognose, dass sein Lebensunterhalt durch Dritte sichergestellt sein würde, war bereits deshalb nicht möglich, weil seinerzeit kein Dritter die Bereitschaft bekundet hatte, den Antragsteller zu unterstützen. Soweit der Cousin des Antragstellers zwischenzeitlich in einer eidesstattlichen Versicherung erklärt hat, in der Vergangenheit immer bereit gewesen zu sein, eine Verpflichtungserklärung für den Antragsteller abzugeben, spricht viel dafür, dass sich diese Aussage nur auf die Zeit nach dessen Wiedereinreise im Februar 2009 bezieht. Sollte die Erklärung des Cousins auch frühere Zeiträume erfassen, wäre sie nicht glaubhaft. Der Antragsteller war vor seiner Ausreise längere Zeit auf Sozialleistungen angewiesen. Soweit ersichtlich hat er in dieser Zeit durch seinen Cousin keine Unterstützung erfahren.

Entgegen der Ansicht des Antragstellers verstößt die Anwendung von § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG nicht gegen die sogenannte Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80. Hiernach dürfen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Die Anwendung von § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG stellt jedenfalls dann keinen Verstoß gegen Art. 13 ARB 1/80 dar, wenn der Aufenthaltstitel des Betroffenen auch nach dem bei Inkrafttreten des ARB 1/80 geltenden deutschen Ausländerrecht erloschen wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. April 2009 - 1 C 6.08 -, BVerwGE 134, 27).

So liegt es hier. Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AuslG 1965 erlosch eine Aufenthaltserlaubnis, wenn der Ausländer das Bundesgebiet aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund verließ. Die Voraussetzungen dieser, dem heutigen § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG entsprechenden Vorschrift waren bei der Ausreise des Antragstellers im Sommer 2007 erfüllt. Der Antragsteller ist aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund, nämlich in der Absicht ausgereist, in der Türkei für sich und seine Familie eine neue Existenz aufzubauen. Nach langjähriger Arbeitslosigkeit in Deutschland war der Antragsteller bereits im Oktober 2006 in die Türkei übergesiedelt, wo ihm ein Arbeitsplatz zugesagt worden war. Die Ausreise erfolgte gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinen Kindern. Anfang 2007 kehrte er mit einer seiner Töchter für einige Monate nach Deutschland zurück. Die Ehefrau und die übrigen Kinder blieben in der Türkei. Dorthin reiste der Antragsteller im Sommer 2007 mit Blick auf eine neue Arbeitsplatzzusage zurück. Angesichts dessen hatte seine Ausreise nicht lediglich vorübergehender Charakter, sondern war mit einer Verlagerung seines Lebensmittelpunkts in die Türkei verbunden. Für diese Bewertung ist unerheblich, ob der Antragsteller schon im Zeitpunkt seiner Ausreise für den Fall, dass es ihm nicht gelingen sollte, in der Türkei wirtschaftlich Fuß zu fassen, eine Rückkehr nach Deutschland als Möglichkeit ansah.

Das Verwaltungsgericht hat zutreffend angenommen, dass auch das Aufenthaltsrecht des Antragstellers aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erloschen ist, als er sich zwischen August 2007 und Februar 2009 in der Türkei aufhielt. Abgesehen von hier nicht in Betracht kommenden Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit erlischt ein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80, wenn der Ausländer das Hoheitsgebiet des Aufnahmestaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Die Abwesenheit des Antragstellers von 18 Monaten stellt einen erheblichen Zeitraum in diesem Sinne dar. Auch und gerade mit Blick auf die sogenannte Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG geht der Senat in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass regelmäßig bereits nach sechsmonatiger Abwesenheit ein erheblicher Zeitraum gegeben ist, weil bei einer derart langen Abwesenheit der Integrationszusammenhang verloren geht (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. März 2006 - 18 B 130/06 -, InfAuslR 2006, 312 mit weiteren Nachweisen).

Umstände, die hier die Dauer der Abwesenheit als noch unerheblich erscheinen lassen, obwohl der Richtwert von sechs Monaten um ein Mehrfaches überschritten ist, sind nicht erkennbar. Auch berechtigte Gründe, die es rechtfertigen, trotz dieses erheblichen Zeitablaufs vom Fortbestand des Integrationszusammenhangs in Deutschland auszugehen, sind nicht ersichtlich. Im Gegenteil spricht – wie dargelegt – alles dafür, dass der Antragsteller seinen Lebensmittelpunkt in die Türkei verlagert hat.

Der Annahme des Verwaltungsgerichts, dass auch sein Aufenthaltsrecht aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erloschen ist, ist der Antragsteller im Beschwerdeverfahren nicht entgegengetreten.

Schließlich hat der Antragsteller auch keinen Anspruch darauf, vorläufig nicht abgeschoben zu werden. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend dargelegt, dass es, wenn ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis keine Fiktionswirkung ausgelöst hat, aus gesetzessystematischen Gründen grundsätzlich unzulässig ist, allein aufgrund dieses Antrags ein Bleiberecht zu gewähren.

Auch im Übrigen liegen Abschiebungshindernisse nicht vor. Insbesondere ist eine Aufenthaltsbeendigung nicht mit Blick auf das durch Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleistete Recht auf Familien- und Privatleben unzulässig. Es unterliegt keinen Zweifeln, dass der Antragsteller, der 1971 im Alter von sieben Jahren erstmals ins Bundesgebiet eingereist ist und hier weit mehr als 30 Jahre gelebt hat, über intensive Bindungen nach Deutschland verfügt. Neben dem bereits erwähnten Cousin leben hier weitere Verwandte, insbesondere seine Eltern und zwei Brüder. Dennoch ist dem Antragsteller eine Rückkehr in die Türkei zumutbar. Er hat die ersten sieben Jahre seines Lebens im Land seiner Staatsangehörigkeit verbracht und dort einen wesentlichen Teil seiner Sozialisation erfahren. Er spricht die Landessprache. Zudem leben dort seine Ehefrau und seine Kinder, so dass er auch in der Türkei über enge persönliche Bindungen verfügt. Der Antragsteller ist in jüngster Zeit zweimal in der Absicht in die Türkei gezogen, für sich und seine Familie dort eine neue Existenz aufzubauen. Dies macht deutlich, dass er selbst ein Leben dort als nicht unzumutbar empfindet. [...]