BGH

Merkliste
Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 03.02.2011 - V ZB 12/10 - asyl.net: M18380
https://www.asyl.net/rsdb/M18380
Leitsatz:

1. Bei Zweifeln über die Volljährigkeit ist eine persönliche Anhörung des Betroffenen unverzichtbar, auch in der Beschwerdeinstanz.

2. Wenn verwaltungsgerichtlicher Eilrechtsschutz gegen eine Abschiebung (bzw. Zurückschiebung im Dublin-Verfahren) beantragt worden ist, hat der Haftrichter den Stand des Eilverfahrens bei dem Verwaltungsgericht aufzuklären und bei seiner Prognoseentscheidung, ob eine Abschiebung innerhalb von drei Monaten möglich ist (§ 62 Abs. 2 S. 4 AufenthG), zu berücksichtigen. Bei Erfolgsaussichten des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens ist der Betroffene sofort zu entlassen.

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Zurückschiebung, Zurückschiebungshaft, Griechenland, Ungarn, Österreich, Niederlande, Drei-Monats-Frist, Prognose, effektiver Rechtsschutz, Dublin II-VO, Dublinverfahren, Altersfeststellung, minderjährig, Verhältnismäßigkeit, Anhörung
Normen: AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4, FamFG § 26, FamFG § 68 Abs. 3 S. 2
Auszüge:

[...]

1. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts verletzt den Betroffenen in seinen Rechten.

Das Beschwerdegericht hat nicht berücksichtigt, dass es dem Haftrichter bei der nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG erforderlichen Prognose, ob eine Abschiebung in den kommenden drei Monaten durchführbar erscheint, in Bezug auf mögliche Abschiebungshindernisse verwehrt ist, nur auf die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte zu verweisen. Zwar ist die Entscheidung, ob die Abschiebung des Betroffenen zu Recht betrieben wird, den Verwaltungsgerichten vorbehalten. Die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen den Verwaltungs- und den Zivilgerichten darf sich aber nicht zu Lasten des Betroffenen auswirken und einen effektiven Rechtsschutz verhindern. Ist über die Fortdauer der Abschiebungshaft eines Ausländers zu entscheiden, der - wie hier der Betroffene vor Erlass der Beschwerdeentscheidung - zur Verhinderung der Abschiebung einstweiligen Rechtsschutz bei den Verwaltungsgerichten beantragt hat, setzt eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG voraus, dass der Haftrichter den Stand und voraussichtlichen Fortgang des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aufklärt und bei seiner Entscheidung berücksichtigt (BVerfG NJW 2009, 2659, 2660; Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, NVwZ 2010, 726 Rn. 24).

Wäre das Beschwerdegericht dieser Verpflichtung nachgekommen, hätte es sich ihm aufgedrängt, dass das Verwaltungsgericht dem Eilantrag des Betroffenen stattgeben und dessen Zurückschiebung nach Griechenland aussetzen würde. Denn solchen Anträgen wurde bei Überstellungen nach Griechenland gemäß Art. 19 Dublin II-Verordnung angesichts der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 8. September 2009 (NVwZ 2009, 1281) und vom 23. September 2009 (2 BvQ 68/09 - juris) schon im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung regelmäßig stattgegeben (vgl. näher Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, aaO, Rn. 26 f.; Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 213/09, NVwZ 2010, 1510 Rn. 15). Dies hätte zur Aufhebung der Haftanordnung führen müssen (vgl. Senat, Beschluss vom 15. Juli 2010 - V ZB 10/10, juris Rn. 13; Beschluss vom 14. Oktober 2010 - V ZB 78/10, AuAS 2011, 8 Rn. 15; Beschluss vom 21. Oktober 2010 - V ZB 96/10, juris Rn. 16).

Hieran vermag der Hinweis des Beschwerdegerichts auf die im Jahr 2009 in Athen eingerichteten Kontaktstellen nichts zu ändern. Ob deshalb mit einer Änderung der verwaltungsgerichtlichen Praxis zu rechnen war, aufgrund derer eine Zurückweisung des Antrags des Betroffenen ernsthaft in Betracht gekommen wäre, hätte das Beschwerdegericht durch Rückfrage bei dem zuständigen Verwaltungsgericht klären müssen. Dass es dies unterlassen hat, verletzt § 26 FamFG. Tatsächlich ist es auch nicht zu einer Änderung der Verwaltungspraxis gekommen (vgl. VG Hannover, Beschluss vom 7. Januar 2010 - 7 B 6258/09, juris Rn. 25; NdsRPfl. 2010, 39; VG Leipzig, Beschluss vom 10. Februar 2010 - A 1 L 18/10, juris Rn. 7; VG Minden, Beschluss vom 17. Februar 2010 - 12 L 76/10.A, juris Rn. 17 ff.; VG Oldenburg, NVwZ 2010, 200, 201 ff.; anders VG München, Beschluss vom 14. Dezember 2009 - M 23 E 09.60092, juris Rn. 11 ff.).

2. Auch die Entscheidung des Amtsgerichts verletzt den Betroffenen in seinen Rechten.

a) Der Beschluss enthält keine Feststellungen zu dem Alter des Betroffenen, obwohl sich nach der aus dem Haftantrag übernommenen Angabe des Geburtsjahrs 1992 die Möglichkeit aufdrängte, dass dieser noch minderjährig war. Es kann auch nicht angenommen werden, dass das Amtsgericht die Minderjährigkeit des Betroffenen unterstellt hat. Denn die in diesem Fall erforderliche besondere Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Haftanordnung (vgl. Senat, Beschluss vom 29. September 2010 - V ZB 233/10, juris Rn. 9) ist unterblieben.

b) Der Fehler bei der Haftanordnung ist durch die im Beschwerdeverfahren getroffenen Feststellungen zu dem Alter des Betroffenen nicht geheilt worden. Hierzu war nämlich die persönliche Anhörung des Betroffenen unverzichtbar. Das Beschwerdegericht darf von der Ermächtigung in § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG keinen Gebrauch machen, wenn die Ermittlungen des Gerichts erster Instanz keine geeignete Grundlage für das weitere Verfahren bilden. Die Anhörung des Betroffenen - hier zu dessen Alter - muss in diesem Fall in der Beschwerdeinstanz durchgeführt werden, und zwar auch dann, wenn das Beschwerdegericht davon keine zusätzlichen Erkenntnisse erwartet (vgl. Senat, Beschluss vom 16. September 2010 - V ZB 120/10, FGPrax 2010, 290 Rn. 15). Das ist hier nicht geschehen. [...]