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LSG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.01.2010 - L 25 AS 1831/09 B ER - asyl.net: M18397
https://www.asyl.net/rsdb/M18397
Leitsatz:

Vorläufiger Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II für Unionsbürger. Der Senat hält es nach wie vor für problematisch, ob und unter welchen Voraussetzungen der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II auf einen Unionsbürger überhaupt Anwendung finden darf. Offen ist auch, ob ein Leistungsanspruch nach dem Europäischen Fürsorgeabkommen besteht.

Schlagwörter: SGB II, Unionsbürger, Ausschlussgrund, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, Europäisches Fürsorgeabkommen, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, FreizügG/EU § 2 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 16. September 2009, mit der er bei verständiger Auslegung seiner Ausführungen begehrt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm vorläufig für die Zeit ab Eingang seines Antrags beim Sozialgericht (7. August 2009) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich Kosten der Unterkunft und Heizung nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) bis zur (rechtskräftigen) Entscheidung in der Hauptsache zu zahlen, ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig, in der Sache jedoch nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der angegriffene Beschluss ist unzutreffend, soweit dem Antragsteller hiermit die ihm nunmehr zuerkannten Leistungen versagt worden sind. [...]

Anders als das Sozialgericht hält es der Senat jedoch nach wie vor für problematisch, ob und unter welchen konkreten Voraussetzungen die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf einen Unionsbürger überhaupt Anwendung finden darf (vgl. hierzu: Hessisches Landessozialgericht – LSG –, Beschluss vom 14. Oktober 2009 – L 7 AS 166/09 B ER –, LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29. September 2009 – L 15 AS 905/09 B ER – und LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 8. Juni 2009 – L 34 AS 790/09 B ER –, die unter Hinweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 4. Juni 2009 – C-22/08 und 23-08 – einen Ausschuss jedenfalls dann für europarechtskonform erachten, wenn keine Verbindung des Unionsbürgers zum deutschen Arbeitsmarkt besteht; vgl. ferner zum Meinungsstreit: Bayerisches LSG, Beschluss vom 4. Mai 2009 – L 16 AS 130/09 B ER –, LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. November 2008 – L 5 B 801/08 AS ER – und Beschluss vom 30. Mai 2008 – L 14 B 282/08 AS ER – sowie LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14. Januar 2008 – L 8 SO 88/07 ER –). Angesichts der Schwierigkeit und der Komplexität muss die Klärung dieser Fragen jedoch dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben, weil sie den Charakter des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens sprengen würde.

Ob sich ein Anspruch auf die dem Antragsteller nunmehr zuerkannten Leistungen aus dem von der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich ratifizierten Europäischen Fürsorgeabkommen vom 11. Dezember 1953 (BGBl. 1956, Teil II S. 563) in der Fassung des Gesetzes vom 20. September 2001 (BGBl. 2001, Teil II S. 1086) herleiten lässt (in diesem Sinne: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 6. Mai 2009 – L 20 B 15/09 AS ER –, LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14. Januar 2008 – L 8 SO88/07 ER –, LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. Mai 2008 L 14 B 282/08 AS ER –; a. A.: Bayrisches LSG, Beschluss vom 4. Mai 2009 – L 16 AS 130/09 B ER –; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. November 2008 – L 5 B 801/08 AS ER –), kann aus Sicht des Senats im Rahmen des hier nur anhängigen vorläufigen Rechtsschutzverfahrens ebenfalls noch nicht entschieden werden, weil auch diese Frage einer eingehenden Prüfung bedarf. Auch ihre Klärung muss deshalb dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

Lässt sich aber in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren, das Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts betrifft, die Sach- und Rechtslage nicht abschließend beurteilen, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) der Fall im Lichte des sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Gebots effektiven Rechtsschutzes auf der Grundlage einer Folgenabwägung zu entscheiden, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat und stattdessen die Folgen abzuwägen sind, die eintreten würden, wenn die begehrte Anordnung nicht erginge, der Rechtsschutzsuchende im Hauptsacheverfahren aber obsiegen würde, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die Anordnung erlassen würde, der Rechtsschutzsuchende im Hauptsacheverfahren indes keinen Erfolg hätte (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 –, zitiert nach juris). Diese Folgenabwägung fällt im vorliegenden Fall zu Gunsten des Antragstellers aus, weil ihm bei einer Ablehnung seines Antrags existenzielle Nachteile drohen, die er aus eigener Kraft nicht imstande ist von sich abzuwenden. Diesen Nachteilen stehen auf der Seite des Antragsgegners lediglich finanzielle Interessen gegenüber, die sich in einem für ihn überschaubaren Rahmen halten und dementsprechend hinter den dem Antragsteller drohenden Nachteilen zurückzutreten haben. [...]