BlueSky

OVG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 12.01.2011 - 4 Bs 284/10 - asyl.net: M18374
https://www.asyl.net/rsdb/M18374
Leitsatz:

1. Ein beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gestellter sogenannter isolierter Wiederaufgreifensantrag eines ehemaligen Asylantragstellers betreffend die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG ist kein (Asyl )Folgeantrag im Sinne von § 71 Abs. 1 AsylVfG.

2. Für ein daneben verfolgtes Begehren auf Erteilung einer Duldung wegen eines inlandsbezogenen Abschiebungshindernisses ist gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 3a HmbVwVfG die Ausländerbehörde des Ortes zuständig, in dem der Ausländer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (hier: Hamburg).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Wiederaufnahme des Verfahrens, Asylfolgeantrag, Zuständigkeit, örtliche Zuständigkeit, Ausländerbehörde, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Abschiebungsverbot, Abschiebungshindernis, gewöhnlicher Aufenthalt, vorläufiger Rechtsschutz, Duldung, räumliche Beschränkung, Aufenthaltsgestattung, psychische Erkrankung, Suizidgefahr, Retraumatisierung,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2, GG Art. 2 Abs. 2, AsylVfG § 13, AsylVfG § 71 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Aus den von der Antragsgegnerin dargelegten Gründen, die das Beschwerdegericht nur zu prüfen hat (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO), ist die angefochtene Entscheidung weder zu ändern noch aufzuheben. Damit hat das Verwaltungsgericht die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig bis zum Abschluss des Klageverfahrens 11 K 3272/10 eine Duldung zu erteilen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Antragsgegnerin sei nach § 3 Abs. 2 Nr. 3a HmbVwVfG für das Duldungsbegehren des Antragstellers, der nach früheren erfolglosen Asylverfahren und seiner Abschiebung in die Türkei im September 2004 kurz darauf illegal in das Bundesgebiet zurückgekehrt sei und seitdem in Hamburg lebe, örtlich zuständig. Diese Zuständigkeit werde nicht durch § 56 Abs. 3 AsylVfG verdrängt. Zwar sei der Aufenthalt des Antragstellers in dem früheren Asylverfahren auf den Landkreis Parchim beschränkt gewesen. Diese räumliche Beschränkung sei jedoch zusammen mit der Aufenthaltsgestattung durch die unanfechtbare Ablehnung seines Asylgesuchs noch vor dem Inkrafttreten des § 56 Abs. 3 AsylVfG (1.1.2005) erloschen. Ebenso wenig berühre § 71 Abs. 7 Satz 1 AsylVfG die örtliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin für den geltend gemachten Duldungsanspruch, den der Antragsteller auf eine schwerwiegende psychische Erkrankung und ein daraus folgendes inlandsbezogenes Abschiebungshindernis stütze. Die in dieser Norm geregelte Fortgeltung einer während eines früheren Asylverfahrens ausgesprochenen räumlichen Beschränkung des Aufenthalts eines Ausländers gelte nur in Fällen eines Folgeantrags, der den Anforderungen des § 13 AsylVfG genüge. Das treffe für einen isolierten (Wiederaufgreifens-)Antrag nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, wie ihn der Antragsteller beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) gestellt habe, nicht zu. Der Antragsteller habe auch durch Vorlage eines psychologisch-psychiatrischen Gutachtens glaubhaft gemacht, dass er für den Fall der Nichtaussetzung der beabsichtigten Abschiebung in die Türkei konkret suizidgefährdet sei und deshalb nach § 60a Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 GG geduldet werden müsse. Es sei auch davon auszugehen, dass der Suizidgefahr nicht durch eine entsprechende Ausgestaltung der Abschiebung (Sicherheitsbegleitung durch die Bundespolizei, ärztliche Begleitung des Antragstellers o.ä.) ausreichend begegnet werden könne. Denn nach dem vorgelegten Gutachten müsse davon ausgegangen werden, dass sich das Selbsttötungsrisiko nicht erst durch den Abschiebungsvorgang selbst, sondern schon dann deutlich erhöhen werde, wenn die Abschiebung nicht vorläufig ausgesetzt und dem Antragsteller die begehrte Duldung nicht erteilt werde.

Die mit der Beschwerde vorgebrachten Gründe ziehen die Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht in Zweifel.

Die Antragsgegnerin wendet sich zunächst gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, sie sei für das Duldungsbegehren örtlich zuständig. Insoweit meint die Antragsgegnerin, der von dem Antragsteller im Oktober 2010 beim Bundesamt gestellte Antrag auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG sei als (Asyl-)Folgeantrag anzusehen – und deshalb sei vorliegend § 71 Abs. 7 AsylVfG anzuwenden - , da der Antragsteller bereits ein Asylverfahren betrieben habe.

Mit dieser schlichten (Rechts-)Behauptung werden die maßgeblichen Gründe, die das Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung zur Nichtanwendung des § 71 Abs. 7 Satz 1 AsylVfG dargelegt hat, nicht ausreichend in Frage gestellt (vgl. dazu § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat insoweit ausgeführt, dass die Regelungen des § 71 AsylVfG nur auf solche Folgeanträge anzuwenden seien, welche den Anforderungen des § 13 AsylVfG genügten. Nach Absatz 1 dieser Norm liegt ein Asylantrag vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Schutz vor politischer Verfolgung sucht oder dass er Schutz vor Abschiebung oder einer sonstigen Rückführung in einen Staat begehrt, in dem ihm die in § 60 Abs. 1 AufenthG bezeichneten Gefahren drohen. Nach Absatz 2 wird mit jedem Asylantrag sowohl die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als auch, wenn der Ausländer dies nicht ausdrücklich ablehnt, die Anerkennung als Asylberechtigter beantragt.

