VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 09.02.2011 - 1 A 403/10 - asyl.net: M18385
https://www.asyl.net/rsdb/M18385
Leitsatz:

Wenn die syrischen Behörden im Rahmen des deutsch-syrischen Rückübernahmeabkommens nicht antworten, kann zwar deren Zustimmung fingiert werden. Daraus folgt jedoch nicht automatisch die Ausstellung von Passersatzpapieren und/oder die Durchführung einer Rückführung. Nach Ablauf von 18 Monaten ist grundsätzlich nicht mehr mit einer Reaktion der syrischen Behörden zu rechnen. Die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG ist daher zu verlängern.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Verlängerungsantrag, Unmöglichkeit der Ausreise, Syrien, deutsch-syrisches Rückübernahmeabkommen, Passersatz, staatenlos, Kurden, Ermessen, Sicherung des Lebensunterhalts, atypischer Ausnahmefall, Mitwirkungspflicht
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 25 Abs. 5 S. 3, AufenthG § 26 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 3, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 4, GG Art. 6, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

Der Anspruch der Kläger auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ergibt sich hier aus § 25 Abs. 5 AufenthG. Danach kann einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist; dies gilt allerdings nur, wenn der Ausländer unverschuldet an der Ausreise gehindert ist. Ein Verschulden des Ausländers liegt u.a. vor, wenn er zumutbare Anforderungen zur Beseitigung der Ausreisehindernisse nicht erfüllt.

Diese Tatbestandsvoraussetzungen liegen vor. Die Kläger sind vollziehbar ausreisepflichtig, nachdem die Beklagte die Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abgelehnt hat und der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz keinen Erfolg hatte (VG Hannover, Beschluss vom 01. April 2009, Az.: 2 B 920/09). Eine Ausreise der Kläger nach Syrien ist nicht möglich, ohne dass sie daran ein Verschulden trifft. Mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse ist auch unter Berücksichtigung des deutsch-syrischen Rückübernahmeabkommens in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Das. Nds. OVG hat zu dieser Frage ausgeführt (siehe Beschluss vom 08. Juli 2010, Az.: 2 LA 278/09):

"Die Ausreise ist aus tatsächlichen Gründen zum Beispiel unmöglich, wenn - abgesehen etwa von unterbrochenen Verkehrsverbindungen oder einer Transportunfähigkeit des Ausländers, die hier nicht vorliegen - ein Pass oder sonstige Reisedokumente nicht vorliegen und auf unabsehbare Zeit nicht beschafft werden können.(Burr, in: GK-AufenthG, § 25 Rdnr. 165,467 m.w.N.). Hiervon kann aber mit Blick auf das am 3. Januar 2009 (vgl. BGBl. II 8. 107) in Kraft getretene Deutsch-Syrische Rückführungsabkommen vom 25. Juli 2008 (BGBl. II, S. 811) nicht (mehr) ausgegangen werden. Dieses Rückführungsabkommen umfasst nach seinem Art. 2 gerade auch die Staatenlosen, die bisher nicht über ausreichende Rückreisedokumente verfügen. Nach der gegenwärtigen Sachlage ist daher entgegen der pauschalen Darstellung der Kläger in ihrem Zulassungsantrag, es sei fraglich, ob die syrischen Behörden auch unter Geltung des Rückführungsabkommens Papiere für "Maktumin" ausstellen, von der Bereitschaft Syriens zur Vertragserfüllung auszugehen, so dass auch aus Syrien stammende staatenlose Kurden ohne Ausweispapiere - wie die Kläger - erfolgreich nach Syrien zurückgeführt werden können (vgl. dazu Senat, Beschl. v. 17. 12.2009 - 2 PA 346/09 -)."

