VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 24.01.2011 - 7 B 2488/10 - asyl.net: M18363
https://www.asyl.net/rsdb/M18363
Leitsatz:

Eine alleinige Personensorge eines Elternteils im Sinne des § 32 Abs. 3 AufenthG ist auch dann anzunehmen, wenn ein kraft Gesetzes bestehendes gemeinsames Sorgerecht durch Entscheidung eines ausländischen Gerichts in einer Weise modifiziert wird, die dem anderen Elternteil keine substanziellen Mitspracherechte und -pflichten belässt (betrifft Bosnien-Herzegowina).

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Kindernachzug, alleiniges Sorgerecht, vorläufiger Rechtsschutz, Suspensiveffekt, Bosnien-Herzegowina, Ermessen, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Visumsverfahren
Normen: AufenthG § 32 Abs. 3, AufenthG § 32 Abs. 4, AufenthV § 39 Nr. 3, VwGO § 80 Abs. 5, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1, EGBGB Art. 21, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde ist begründet, soweit sie die verwaltungsgerichtliche Versagung vorläufigen Rechtsschutzes hinsichtlich der im Bescheid vom 11. Dezember 2009 erfolgten Ablehnung eines Anspruchs des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 32 Abs. 3 AufenthG betrifft. Der hiergegen gerichtete Antrag des Antragstellers nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO ist begründet. Das Aussetzungsinteresse des Antragstellers ist gegenüber dem öffentlichen Vollziehungsinteresse vorrangig, weil dem Antragsteller nach dem Erkenntnisstand des Beschwerdegerichts im Zeitpunkt seiner Entscheidung ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 32 Abs. 3 AufenthG unter Absehen von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nach Ermessen des Antragsgegners (weiterhin) zusteht.

Nach § 32 Abs. 3 AufenthG ist dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, welches das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, eine Aufenthaltserlaubnis u. a. zu erteilen, wenn der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Niederlassungserlaubnis besitzt. Diese besonderen Erteilungsvoraussetzungen sind im Fall des Antragstellers gegeben, namentlich ist der im Besitz einer Niederlassungserlaubnis befindliche Vater des Antragstellers als allein personensorgeberechtigter Elternteil im Sinne des § 32 Abs. 3 AufenthG anzusehen. Allein personensorgeberechtigt im Sinne des § 32 Abs. 3 AufenthG ist ein Elternteil, wenn dem anderen Elternteil in Bezug auf die Ausübung der Personensorge keine substanziellen Mitentscheidungsrechte und -pflichten zustehen, etwa in Bezug auf Aufenthalt, Schule und Ausbildung oder Heilbehandlung des Kindes. Wem das Personensorgerecht in welchem Umfang zusteht, beurteilt sich gemäß Art. 21 EGBGB nach dem Recht des Staates, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (vgl. grundlegend zu Vorstehendem: BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 - BVerwG 1 C 17.08 - BVerwGE 133, 329).

Art. 142 Abs. 1 des hier maßgeblichen Familiengesetzes der Föderation von Bosnien und Herzegowina (im Folgenden: FamG) geht allerdings im Grundsatz von einem gemeinsamen Personensorgerecht auch der nicht in Familiengemeinschaft lebenden Eltern aus. Nach Art. 142 Abs. 1 Satz 1 FamG übt (zwar) der Elternteil die elterliche Sorge aus, bei dem das Kind lebt, eine alleinige Entscheidungsbefugnis, d.h. eine von der Zustimmung des anderen Elternteils unabhängige Entscheidungsbefugnis, hat er nach Art. 142 Abs. 1 Satz 2 FamG nur, falls der andere Elternteil an der Sorge für das Kind verhindert oder unbekannten Aufenthalts ist oder die Unterhaltspflicht nicht erfüllt oder nicht erreichbar ist.

Diese gesetzliche Zuordnung der elterlichen Sorge bei nicht in Familiengemeinschaft lebenden Eltern nach bosnisch-herzegowinischem Familienrecht kann indes durch gerichtliche Entscheidung nach Maßgabe des Art. 142 Abs. 2 bis 8 FamG verändert werden. Dies ist hier durch das Urteil des Gemeindegerichts in Grada?ac vom … 2009 geschehen: Das Gericht hat entschieden, dass der Antragsteller bei seinem Vater leben soll (Art. 142 Abs. 2 FamG). Es hat - was nach Art. 142 Abs. 3 FamG im Interesse des Kindes möglich ist - davon abgesehen, der Mutter des Antragstellers Pflichten aufzuerlegen, namentlich nicht die in Abs. 3 hervorgehobenen, für die Gesundheit des Antragstellers und seine Beschulung zu sorgen, das Kind in gewissen Angelegenheiten zu vertreten oder an allen wichtigen Entscheidungen über die Aufziehung des Kindes teilzunehmen und dessen Vermögen zu verwalten. Vielmehr hat das Gericht den Vater des Antragstellers verpflichtet, die elterliche Sorge zu übernehmen und hat gemäß Art. 145 Abs. 1 FamG die Art der Unterhaltung persönlicher Beziehungen und unmittelbarer Kontakte des Antragstellers mit der Mutter - dem Elternteil, bei dem das Kind nicht lebt - geregelt. Infolge dieser Entscheidung des Gerichts verbleibt der Mutter als dem Elternteil, bei dem das Kind nicht lebt, allein das Informationsrecht nach Art. 142 Abs. 4 Satz 1 FamG und ein nur gerichtlich verfolgbares Einspruchsrecht nach Art. 142 Abs. 4 Satz 2 FamG. Bei dieser durch das Urteil des Gemeindegerichts in Grada?ac vom 7. September 2009 gestalteten Rechtslage verfügt die Mutter des Antragstellers nicht über substanzielle Mitentscheidungsrechte und -pflichten, die der Annahme einer alleinigen Personensorgeberechtigung des Vaters des Antragstellers entgegenstehen würden.

Ein gebundener Anspruch des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 32 Abs. 3 AufenthG scheitert gleichwohl am Fehlen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis voraus, dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist (Nr. 1) und die für die Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat (Nr. 2). Die Erforderlichkeit eines Visums entfiel im Fall des Antragstellers auch nicht nach § 99 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG i. V. m. § 39 Nr. 3 AufenthV. Insoweit fehlt es - wie das Verwaltungsgericht auf der Seite 3, 2. bis 4. Absatz, des angegriffenen Beschlusses, auf die Bezug genommen wird, zutreffend ausgeführt hat - am von § 39 Nr. 3 AufenthV geforderten Entstehen der Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach der Einreise des Antragstellers.

Da die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 32 Abs. 3 AufenthG mit Ausnahme der das Visumsverfahren betreffenden nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorliegen, hat der Antragsteller jedoch einen Anspruch auf Erteilung dieses Aufenthaltstitels im Ermessenswege unter Absehen von den das Visumsverfahren betreffenden Erteilungsvoraussetzungen gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG. Dieser Anspruch ist durch die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 32 Abs. 3 AufenthG im Bescheid des Antragsgegners vom 11. Dezember 2009 nicht erfüllt worden. Denn der Antragsgegner hat im Hinblick auf den Anspruch aus § 32 Abs. 3 AufenthG bereits das Vorliegen dessen besonderer Erteilungsvoraussetzungen verneint und ist nicht zu einer Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gelangt. [...]