VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 17.02.2011 - 12 K 3244/10 - asyl.net: M18360
https://www.asyl.net/rsdb/M18360
Leitsatz:

1. Zur in Baden-Württemberg geltenden Terminologie Wohnsitzauflagen/ Wohnungsauflagen.

2. Solche Auflagen werden in Baden-Württemberg in der Regel nur einmal - mit der erstmaligen Duldungserteilung - verfügt und damit spätestens nach einem Jahr bestandskräftig.

3. Geduldete haben kein Recht auf freie Wohnsitznahme, so dass die durch Wohnsitzauflagen verursachten Eingriffe im Regelfall minimal sind.

4. Trotz ermessenslenkender Verwaltungsvorschriften sind Besonderheiten des Einzelfalles, die der Betroffene vorbringt, zu würdigen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: sachliche Zuständigkeit, Zuständigkeit, Auflage, ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften, Ermessen, Verwaltungsvorschriften, Wohnsitzauflage, Duldung, Erwerbstätigkeit, Verhältnismäßigkeit, Ermessensreduzierung auf Null
Normen: LVwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1, LVwVfG § 48, LVwVfG § 49, AufenthG § 46
Auszüge:

[...]

Die zulässigen Klagen sind auch begründet . Denn sie sind gegen den richtigen Beklagten gerichtet (dazu I.) und haben in der Sache Erfolg (dazu II.).

I. Die Klagen sind zu Recht gegen das beklagte Land gerichtet.

Zwar wohnen die Kläger seit dem vergangenen Jahr außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Landratsamts im Zuständigkeitsbereich einer kommunalen Ausländerbehörde und stellt § 3 Abs. 1 Satz 1 der Aufenthalts- und Asylzuständigkeitsverordnung (AAZuVO) für die örtliche Zuständigkeit der Ausländerbehörden auf den gewöhnlichen Wohnsitz ab. Doch § 3 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. AAZuVO bestimmt im Falle einer räumlichen Beschränkung des Wohnsitzes gerade den der räumlichen Beschränkung entsprechenden Dienstbezirk als Ort des gewöhnlichen Aufenthalts, so dass das Landratsamt nach wie vor für die Entscheidung über den Fortbestand der Wohnsitzauflagen der Kläger zuständig ist.

II. Die Kläger haben auch einen Anspruch gegen den Beklagten auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und Aufhebung der bestandskräftigen Wohnsitzauflagen , § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 51 Abs. 1 Nr. 1 und 49 Abs. 1 LVwVfG sowie § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG.

Nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG hat eine Behörde auf Antrag über die Aufhebung eines unanfechtbaren Verwaltungsakts zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Sachlage zugunsten der Betroffenen geändert hat. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Dann ist eine Aufhebungsentscheidung nach § 48 LVwVfG oder nach § 49 LVwVfG zu treffen.

1. Die Kläger behaupten schon nicht, ihre Wohnsitzauflagen seien von Anfang an rechtswidrig gewesen, so dass sie sich auf § 48 LVwVfG nicht berufen können.

Denn diese Bestimmung ist nach überwiegender Auffassung nur anwendbar, wenn Verwaltungsakte von Anfang an rechtswidrig gewesen sind (vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 23.5.1995, BVerwGE 98, 298 <juris>; OVG Sachs.-Anh., Urt. v. 29.7.2007, a.a.O.). Das ist hier nicht erkennbar. Rechtsgrundlage für den Erlass der Auflagen im Jahr 1998 war § 56 Abs. 3 Satz 2 des damals geltende Ausländergesetzes (AuslG), wonach weitere Auflagen zur Duldung angeordnet werden konnten. Unmittelbar nach Abschluss der Asylerstverfahren der Kläger konnten die Wohnsitzauflagen nach dieser Bestimmung unproblematisch ermessensgerecht zur Förderung der Ausreise der Kläger erlassen werden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.9.2005, NVwZ 2006, 447: § 56 Abs. 3 Satz 2 AuslG "erlaubt es der Ausländerbehörde … unbestrittenermaßen, durch Nebenbestimmungen zur Duldung den Aufenthalt des Ausländers so zu gestalten, dass eine seine spätere Entfernung aus dem Bundesgebiet hindernde Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse vermieden und der mit der weiteren Anwesenheit verbundene Aufwand an öffentlichen Mitteln möglichst gering gehalten werden kann").

2. Somit kommt als Rechtsgrundlage für die Aufhebung der bestandskräftigen Auflagen nur § 49 LVwVfG in Betracht, dessen Voraussetzungen vorliegen.

