VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Beschluss vom 18.03.2011 - 8 L 92/11.A - asyl.net: M18345
https://www.asyl.net/rsdb/M18345
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz gegen Dublin-Überstellung nach Italien.

1. Im Falle eines erheblichen Unterschreitens der EU-Mindeststandards ist eine restriktive Handhabung des Eilrechtsschutzausschlusses in § 34a Abs. 2 AsylVfG geboten; dies gilt angesichts der aktuellen Rechtsprechung des EGMR umso mehr, da bei einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK hiernach ein Anspruch nach Art. 13 EMRK auf eine gründliche Prüfung der Beschwerde durch eine zur vollständigen sachlichen Prüfung berechtigte Instanz besteht (EGMR, Urteil vom 21.1.2011 - 30696/09, M.S.S. v. Belgium and Greece (engl.) - (asyl.net, M18077)).

2. Angesichts der vorliegenden Berichte über die Situation in Italien und des individuellen Vorbringens des Antragstellers hätte das BAMF darlegen müssen, dass eine Wiederholung gleichartiger Behandlung ausgeschlossen ist.

3. Die Überstellungsfrist wird durch die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes unterbrochen.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, Suspensiveffekt, EGMR, Obdachlosigkeit, Aufnahmebedingungen, Asylverfahren, Selbsteintritt, Überstellungsfrist
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VwGO § 80 Abs. 5, EMRK Art. 3, EMRK Art. 13, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, VO 343/2003 Art. 19 Abs. 4 S. 1, VO 343/2003 Art. 19 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Die mithin im Falle des Aufzeigens eines erheblichen Unterschreitens der besagten Standards im beabsichtigten Abschiebezielstaat gebotene restriktive Handhabung der Ausschlussregelung in § 34a Abs. 2 AsylVfG gilt mittlerweile in Ansehung der aktuellen Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) noch um so mehr. Denn danach kann der betroffenen Ausländer, der sich gegen eine beabsichtigte Abschiebung in einen anderen Mitgliedstaat wegen einer ihm dort vorgeblich drohenden gegen Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verstoßenden Behandlung wendet, konventionsrechtlich nach Art. 13 EMRK eine gründliche Prüfung dieser Beschwerde durch eine zur vollständigen sachlichen Prüfung berechtigte Instanz beanspruchen (vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011, Nr. 30696/09, M.S.S. gegen Belgien und Griechenland, Rz. 385-397).

Bei Anlegung dieser Maßstäbe hat das Antragsvorbringen ausreichende Anhaltspunkte dafür geliefert, dass die Bestimmung des § 34a Abs. 2 AsylVfG entsprechend dem oben Gesagten hier restriktiv zu handhaben und der einstweilige Rechtsschutzantrag ausnahmsweise für statthaft und mithin für zulässig zu erachten ist. Solche Anhaltspunkte im Sinne des Aufzeigens von erheblichen Zweifeln an der Einhaltung der maßgeblichen Standards in Italien sind zunächst mit dem Hinweis auf die - im Einzelnen benannten und ausgeführten - Beschlüsse diverser Verwaltungsgerichte, die in jüngerer Zeit Abschiebungen nach Italien wegen nicht ausschließbarer dortiger Gefährdungen für den jeweils betroffenen Ausländer untersagt haben, erbracht worden. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die entsprechende Aufzählung im Antragsvorbringen Bezug genommen. Darüber hat der Antragsteller mit der im Klageverfahren eingereichten handschriftlichen Stellungnahme zu seiner Situation in Italien (erstmals) substantiiert glaubhaft dargetan, dass auch er selbst in Italien weder eine Unterkunft noch die sonstigen notwendigen existenzsichernden Versorgungsleistungen erhalten hat. Diese Schilderung deckt sich mit den Aussagen in dem vom Antragsteller bereits im früheren Eilverfahren - 8 L 39/11.A - angesprochenen und nunmehr vorgelegten Bericht "Zur Situation von Flüchtlingen in Italien" von Maria Bethke und Dominik Bender vom 28. Februar 2011 über eine im Oktober 2010 durchgeführte diesbezügliche Recherchereise. Zudem wird in dem Bericht insbesondere für Dublin II-Rückkehrer nach Rom, dorthin soll auch der Antragsteller rücküberstellt werden, festgestellt, dass jene Gruppe dort ganz überwiegend sich selbst und damit der Obdachlosigkeit überlassen bleibt, ohne dass die erforderlichen Hilfeleistungen im Sinne eines unschweren Zugangs zu einem ordnungsgemäßen Asylverfahren und der Bereitstellung der dabei gebotenen Existenzsicherung erfolgen. Dies führt danach namentlich dazu, dass die besonders Schutzbedürftigen, etwa Kranke wie der nach eigenen, bislang unbestritten gebliebenen Angaben psychisch kranke Antragsteller - regelmäßig ohne Papiere bleiben und sich ohne Unterstützung "durchschlagen" müssen. Alldem ist die Antragsgegnerin nicht überzeugend entgegengetreten. Sie verweist hinsichtlich der relevanten Lage in Italien allein auf ihr Vorbringen im früheren Eilverfahren (- 8 L 39/11.A -). Dieses erschöpfte sich indes im wesentlichen in der Bekundung, auch Italien habe sich zur Einhaltung der gemeinschaftsrechtlich maßgeblichen Standards verpflichtet und es gebe dort - speziell auch für besonders schutzbedürftige Personen - staatliche sowie nichtstaatliche Aufnahmesysteme. Aus der bloßen Übernahme von Verpflichtungen und der grundsätzlichen Existenz von Aufnahmesystemen folgt jedoch keineswegs zwingend, dass Letztere auch hinreichend ausgestaltet sind und im erforderlichen Umfang praktiziert werden. Eben dies hat der Antragsteller auf der Grundlage seiner eigenen Erfahrungen im vorliegenden Verfahren, überdies in Übereinstimmung mit den erwähnten Feststellungen im genannten Bericht von Bethke/Bender, (erstmals) substantiiert und glaubhaft in Abrede gestellt. Dass die Schilderungen des Antragstellers zum erlebten gänzlichen Fehlen einer hinreichenden existenzsichernden Versorgung in Italien unzutreffend wären, hat die Antragsgegnerin nicht behauptet. Angesichts dessen hätte es der Antragsgegnerin oblegen, konkret darzutun, aus welchem Grund bzw. mit welchen Maßnahmen nunmehr bei einer Rückführung des Antragstellers eine Wiederholung einer gleichartigen Behandlung ausgeschlossen sein soll bzw. verhindert wird. Die Antragsgegnerin hat indes nicht aufgezeigt, durch konkrete Maßnahmen bzw. Absprachen im Zusammenhang mit der Überstellung des Antragstellers nach Italien - was durchaus denkbar erscheint - sichergestellt zu haben, dass dieser dort Zugang zu einem richtlinienkonformen Asylverfahren einschließlich einer existenzsichernden Versorgung erhält.

