VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 10.03.2010 - A 8 K 1117/09 - asyl.net: M18446
https://www.asyl.net/rsdb/M18446
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen HIV-Infektion und chronischer Hepatitis C (Kamerun).

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Abschiebungsverbot, Kamerun, HIV/AIDS, Krankheit, Hepatitis C, allgemeine Gefahr, Sperrwirkung, extreme Gefahrenlage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 3
Auszüge:

[...]

Nach diesen Maßstäben besteht für die Klägerin auf Grund ihrer HIV-Infektion und chronischen Hepatitis C eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und/oder Leben, weil nach den besonderen Umständen ihres Falles beachtlich wahrscheinlich ist, dass es bei einer Rückkehr nach Kamerun in naher Zukunft zu einer schwerwiegenden und wesentlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes kommt. [...]

Ausgehend von der Unterteilung der HIV-Erkrankung nach der anerkannten internationalen CDC-Klassifikation in drei klinische Kategorien - A, B, C - und einer zusätzlichen Einteilung in drei Laborkategorien - 1 , 2, 3 -, befindet sich die HIV- Infektion der Klägerin ausweislich der aktuellen ärztlichen Bescheinigung von Dr. ... vom 03.03.2010 im Stadium A 3. Während die klinische Kategorie A das asymptomatische Stadium der HIV- Infektion bezeichnet, wird die klinische Kategorie C auf Grund des schweren Immundefekts von den AIDS-definierenden Erkrankungen, von lebensbedrohenden opportunistischen Infektionen und malignen Erkrankungen gekennzeichnet. Das symptomfreie Stadium der HIV-Infektion kann Monate bis viele Jahre dauern. Bei einer HIV-Infektion der klinischen Kategorie B fehlt es noch an den die AIDS- Erkrankung definierenden Erkrankungen, gleichwohl können in diesem Stadium sog. assoziierte Erkrankungen, d.h. Erkrankungen, die auf eine Störung der zellulären Immunität hinweisen, auftreten. Die Laborkategorien werden nach der Anzahl der T- Helferzellen, den sog. CD4-Zellen oder CD4-Lymphozyten, im Blut eingeteilt (für die CD4-Zellen gelten folgenden Kategorien: 1: > 500/?l, 2: 200-499/?l, 3: <200/?l). Sie geben Auskunft über das Maß der Zerstörung des Immunsystems, wobei im Stadium 1 von einem wünschenswerten Normalzustand und im Stadium 3 von einem schweren Immundefekt auszugehen ist.

Bei der Klägerin, bei der nach der ärztlichen Bescheinigung vom 03.03.2010 wegen der Verschlechterung der Immunkompetenz mit drohendem Ausbruch von AIDS-assoziierten Komplikationen im Jahr 2004 mit einer HAART begonnen wurde und die an einer HIV-Infektion derzeit im Stadium A 3 leidet, liegt die Zahl der CD4-Zellen zwischen 200 und 300/?l und damit konstant unter 500/?l. Aktuell wird sie mit Truvada (1/0/0/0), Kaletra (2/0/2/0) sowie Cotrimoxazol (1 Tbl. Mo/Mi/Fr) behandelt. Die bisherige Entwicklung der HIV-Infektion der Klägerin, die sich nicht mehr im Anfangsstadium befindet, erfordert eine lebenslange virushemmende Therapie ohne Unterbrechung, begleitet von regelmäßigen medizinischen Kontrolluntersuchungen im Abstand von drei Monaten zur Überprüfung des Immunsystems, der Virusbelastung und etwaiger Resistenzbildungen. Es ist gerichtsbekannt, dass es sich bei einer HIV-Infektion um eine lebenslange persistierende Infektion handelt, die, wenn sie unbehandelt bleibt, zu einem kontinuierlichen Absinken der CD4-Helferzellen führt und im Durchschnitt nach 9 - 11 Jahren nach der Erstinfektion zwangsläufig zu einem schweren Immundefekt mit den i.d.R. AIDS-definierenden Erkrankungen führt (s.o. Klassifikation CDC 3). Vor diesem Hintergrund ist die Klägerin dauerhaft auf eine antiretrovirale Therapie angewiesen, auch wenn sich ihr Immunsystem derzeit auf Grund der Kombinationstherapie wohl stabilisiert hat. Ein Abbruch der begonnenen antiretroviralen Therapie würde dazu führen, dass innerhalb weniger Wochen wieder der Ausgangsstatus vor Behandlungsbeginn erreicht würde, d.h. die Virusbelastung auf das Ausgangsniveau ansteigen und das Immunsystem sich wieder bedrohlich verschlechtern würde. Hinzu kommt, dass die Klägerin zudem an einer chronischen Hepatitis C leidet, die nach den Ausführungen von Dr. ... in der ärztlichen Bescheinigung vom 03.03.2010 im Jahr 2008 erfolglos behandelt wurde. Bei einer Co-Infektion mit dem Hepatitis-C-Virus, so Dr. ..., steigt statistisch die Mortalität deutlich an, bedingt durch Komplikationen vor allem der Leber. Die Klägerin ist auf eine ununterbrochene und konsequente virushemmende Therapie mit derzeit drei Kombinationspräparaten angewiesen, die täglich bzw. dreimal wöchentlich eingenommen werden müssen. Bereits das Weglassen einzelner Medikamentendosen und erst recht eine Therapieunterbrechung für einzelne Tage können zu einem Wirkungsverlust der Medikamente bzw. Resistenzbildungen führen (vgl. dazu im Übrigen auch Leitlinien zur antiretroviralen Therapie der HIV-Infektion, Deutsch-Österreichische Empfehlung, Stand: September 2008, über das Robert-Koch-Institut, www.rki.de). Ebenso kann die Verzögerung eines evtl. notwendigen Therapiewechsels Nachteile für die gesamte Behandlung bewirken. Durch das Auftreten von Resistenzen gegenüber den eingesetzten wirksamen Medikamenten können sich sog. Kreuzresistenzen gegen bisher noch nicht eingesetzte Medikamente entwickeln, die nach bisherigen Erkenntnisstand irreversibel im Viruspool der Körpers gespeichert werden. Durch ein frühzeitiges Erkennen von Resistenzen und entsprechenden frühzeitigen Therapiewechsel kann der Entwicklung von mehrfachresistenten Viren vorgebeugt werden.