Das Gericht teilt die grundsätzliche Einschätzung, dass das Rückübernahmeabkommen - wenn auch zögerlich - jedoch auch für Personen, die nur im Ausländerregister eingetragen sind, greift. Gerade das Beispiel des Vaters und Bruders des Klägers zu 2), die Anfang Februar 2011 in Anwendung des Rückübernahmeabkommens nach Syrien abgeschoben worden sind, zeigt, dass für diesen Personenkreis Passersatzpapiere ausgestellt werden. Entsprechendes folgt auch aus der Statistik der 2010 erfolgten Rückführungen für das gesamte Bundesgebiet. Danach sind insgesamt 897 syrische Staatsangehörige und 314 Staatenlose/Drittstaatsangehörige angemeldet worden. Syrische Behörden haben Passersatzpapiere für 321 syrische Staatsangehörige und 49 Staatenlose/Drittstaatsangehörige ausgestellt. Letztlich haben die Ausländerbehörden 65 bzw. 2 Rückführungen vollzogen.

Das Gericht hält angesichts des gesetzgeberischen Willens, § 25 Abs. 5 AufenthG, als Instrument einzusetzen, Kettenduldungen zu vermeiden, eine Prüfung des Einzelfalles für erforderlich, ob der Grundsatz staatenlose Kurden, die im Ausländerregister registriert sind, könnten aufgrund des Rückführungsabkommens jederzeit ein Reisedokument erhalten, auch dann noch gilt, wenn die syrischen Behörden ohne erkennbaren Grund nach Ablauf einer erheblichen Zeit ab Eingang des Gesuchs nicht reagiert haben. Denn der Ausländer muss sich nach Ablauf eines gewissen Zeitraums nicht mehr auf die bloße Möglichkeit der Rückkehr nach Syrien verweisen lassen. Äußern sich die syrischen Behörden nicht, lässt das nur den Schluss zu, dass aus tatsächlichen Gründen doch eine Ausreise nicht möglich ist. Das Gericht hält es jedoch für angebracht, insoweit nicht von einer starren Frist auszugehen (so wohl VG Oldenburg, das von einem Zeitraum von zwei Jahren ausgeht, Urt. vom 10. September 2010, 11 A 1897/09, Rn. 37, zit. nach juris). Insoweit lässt sich auch aus dem Ablauf der Frist von 60 Tagen und dem Eintritt der Zustimmungsfiktion zur Übernahme nach Art. 3 Abs. 1 Sätze 1 und 2 des Übereinkommens noch nichts für die hierzu entscheidende Frage herleiten. Denn erstens folgen aus dem bloßen Fristablauf nicht automatisch die tatsächliche Ausstellung von Passersatzpapieren und/oder die Durchführung der Rückführung. Zweitens ist die Fristüberschreitung offenbar nach der o.g. Statistik für das Jahr 2010 mit 609 bzw. 254 Fällen eher der Regelfall. Angemessen ist es vielmehr, den Einzelfall in den Blick zu nehmen. Denn die Bearbeitungsfrist der syrischen Behörden hängt sicherlich von vielen Umständen ab, etwa von den zur Verfügung stehenden Arbeitskapazitäten für die Bearbeitung der Rückführungsersuchen oder dem Inhalt der vorgelegten Unterlagen oder der Einschätzung, ob - z.B. politische - Gründe gegen eine Rückkehr des Ausländers sprechen, ab. Nach den Erfahrungen des Gerichts aus den Verfahren des Vaters und Bruders des Kläger zu 2) lag bei etwa identischer Ausgangssituation der Zeitraum zwischen dem Ersuchen an die syrischen Behörden (Januar 2010) und der Ausstellung der Passersatzpapiere (Dezember 2010) bei knapp einem Jahr. In der Regel sollte daher das Verfahren zumindest nach 18 Monaten abgeschlossen sein. Nach Ablauf dieses Zeitraums ist vorbehaltlich erkennbarer Besonderheiten des Einzelfalls, etwa einer Zwischennachricht der syrischen Behörden oder der nachträglichen Vorlage weiterer Unterlagen wie Registerauszügen, Geburtsurkunden, Bescheinigungen oder Ausweiskarten durch deutsche Behörden aus der Nichtbescheidung des Rückführungsersuchens zu schließen, dass syrische Behörden keine Möglichkeit verschaffen werden, dem Ausländer die Rückkehr nach Syrien zu ermöglichen. Das Gericht hält darüber hinaus die Orientierung an 18 Monaten auch deshalb für angemessen, weil der Gesetzgeber in § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG nach Ablauf dieser Zeit auf der Rechtsfolgenseite aus der Kann-Regelung eine Soll-Regelung angeordnet hat. Wenn der Ausländer durch den Zeitablauf von 18 Monaten eine günstigere Rechtsposition erhalten soll, kann das als Auslegungshilfe für die hier zu entscheidende Frage herangezogen werden.

