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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 10.02.2011 - V ZB 49/10 - asyl.net: M18379
https://www.asyl.net/rsdb/M18379
Leitsatz:

Abschiebungshaft darf ohne das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderliche Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaft nicht angeordnet werden (Festhalten an dem Senatsbeschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 93/10, NVwZ 2010, 1574 f. [asyl.net, M18088]).

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Einvernehmen der Staatsanwaltschaft zur Abschiebung, Zustimmung, Staatsanwaltschaft, Haftantrag, Verhältnismäßigkeit, Beschleunigungsgebot, Ingewahrsamnahme,
Normen: AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1, GG Art. 2 Abs. 2 S. 2, FamFG § 417 Abs. 2 S. 2 Nr. 5, FamFG § 427
Auszüge:

[...]

1. Die Haft hätte schon deshalb nicht angeordnet werden dürfen, weil der Haftantrag unzulässig war.

a) Ob ein zulässiger Haftantrag vorliegt, ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (vgl. Senat, Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211; Beschluss vom 9. Dezember 2010 - V ZB 136/10, zur Veröffentlichung bestimmt; jeweils mwN). Zu den unerlässlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen gehört es nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG, dass die Antragsbegründung insbesondere Angaben zu den Voraussetzungen und zur Durchführbarkeit der Abschiebung enthält (Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, Rn. 8 f.). Diesen Anforderungen wird der gestellte Antrag nicht gerecht. Nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft ausgewiesen und abgeschoben werden. Fehlen in dem Haftantrag Ausführungen zu dem Einvernehmen, obwohl sich aus ihm selbst oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne weiteres ergibt, dass die öffentliche Klage erhoben worden ist oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren geführt wird, ist der Antrag unzulässig (Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, aaO). So verhält es sich hier.

b) Der Senat hält daran fest, dass Abschiebungshaft ohne das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderliche Einvernehmen nicht angeordnet werden darf (dazu Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 93/10, NVwZ 2010, 1574 f.; Beschluss vom 18. August 2010, V ZB 211/10, InfAuslR 2010, 440; Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, Rn. 22; krit. LG Hamburg, Beschluss vom 20. August 2010 - 329 T 71/10 u. 75/10). Die Gegenauffassung, wonach die Haft zur Sicherung der Abschiebung schon dann angeordnet werden darf, wenn die Prognose gerechtfertigt ist, das Einvernehmen werde innerhalb der Drei-Monats-Frist nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG erteilt (so etwa OLG Frankfurt, StV 2000, 377; OLG Düsseldorf, FGPrax 2001, 130; OLG Hamburg, InfAuslR 2006, 27, 28; OLG Saarbrücken, OLGR 2008, 63, 64; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 61. Aktual. Dezember 2008, § 62 AufenthG Rn. 110; aA wohl HK-Ausländerrecht/Hofmann [2008], § 72 AufenthG Rn. 34), wird dem hohen Rang des Freiheitsrechtes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht gerecht.

Die Inhaftierung eines Ausländers zum Zwecke seiner Abschiebung entspricht nur dann dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn der Abschiebung keine tatsächlichen oder rechtlichen Hindernisse entgegenstehen. Das ist indessen nicht der Fall, wenn die Abschiebung nicht durchgeführt werden darf, weil die Staatsanwaltschaft ihr nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG notwendiges Einvernehmen nicht erteilt hat (Senat, Beschluss vom 3. Februar 2011 - V ZB 224/10, zur Veröffentlichung bestimmt). Unwägbarkeiten im Hinblick auf Umstände, die zur Durchführung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme ausgeräumt werden müssen, können nur dann hingenommen werden, wenn sie von deutschen Behörden nicht beherrscht werden (vgl. Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 93/10, NVwZ 2010, 1574, 1575). So verhält es sich bei der Einholung des Einvernehmens nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG jedoch nicht. Ob die Staatsanwaltschaft ihr Einvernehmen erklärt, kann unschwer und in aller Regel auch umgehend - ggf. unter Einschaltung des staatsanwaltlichen Bereitschaftsdienstes - abgeklärt werden. Sollte dies ausnahmsweise nicht möglich sein, kommt unter strikter Beachtung des Beschleunigungsgebotes die Anordnung einer – kurzzeitigen – vorläufigen Ingewahrsamnahme nach § 427 FamFG in Betracht (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 10. Juni 2010 - V ZB 204/09, NVwZ 2010, 1172, 1174). Im Übrigen kann das Abschiebungsverfahren auch dadurch praktikabel ausgestaltet werden, dass die Staatsanwaltschaft für bestimmte Fallgruppen vorab ein generelles Einvernehmen erklärt (vgl. nur GK-AufenthG/Gutmann, aaO, § 72 Rn. 33) und dies von der antragstellenden Behörde in dem Haftantrag dargelegt wird (vgl. Senatsbeschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, Rn. 9).

c) Der hier zugrunde gelegten Rechtsauffassung steht schließlich nicht entgegen, dass das Bundesverwaltungsgericht die früher das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft regelnde Vorschrift des § 64 Abs. 3 AuslG aF als eine nicht dem Schutz des Ausländers dienende Bestimmung angesehen hat (so die nicht tragende Erwägung BVerwGE 106, 351, 356). Ob diesem Verständnis der Norm zu folgen ist, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn Gegenstand der Feststellung des Beschwerdegerichts nach § 62 Abs. 1 FamFG ist nicht die – einer Prüfung durch die Zivilgerichte ohnehin entzogene – Verletzung von Rechten des Ausländers durch die von der Ausländerbehörde verfügte Abschiebung (vgl. Senat, Beschluss vom 16. Dezember 2009 - V ZB 148/09, FGPrax 2010, 50 mwN), sondern allein die Rechtmäßigkeit des Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht des Ausländers nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch die von dem Richter angeordnete Inhaftierung (Senat, Beschluss vom 3. Februar 2011 - V ZB 224/10, zur Veröffentlichung bestimmt). Wie bereits oben dargelegt, ist diese jedoch nur dann verhältnismäßig, wenn das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft vorliegt. [...]