Der mithin entgegen § 34a Abs. 2 AsylVfG zulässige Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist auch begründet. Das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin. Nach den oben erläuterten, hinreichend glaubhaft gemachten Angaben des Antragstellers zu den Umständen seiner Aufnahme in Italien und den erwähnten Feststellungen im genannten Bericht Bethke/Bender sowie der in Bezug genommenen Spruchpraxis diverser Verwaltungsgerichte ist zumindest offen, ob sich die in der angegriffenen Verfügung der Antragsgegnerin vom 3. Januar 2011 erfolgte Ablehnung des Asylantrags als unzulässig aufgrund der Zuständigkeit Italiens als eines anderen Mitgliedstaates nach den Bestimmungen der Dublin II-VO und die damit verbundene Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylVfG im Hauptsacheverfahren als rechtmäßig erweisen werden. Es kommt insbesondere in Betracht, dass bei einer - nach dem oben Gesagten nicht unwahrscheinlichen - (derzeit) unzureichenden Umsetzung der gemeinschafts- und völkerrechtlichen asylrechtlichen Vorgaben durch Italien als anderen, nach der Dublin II-VO zuständigen Mitgliedstaat, die Bundesrepublik dieser Situation durch Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Rechnung tragen muss, wenn das Gemeinschaftsrecht es an dieser Stelle ausschließen sollte, dass die Bundesrepublik einzelne EU-Mitgliedstaaten generell vom Anwendungsbereich der Dublin II-VO ausnimmt (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. Oktober 2009 - 8 B 1433/09.A -; VG Hamburg, Beschluss vom 4. Februar 2009 - 8 AE 26/09 -, juris; VG Minden, Beschluss vom 2. Oktober 2009 - 1 L 533/09.A -, www.nrwe.de).

Die damit erforderliche allgemeine Interessenabwägung geht zugunsten des Antragstellers aus. Die Nachteile, die dem Antragsteller im Falle der Versagung einstweiligen Rechtsschutzes trotz Obsiegens in der Hauptsache entstehen, überwiegen die Nachteile für die Antragsgegnerin, wenn einstweiliger Rechtsschutz gewährt wird, die Klage aber letztlich erfolglos bleibt. Dies folgt schon daraus, dass dem Antragsteller in der erstgenannten Alternative erhebliche Gefahren sowie irreparable Nachteile und Rechtsbeeinträchtigungen drohen. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass er in Italien Obdachlosigkeit und mangelnder Versorgung ausgesetzt sein wird. Damit ist zugleich mehr als fraglich, ob er in der Lage wäre, von Italien aus sein Hauptsacheverfahren überhaupt im gebotenen Umfang weiter zu betreiben.

Die Nachteile, die im Falle eines erfolglosen Hauptsacheverfahrens durch die bis dahin andauernde Anwesenheit des Antragstellers im Bundesgebiet für die Antragsgegnerin entstehen, wiegen dagegen deutlich geringer. Sie erschöpfen sich im wesentlichen im Interesse an der Vermeidung finanzieller Folgelasten. Dabei geht die Kammer davon aus, dass Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO einer erneuten Überstellung des Antragstellers nach Italien nach einem erfolglosen Hauptsacheverfahren nicht entgegensteht. Die sechsmonatige Überstellungsfrist beginnt hier gemäß Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO erst mit der (abschließenden gerichtlichen) Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, den Asylantrag nicht zu prüfen (vgl. Art. 19 Abs. 1 Dublin II-VO) - hier mit der Entscheidung des Bundesamtes über die Unzulässigkeit des Antrages nach § 27a AsylVfG. [...]