Darüber hinaus sind auch die öffentlichen Interessen nicht unangemessen hinten angestellt. Denn der Ausländerbehörde ist nach längstens sechs Monaten (vgl. § 26 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) eine erneute Prüfungsmöglichkeit eröffnet, ob die bei Erteilung der Aufenthaltserlaubnis angestellte Prognose, die Ausreise sei unmöglich, noch aufrecht erhalten bleiben kann. Darüber hinaus kann sie die Aufenthaltserlaubnis auch mit der auflösenden Bedingung versehen, dass ihre Rechtswirkungen erlöschen, sobald Passersatzpapiere vorliegen.

In Anwendung dieser Überlegungen ist für den Kläger zu 2) davon auszugehen, dass nach dem derzeitigen Erkenntnisstand seine Ausreise tatsächlich unmöglich ist. Denn seine Anmeldung zum Rückführungsabkommen erfolgte bereits im Juni 2009. Für seinen Vater und seinen Bruder lagen - wie bereits ausgeführt - innerhalb eines Jahres Passersatzpapiere vor. Anhaltspunkte für Besonderheiten, die eine Verlängerung der Bearbeitungsfrist rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Nach Ablauf von nunmehr über 18 Monaten ist nicht mehr mit einer Reaktion der syrischen Behörden zu rechnen. Schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass der Kläger zu 2) im März auch außerhalb des Rückführungsabkommens ein Laissez-passer beantragt hat, ohne dass - trotz Erinnerung - eine Antwort der syrischen Seite erfolgte. Es ist auch nicht in absehbarer Zeit mit dem Wegfall des Hindernisses zu rechnen. [...]

Der Kläger zu 2) hat einen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, auch wenn die Entscheidung im Ermessen der Ausländerbehörde steht. Es gibt nämlich keinen Gesichtspunkt, der es rechtfertigen könnte, diese in seinem Falle abzulehnen. Insbesondere steht auch nicht das Fehlen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis entgegen, auch wenn der Lebensunterhalt des Klägers und seiner Familie derzeit nicht durch seine Erwerbstätigkeit gesichert ist. Der Terminsvertreter des Beklagten hat in der mündlichen Verhandlung zu Recht darauf hingewiesen, dass dem Kläger zu 2) dieser Gesichtspunkt nicht entgegengehalten werden kann. Denn er war bisher wegen der fehlenden Beschäftigungserlaubnis nicht in der Lage, durch Arbeit den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Der Beklagte wurde in dem Verfahren 1 A 410/10 erst verpflichtet, dem Kläger die Beschäftigungserlaubnis zu erteilen.

Das Nichterfüllen der Passpflicht nach § 3 AufenthG (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) kann dem Kläger zu 2) nicht entgegengehalten werden., weil er nach den oben getroffenen Feststellungen gar nicht in der Lage ist, der Passpflicht nachzukommen.