Nach § 49 Abs. 1 LVwVfG kann ein zunächst rechtmäßiger nicht begünstigender Verwaltungsakt, nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden, außer wenn ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste oder aus anderen Gründen ein Widerruf unzulässig ist. Diese Voraussetzungen liegen hier vor; das Widerrufsermessen ist aus den besonderen Umständen des Einzelfalles sogar ausnahmsweise auf Null reduziert . Denn die für den Erlass und die Aufrechterhaltung der Auflagen maßgeblichen Umstände haben sich nachträglich in erheblicher Weise geändert:

Die Rechtsgrundlage für den Erlass der Auflagen, § 56 Abs. 3 Satz 2 AuslG, ist außer Kraft getreten. Ermächtigungsgrundlage für die heutige Aufrechterhaltung kann im Falle der Kläger nicht § 46 Abs. 1 AufenthG sein. Denn für auf diese Rechtsgrundlage gestützte Maßnahmen sind in Baden-Württemberg nur die Regierungspräsidien zuständig (vgl. 8 Abs. 1 u. Abs. 3 Nr. 2 AAZuVO). Rechtsgrundlage für Entscheidungen über die Aufrechterhaltung der Auflagen ist vielmehr die mit dem § 56 Abs. 3 Satz 2 AuslG vergleichbare Bestimmung des § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG , wonach bei vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländern neben einer zwingenden räumlichen Beschränkung auf das Bundesland (Satz 1) weitere Bedingungen und Auflagen angeordnet werden können. Dem Landratsamt ist somit Ermessen eingeräumt. Diese hat sich an aufenthaltsrechtlichen Belangen zu orientieren und muss unter Abwägung mit schützenswerten Belangen der Betroffenen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen (so OVG NRW, Beschl. v. 10.3.2010, AuAS 2010, 176; VG Freiburg, Beschl. v. 29.6.2009, a.a.O.; VG Stuttgart, Urt. v. 21.10.2009, a.a.O.; Funke-Kaiser, a.a.O., § 61 Rn. 35.1).

Im Versagungsbescheid vom 30.6.2010 in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid vom 29.7.2010 erhalten hat, werden mehrere öffentliche Belange benannt (ausländerrechtliche und polizeirechtliche Kontrolle, Verhinderung einer Ghettobildung, gleichmäßige Lastenverteilung auf die Kommunen). In erster Linie wird auf ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften Bezug genommen. Die Versagungsentscheidung ist nicht schon wegen dieses Bezugs ermessensfehlerhaft (dazu a)). Eine Reduzierung des Ermessens ergibt sich im Falle der Kläger auch nicht aus höherrangigem Recht (dazu b)), sondern aus den besonderen Umständen des Einzelfalles (dazu c)).

a) Die Entscheidung des Beklagten ist nicht schon deswegen ermessensfehlerhaft, weil sie sich an den ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften des Landes Baden-Württemberg orientiert.

Maßgeblich sind dabei Ziffer 5.2 der VwV-FlüAG und Ziffern 2.11.2.2 i.V.m. 2.5.3 der VwV Asyl/Rückführung, beide enthalten in den Verwaltungsvorschriften des Innenministeriums zum Ausländerrecht (VwV-AuslR-IM v. 2.11.2010, GABl. S. 504, zugänglich über die Homepage des Ministeriums). Eine Ermessenslenkung durch Verwaltungsvorschriften ist gerade in solchen massenhaft anfallenden Verwaltungsvorgängen sinnvoll und zulässig (vgl. nur BVerwG, Urt. v. 15.1.2008, BVerwGE 130, 148 zu Verwaltungsvorschriften über Wohnsitzauflagen bei anerkannten Flüchtlingen nach der GFK). Die baden-württembergischen Richtlinien lassen auch ein zulässiges Leitmotiv für die Ermessenssteuerung erkennen, nämlich die Erhaltung des Fortbestands einer bereits während des Asylverfahrens versuchten gleichmäßigen Verteilung der im Verfahren befindlichen Ausländer und der damit verbundenen finanziellen Belastungen auf die Kommunen . Nach überwiegender Auffassung gehört dieser Gesichtspunkt zu den "aufenthaltsrechtlichen Belangen" nach § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 10.3.2010, a.a.O.; VG Freiburg, Beschl. v. 29.6.2009, a.a.O.; zu eng daher wohl Ziff. 61.1.2 VwV-AufenthG mit seiner Begrenzung auf die Ausreiseförderung). Art. 71 Abs. 3 LVerf Bad.-Württ. verpflichtet das Land auch zur Rücksichtnahme auf die finanziellen Belange der Kommunen.

Entgegen der Ansicht des Klägervertreters ist auch nicht zu beanstanden, dass die maßgeblichen Regelungen in Verwaltungsvorschriften enthalten sind, die auch den Aufenthalt von Asylbewerbern betreffen. Denn nach ihrer Ziffer 2.11.2 gilt die VwV Asyl/Rückführung nicht nur für abgelehnte Asylbewerber, die zurückgeführt werden können, sondern auch für "erfolglose Asylbewerber", bei denen Ausreisehindernisse (auch faktische) vorliegen.

