VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Beschluss vom 09.03.2011 - 6 L 5805/10.GI.A - asyl.net: M18338
https://www.asyl.net/rsdb/M18338
Leitsatz:

Kein Eilrechtsschutz gegen Abschiebung nach Italien für einen dort anerkannten minderjährigen Flüchtling, auch wenn er in Italien möglicherweise eine schlechtere Lebenssituation vorfinden wird als in Deutschland. Da der Antragsteller alleinstehend und ohne Familienangehörigen in Italien ist, wird bei seiner Ausreise jedoch Vorsorge zu treffen sein, dass er nach der Rückführung nicht "auf der Straße steht".

Schlagwörter: Asylverfahren, Dublin II-VO, Italien, unbegleitete Minderjährige, vorläufiger Rechtsschutz, Unbeachtlicher Asylantrag, anerkannter Flüchtling, minderjährig, Asylantrag, Familienangehörige, Schwester, erhebliche individuelle Gefahr, Obdachlosigkeit
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, VO 343/2003 Art. 6
Auszüge:

[...]

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat zu Recht den Asylantrag des Antragstellers als unbeachtlich abgelehnt, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG verneint und ihm die Abschiebung nach Italien unter Fristsetzung von einer Woche angedroht.

Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 S. 1 2. Hs. AsylVfG) bestehen hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der erlassenen Abschiebungsandrohung keine ernstlichen Zweifel (§ 36 Abs. 4 S. 1 AsylVfG).

Zur weiteren Begründung nimmt das Gericht zunächst Bezug auf die zutreffenden Ausführungen und Feststellungen im angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19.11.2010 und sieht insoweit von einer eigenen Darstellung ab (§ 77 Abs. 2 AsylVfG).

Im Hinblick auf den Vortrag des Antragstellers im Eil- und Klageverfahren ist zu ergänzen:

Dem Bundesamt liegt eine Bestätigung des italienischen Innenministeriums vom 25. März 2010 vor, wonach dem Antragsteller, und zwar ganz offensichtlich unter den auch gegenüber den deutschen Behörden angegebenen Personalien und dem hier angegeben Geburtsdatum, der Flüchtlingsstatus gewährt wurde. Das Asylverfahren des Antragstellers ist damit abgeschlossen und unterfällt nicht mehr der Dublin II-Verordnung zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur für die Prüfung eines Asylantrages (Verordnung (EG) Nr. 343/2003). Der italienische Staat bietet dem Antragsteller damit Schutz vor politischer Verfolgung. Es gibt für das Gericht keine Anhaltspunkte, an der inhaltlichen Richtigkeit dieser Auskunft des italienischen Innenministeriums zu zweifeln. Ob der Antragsteller bei der Antragstellung minderjährig war und ob er dies gegenüber den italienischen Behörden angegeben hat, spielt dabei keine Rolle. Selbst wenn in Italien Minderjährige keinen wirksamen Asylantrag stellen können (so VG Frankfurt, Beschluss vom 02.08.2010, 8 L 18271.10.F.A.-, AuAS 2010, 212), so wurde der Antragsteller doch als Flüchtling anerkannt und genießt daher auch den entsprechenden Schutz. Ob diese Anerkennung durch die italienischen Behörden aufgehoben werden kann, kann dahinstehen. Denn es ist davon auszugehen, dass der Antragsteller dann entsprechenden Rechtsschutz dagegen erlangen kann.

Im Übrigen ist angesichts des Vortrags des Antragstellers noch darauf hinzuweisen, dass eine Zuständigkeit der Bundesrepublik im Zeitpunkt der Asylantragstellung auch nach Art. 6 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 im Hinblick auf die Schwester des Antragstellers hier nicht gegeben gewesen wäre. Denn die Schwester ist keine Familienangehörige im Sinne von Art. 2 Abs. i der Verordnung (EG) Nr. 343/2003. Zudem bestand, das belegt die eidesstattliche Versicherung der Schwester des Antragstellers vom 03.03.2011, kein familiäres Zusammenleben des Antragstellers mit seiner Schwester im Heimatland.

Ob die Bundesrepublik Deutschland im Wege des Selbsteintrittes nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 zur Übernahme des Asylverfahrens verpflichtet wäre, kann dahinstehen, da das Asylverfahren des Antragstellers in Italien bereits erfolgreich durchgeführt wurde.

Der Abschiebung des mittlerweile volljährigen Antragstellers nach Italien stehen auch keine Abschiebungsverbote entgegen. Insbesondere ist eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben des Antragstellers nicht ersichtlich. Das Attest der Ärztin für Kinder- und Jugendpsychologie, Dr. ..., ergibt zwar, dass den Antragsteller die Vorstellung einer Rückkehr nach Italien stark belastet. Es gibt aber keine Anhaltspunkte, dass eine entsprechende Behandlung des Antragstellers in Italien nicht möglich oder für den Antragsteller nicht zu erhalten wäre. Dem Antragsteller ist einzuräumen, dass die von ihm vorgelegten Berichte dafür sprechen, dass er in Italien möglicherweise eine schlechtere Lebenssituation vorfinden wird als in Deutschland. Eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben ist dadurch aber nach Einschätzung des Gerichts nicht verbunden. Da der Antragsteller alleinstehend und ohne Familienangehörige in Italien ist, wird bei seiner Ausreise Vorsorge zu treffen sein, dass der Antragsteller nach der Rückführung nicht "auf der Straße steht". Dafür lässt sich jedoch vor einer Abschiebung Vorsorge treffen, sei es dass der Antragsteller selbst oder die die Abschiebung durchführende Behörde mit den zuständigen italienischen Behörden Kontakt aufnimmt. Das Gericht geht außerdem davon aus, dass der Antragsteller zudem durch seine in der Bundesrepublik ansässige Schwester ggf. für eine gewisse Zeit wenigstens teilweise - auch finanziell - unterstützt werden kann. [...]