Besitzt der Kläger zu 2) nach den vorstehenden Ausführungen einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, löst das auch für seine minderjährigen Kinder, die Kläger zu 3) bis 5) den Anspruch nach § 25 Abs. 5 AufenthG aus. Denn insoweit besteht ein rechtliches Ausreisehindernis. Eine Ausreise und Abschiebung ist aus rechtlichen Gründen dann unmöglich, wenn ihr rechtliche Hindernisse entgegenstehen, welche die Ausreise ausschließen oder jedenfalls unzumutbar machen. Ein derartiges rechtliches Ausreisehindernis kann sich - abgesehen von zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG, die hier nicht geltend gemacht werden - aus inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen ergeben. Zu den inlandsbezogenen Abschiebungsverboten zählen auch die Verbote, die aus Verfassungsrecht (etwa nach Art. 6 Abs. 1 oder Art. 2 Abs. 1 GG) oder aus Völkervertragsrecht (etwa aus Art. 8 EMRK) in Bezug auf das Inland herzuleiten sind (BVerwG, Urt. v. 27. Juni 2006 -. BVerwG 1 C 14.05 -, BVerwGE 126, 192, 197; Bayerischer VGH, Beschl. v. 21. Dezember 2009 - 19 C 09.1723 -, juris, Rdnr. 6). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Schutzwürdige Belange wegen des Familienlebens (Art. 6 Abs. 1 GG/Art 8 Abs. 1 EMRK) liegen hier im Hinblick auf die erforderlichen Betreuungsleistungen des Klägers zu 2) für die minderjährigen Kinder vor. (Ermessens-)Gründe, die den Anspruch entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich.

Für die Klägerin zu 1) gelten die vorstehenden Ausführungen zu den Klägern zu 3) bis 5) entsprechend. Auch ihr steht ein Anspruch aus § 25 Abs. 5 AufenthG auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu. Dem steht nicht das Fehlen allgemeiner Erteilungsvoraussetzungen wie der Passpflicht oder der Sicherung des Lebensunterhalts entgegen.

Die Klägerin zu 1) erfüllt derzeit nicht die Passpflicht. Denn als syrische Staatsangehörige ist sie nicht gehindert, entsprechende Dokumente zu erlangen. Es liegt jedoch ein Ausnahmefall von der Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 3 AufenthG vor. Der Zweck der Passpflicht besteht darin, durch den Besitz eines gültigen Passes, den Behörden die Feststellung der Identität und der Staatsangehörigkeit sowie der Rückkehrberechtigung seines Inhabers ohne weiteres zu ermöglichen (Nr. 3.0.8 der allgemeinen Verwaltungsvorschrift vom 26. Oktober 2009). Die Klägerin zu 1) hat nach derzeitigen Erkenntnissen alle erforderlichen Mitwirkungshandlungen für die Ausstellung eines Reisepasses vorgenommen. Ihr kann daher die Dauer des Verfahrens durch die Heimatbehörden in Passangelegenheiten nicht zur Last gelegt werden (vgl. GK-AufenthG, § 5 Rn. 58). Im Übrigen sind auch wesentliche Funktionen der Passpflicht hinreichend abgedeckt werden. So ist insbesondere die syrische Staatsangehörigkeit der Klägerin zu 1) nach den nunmehr vorliegenden Unterlagen unzweifelhaft.

Der Klägerin zu 1) kann ferner nicht die fehlende Sicherung des Lebensunterhalts durch Erwerbstätigkeit entgegengehalten werden (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) fehlt. Hier liegt jedoch ein atypischer Fall vor, weil die Verlängerung des Aufenthaltstitels aus Gründen höherrangigen Rechts (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK) geboten ist (BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, Az.: 1 C 3.08, InfAuslR 2009, 333 m.w.N). Die Herstellung der Lebensgemeinschaft der Klägerin zu 1) dem Kläger zu 2) und den Klägern zu 3) bis 5) ist nämlich im Herkunftsland nicht möglich. Für die Klägerin zu 1) ist - wie ausgeführt - eine Rückkehr nach Syrien rechtlich nicht möglich. Die Kläger zu 2) bis 5) haben einen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Ferner ist ihr nach der Geburt einer Tochter im Dezember 2010 aufgrund der zu erbringenden Betreuungsleistungen eine Erwerbstätigkeit nicht zumutbar. Ermessensgründe, die einer Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich. [...]