Hier ist jedoch unstreitig, dass der Antragsteller mit seinem Antrag vom 12. Oktober 2010 weder (unter Änderung der früheren Bescheide des Bundesamtes) die Anerkennung als Asylberechtigter noch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt hat. Den allein gestellten Antrag auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG wegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses (unzureichende Behandlungsmöglichkeit einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung) hat der Antragsteller im vorliegenden Fall nur deshalb beim Bundesamt anbringen müssen (als sogenannten isolierten Wiederaufgreifensantrag), weil diese Stelle im Rahmen eines früheren Asylverfahrens im Ablehnungsbescheid in Bezug auf den hier fraglichen Abschiebezielstaat Türkei – auch – festgestellt hatte, dass die Voraussetzungen des § 53 AuslG (jetzt § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) nicht vorlagen und weil diese Entscheidung die Ausländerbehörde nach § 42 Abs. 1 AsylVfG bindet. Aus dieser Entscheidungskompetenz des Bundesamtes folgt jedoch nicht, dass das auf die Feststellung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG beschränkte Begehren eines Ausländers, über das beim Fehlen einer (Erst-)Entscheidung betreffend den Zielstaat der angedrohten Abschiebung ansonsten die Ausländerbehörde zu entscheiden hat, als Asylantrag zu werten bzw. dass das durch den Antrag beim Bundesamt eingeleitete Verfahren als Asyl- bzw. Asylfolgeverfahren im Sinne von § 71 AsylVfG anzusehen ist (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 6.9.2006, 4 Bs 251/06, Beschlussausfertigung S. 6, 7).

Soweit die Antragsgegnerin im Zusammenhang mit der Frage ihrer Passivlegitimation noch vorträgt, sie sei auch nicht nach § 71 Abs. 7 Satz 2 AsylVfG zuständig, weil im vorliegenden Fall die Erteilung einer Duldung und nicht konkrete Abschiebemaßnahmen streitig seien, geht dieser Vortrag ins Leere. Denn das Verwaltungsgericht hat die örtliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin nicht anhand dieser Vorschrift bejaht, sondern für seine Rechtsansicht § 3 Abs. 2 Nr. 3a HmbVwVfG herangezogen und in diesem Zusammenhang insbesondere auf den bereits längerfristigen tatsächlichen Aufenthalt des Antragstellers in Hamburg abgestellt. Die Beschwerde macht aber weder geltend noch ist dies sonst ersichtlich, dass das Verwaltungsgericht das Vorliegen der Voraussetzungen für die örtliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin in Bezug auf die Entscheidung über das Duldungsbegehren nach § 3 Abs. 2 Nr. 3a HmbVwVfG zu Unrecht angenommen hat.

Die Beschwerde ist auch nicht begründet, soweit sich die Antragsgegnerin gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts wendet, der Antragsteller könne wegen eines inlandsbezogenen Abschiebungshindernisses im Sinne von § 60a Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 GG die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung beanspruchen. Insoweit macht die Beschwerde nur geltend, eine Retraumatisierung des Antragstellers sei vom Bundesamt angezweifelt worden und einer Suizidgefahr könne durch eine entsprechende Ausgestaltung der Abschiebung wie z.B. mit ärztlicher Begleitung begegnet werden. Mit diesem – allgemein gehaltenen - Vortrag wird nicht ausreichend belegt, dass das Verwaltungsgericht zu Unrecht einen Duldungsanspruch des Antragstellers bejaht hat.

Das Verwaltungsgericht hat bei seiner Entscheidung über das bei der Antragsgegnerin als Ausländerbehörde angebrachte Begehren auf vorläufige Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 AufenthG zu Recht nicht entscheidungserheblich auf Fragen einer möglichen Retraumatisierung des Antragstellers und einer insoweit in seinem Heimatstaat bestehenden Behandlungsmöglichkeit abgestellt. Es hat insoweit im angefochtenen Beschluss zutreffend ausgeführt, dass diese Fragen bei der – vom Bundesamt zu treffenden – Feststellung über das Vorliegen von zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen zu berücksichtigen seien. Das Verwaltungsgericht hat sich sodann ausdrücklich darauf beschränkt zu prüfen, ob im vorliegenden Fall wegen der psychischen Erkrankung des Antragstellers von einer erhöhten Suizidgefahr schon im Bundesgebiet für den Fall der Ablehnung des Antrags auf Aussetzung der Abschiebung bzw. bei Durchführung dieser aufenthaltsbeendenden Maßnahme auszugehen sei und ob aus diesen Gründen ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne von § 60a Abs. 2 AufenthG vorliege. Dies hat es unter ausführlicher Würdigung des Gutachtens der Diplom-Psychologin F. und des Facharztes für Psychiatrie und Neurologie Dr. B. vom 24. September 2010 bejaht. In diesem Zusammenhang hat sich das Verwaltungsgericht auch damit auseinander gesetzt, ob der Suizidgefahr durch eine entsprechende Ausgestaltung der Abschiebung des Antragstellers (Sicherheitsbegleitung durch die Bundespolizei, ärztliche Begleitung o.ä.) ausreichend begegnet werden könne. Diese Möglichkeit hat es sodann mit der Erwägung verneint, nach dem vorgelegten Gutachten müsse davon ausgegangen werden, dass sich das Selbsttötungsrisiko nicht erst durch den Abschiebungsvorgang selbst, sondern schon dann deutlich erhöhen werde, wenn die Abschiebung nicht vorläufig ausgesetzt und dem Antragsteller die begehrte Duldung nicht erteilt werde. Dass und aus welchen Gründen diese Annahme des Verwaltungsgerichts nicht zutreffend ist, wird mit der Beschwerde nicht dargelegt. [...]