Sehr zu bezweifeln ist allerdings, ob die in Baden-Württemberg maßgeblichen Verwaltungsvorschriften nachvollziehbar ausgestaltet sind. Auch das Landratsamt hat sich zur Begründung seines Ausgangsbescheids vom 30.6.2010 gerade nicht auf die unübersichtlichen Richtlinien berufen, sondern auf andere unzutreffende Normen. Wenig zu überzeugen vermag zudem, dass sich die Grundsatzregelung zur Lenkung einer ausländerrechtlichen Ermessensentscheidung ausgerechnet in einer Verwaltungsvorschrift - der VwV-FlüAG - befindet, deren Ziffer 1 Satz 2 zutreffend betont, dass das zugrundeliegende Gesetz, das Flüchtlingsaufnahmegesetz (FlüAG), nicht zu ausländerrechtlichen Maßnahmen ermächtigt. Weiter enthalten die anwendbaren Ziffern der VwV Asyl/Rückführung keinen Hinweis auf die Möglichkeit einer Durchbrechung durch höherrangiges Recht (etwa auf Grund von Art. 6 GG im Falle einer Heirat). Schon deswegen besteht stets eine Prüfpflicht der für die Aufrechterhaltung der Auflage zuständigen Behörde, ob die Zustimmung der aufnehmenden Ausländerbehörde rechtmäßig versagt worden ist.

b) Aus höherrangigem Recht ergibt sich im Fall der Kläger keine Ermessenreduzierung.

Abwägungsentscheidungen bedürfen nicht nur des Blicks auf den Einzelfall (vgl. nachfolgend c)), sondern stets auch der Rückbesinnung auf wertentscheidende Grundsatznormen, die das Gewicht der abwägungsrelevanten Belange prägen. Wird dies hier beachtet, fällt auf, dass private Rechte eines Geduldeten auf Wohnsitznahme in einer bestimmten Gemeinde regelmäßig kein hohes Gewicht zukommen kann. Denn Freizügigkeit im Bundesgebiet genießen zunächst nur deutsche Staatsangehörige (Art. 11 Abs. 1 GG; vgl. dazu Durner in: Maunz-Dürig-Herzog, GG, Art. 11 Rn. 61) und Art. 2 Abs. 1 des Vierten Zusatzprotokolls zur EMRK gewährleistet nur Personen, sie sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet anderer Staaten aufhalten, das Recht auf freie Wohnsitznahme. Geduldete, d.h. sich rechtswidrig im Bundesgebiet aufhaltende Ausländer, haben deswegen kein Recht, ihren Wohnsitz in einer bestimmten Kommune zu nehmen, sondern sind vorrangig verpflichtet, auszureisen. Kommentierungen und Rechtsprechung zu § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG, die betonen, es bedürfe "besonderer Gründe" für eine Wohnsitzauflage bei Geduldeten, verfehlen erkennbar diesen rechtlichen Ausgangspunkt. Vielmehr reichen einfache öffentliche Belange von geringem Gewicht regelmäßig aus, um eine Wohnsitzauflage gegenüber Geduldeten ermessensgerecht verfügen und aufrechterhalten zu können.

c) Aus dem Umständen des Einzelfalles überwiegen hier jedoch die Interessen der Kläger an der Aufhebung der zunächst rechtmäßigen Beschränkung.

Die durch Verwaltungsvorschriften bewirkte Ermessensbindung geht ohnehin nie so weit, dass wesentlichen Besonderheiten des Einzelfalles nicht mehr Rechnung getragen werden könnte (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.1.2008, a.a.O.). Das Erfordernis einer individuellen Ermessensentscheidung gebietet es deshalb, die der Behörde bekannten oder erkennbaren Belange des Ausländers zu berücksichtigen. Hier besteht eine Fülle von Gesichtspunkten, die in ihrer Summe eine Ermessensausübung zugunsten der Kläger gebieten (Ermessensreduzierung auf Null):

Sie leben seit über 12 Jahren geduldet im Bundesgebiet und die Klägerin Ziffer 2 war diese gesamte Zeit hindurch erwerbstätig, der Kläger Ziffer 1 mit Unterbrechungen. Gleichwohl lebten sie bis zu ihrem Umzug stets nur in einer Flüchtlings-/Obdachlosenunterkunft. Dieser Fakt wurde in ausländerbehördlichen und gerichtlichen Entscheidungen zu ihrem Nachteil gewertet (vgl. § 2 Abs. 4 AufenthG). Der Umzug in eine verfügbare Privatwohnung in der Nähe erfolgte in die ca. 10 km entfernte Kreisstadt, in welcher auch die Arbeitsplätze beider Kläger liegen. Sie verfügen derzeit über ein gemeinsames Bruttoeinkommen von ca. 2.100 EUR im Monat, so dass ein Anspruch auf aufstockende Leistungen nicht mehr bestehen dürfte. Vor diesem Hintergrund vermag letztlich auch das eigenmächtige Handeln der Kläger, d.h. die Anmietung und den Bezug einer Wohnung vor Aufhebung der Beschränkung, nicht zu ihrem Nachteil durchschlagen, auch wenn im Regelfall vor Umzug ein Verfahren nach § 123 VwGO auf Verpflichtung des Träger der Ausländerbehörde zur Streichung der Wohnsitzauflage durchzuführen sein dürfte. Von dieser Verpflichtung zur Streichung der bisherigen Auflagen bleibt die Befugnis der nun zuständigen Ausländerbehörde unberührt, nach Ermessen eine erneute Beschränkung der Wohnsitznahme auf den jetzigen Wohnort zu verfügen. [...]