VG Stuttgart

Merkliste
Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 15.03.2011 - A 11 K 2877/10 - asyl.net: M18390
https://www.asyl.net/rsdb/M18390
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung nach Konversion vom Islam zum Christentum (Iran).

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Iran, Konvertiten, Christen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat jedoch Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG, weshalb Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids aufzuheben und die entsprechende Verpflichtung der Beklagten auszusprechen war. [...]

Nach der dem Gericht zur Verfügung stehenden einheitlichen Auskunftslage leben die Muslime im Iran mit den Angehörigen der drei weiteren durch die Verfassung anerkannten Religionsgemeinschaften (unter anderem den Christen) im Wesentlichen friedlich nebeneinander. Mitglieder solcher religiöser Minderheiten, denen zum Christentum konvertierte Muslime angehören, können aber staatlichen Repressionen ausgesetzt sein. Dies gilt insbesondere für alle missionierenden Christen. Es kommt aber nach der Einschätzung des Auswärtigen Amts auch vor, dass nicht missionierende, zum Christentum konvertierte Iraner bis hin zur Ausgrenzung benachteiligt werden (vgl. AA, Lageberichte vom 21.09.2006, 27.02.2011 und vom 18.03.2008). Eine noch erheblichere Gefährdung als das Auswärtige Amt sieht die Schweizerische Flüchtlingshilfe im Bericht vom 18.10.2005. Danach sind Konvertiten einer erhöhten Gefährdungssituation ausgesetzt. Grund hierfür sei die Vermutung der Behörden, mit der Konversion gehe eine regimekritische Handlung einher. Berichten zufolge wurden Konvertiten, sobald ihr Übertritt durch die Betätigung dieses Glaubens den Behörden bekannt wurde, zum Informationsministerium zitiert, wo sie wegen ihres Verhaltens scharf verwarnt wurden. Sollten sie weiterhin in der Öffentlichkeit auffallen, beispielsweise durch Besuche von Gottesdiensten, Missionsaktivitäten, etc. könnten sie je nach Belieben von den iranischen Behörden mit Hilfe konstruierter Vorwürfe wie Spionage, Aktivitäten in illegalen Gruppen oder aus anderen Gründen vor Gericht gestellt werden. Dabei wird hervorgehoben, dass die Verfolgung eines Konvertiten durch den iranischen Staat in großem Ausmaß von seinem Verhalten in der Öffentlichkeit abhängt. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe beruft sich bei ihrer Beurteilung der Gefährdungslage in erster Linie auf die Stellungnahmen und Auskünfte des Deutschen Orientinstituts (vgl. z.B. vom 22.11.2004 an das Verwaltungsgericht Kassel). Diesen Auskünften ist zusammenfassend zu entnehmen, dass Apostaten im Falle ihrer öffentlichen christlichen Glaubensbetätigung im Iran einer erheblichen Gefährdung ausgesetzt sind. Eine Gefährdung bestünde nur dann nicht, wenn religiöse Handlungen in privaten Räumen in der Weise vorgenommen würden, dass hiervon niemand etwas erfahre. Soweit allerdings über diesen privaten Bereich hinausgegangen werde, sei es wahrscheinlich, dass iranische Sicherheitskräfte in der Glaubensbetätigung eine verbotene oppositionelle Aktivität unter dem Deckmantel der Religion vermuteten. Seit der Wahl Ahmadinedschads im Juni 2005 hat sich die Situation für Christen verschlechtert, denn es sind weitere Verfolgungen von Konvertiten bekannt geworden. Diese für Apostaten und Christen im Iran verschärfte Situation kommt auch darin zum Ausdruck, dass der Iran in den Jahren 2006 und 2007 an dritter Stelle auf dem Weltverfolgungsindex des Christlichen Hilfswerks "Open Doors" stand (vgl. AA, Lagebericht vom 24.03.2006). Die fast einstimmige Abstimmung hinsichtlich eines Gesetzes über die Todesstrafe für Apostaten im Herbst 2008 spricht ebenfalls eine eindeutige Sprache (vgl. hierzu auch den Lagebericht des AA vom 19.11.2009). Nach dieser Auskunftslage steht jedenfalls fest, dass konvertierte Muslime bei einer Rückkehr in den Iran nicht an religiösen Riten teilnehmen, insbesondere christliche Gottesdienste nicht besuchen können, ohne sich der Gefahr auszusetzen, festgenommen und möglicherweise unter konstruierten Vorwürfen zu Haftstrafen verurteilt zu werden. Dies gilt erst recht, wenn sie in der Öffentlichkeit missionierend tätig sind (vgl. hierzu zum Beispiel: VGH Kassel, Urteil vom 18.11.2009 - 6 A 2105/08.A - <juris>; OVG Münster Beschluss vom 30.07.2009 - 5 A 982/07.A - <juris>; OVG Bautzen, Urteil vom 03.04.2008 - A 2 B 36/06 - <juris>).

Das Gericht hat keinen Zweifel an der Entschlossenheit des Klägers, sein Leben als Christ zu führen und dies nach außen kundzutun - auch im Iran. Damit geriete der Kläger bei einer Rückkehr in den Iran in eine ausweglose Lage. Eine Rückkehr ist ihm nicht zumutbar. Aufgrund der nicht berechenbaren Verhaltensweisen der iranischen Stellen ist zumindest bei einer offenen Darstellung des Glaubensübertritts sowie im Falle einer nicht verheimlichten Religionsausübung jedenfalls in einer beträchtlichen Anzahl der Fälle mit der Einleitung von Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass im Iran Folter bei Verhören, Untersuchungs- und in regulärer Haft vorkommt. Hieran gemessen hat der Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG relevanten Verfolgungsmaßnahmen seitens des iranischen Staates in Anknüpfung an seinen Übertritt vom Islam zum Christentum zu rechnen. [...]