Der Klägerin ist es nicht möglich, eine ununterbrochene Fortsetzung der allein lebenserhaltenen antiretroviralen Therapie in Kamerun dauerhaft sicherzustellen (vgl. auch für den Fall einer HIV-Infektion im Stadium CDC A 2 : VG Düsseldorf, Urteil vom 22.05.2007 - 3 K 5382/06.A -; Stadium CDC C 3: VG Göttingen, Urteil vom 02.04.2008 - 3 A 462/07 -; a.A. für eine HIV-Infektion im Stadium CDC A 2 mit Therapiebeginn: VG Münster, Urteil vom 28.01.2008 - 9 K 45/06.A -; im Stadium CDC A 1: VG Karlsruhe, Urteil vom 08.08. 2006 - 8 K 10097/05 -; alle Entscheidung in juris).

Zwar besteht nach der derzeitigen Auskunftslage in Kamerun grundsätzlich die Möglichkeit, eine antiretrovirale Therapie (ART) zu beginnen bzw. eine im Ausland begonnen Therapie in Kamerun weiterzuführen. Seit März 2006 gibt es in Kamerun einen nationalen Strategieplan für die Zeit von 2006 - 2010, wonach bis zum Jahr 2010 75 % der Erwachsenen und 100 % der Kinder, die ART benötigen, kostenlosen Zugang erhalten sollen. Als Teil dieses Strategieplans sind seit Mai 2007 grundsätzlich die Behandlungskosten und Medikamente im nationalen HIV/AIDS-Programm, zu dem jedermann Zugang hat, frei. Bei der Registrierung wird einmalig eine Gebühr von 3.000 CFA (fester Wechselkurs: 1 EUR = 655,957 CFA) erhoben. Seit Mai 2007 wird ART landesweit kostenlos und in öffentlichen und akkreditierten privaten Krankenhäusern, aber auch von kirchlichen Anbietern zur Verfügung gestellt. [...]

Jedoch sind die Angaben zur Finanzierung des nationalen HIV/AIDS-Programms widersprüchlich. Zusammenfassend kann aber davon ausgegangen werden, dass jedenfalls die sog. "First-Line-Medikamente" in Kamerun kostenlos abgegeben werden. Allerdings müssen alle Laboruntersuchungen (etwa zur Bestimmung der CD4-Zellen, der Viruslast, etc.) von den Patienten selbst bezahlt werden. [...] Auch die Medikamente zur Behandlung der opportunistischen Infektionen sind nicht kostenlos. Nach der Auskunftslage führen die im Land bestehende Korruption im Gesundheitswesen, die Überlastung des medizinischen Personals und deren schlechter Bezahlung zu ernsthaften Probleme bei der Umsetzung des staatlichen Programms. Auch sind die Versorgungseinrichtung nicht ausreichend dezentralisiert, so dass Patienten in ländlichen Gebieten oftmals auf Transporte angewiesen sind und zusätzlich bis zu 15.000 CFA Transportkosten tragen, sowie längere Reisen bewältigen müssen. Wichtigste Hindernisse zum Zugang der Behandlung sind u.a. mithin, die hohen Kosten der Diagnoseuntersuchungen und Mangel an leistbaren und geeigneten Transportmöglichkeiten zu den Behandlungszentren (vgl. Bundesamt, Kamerun/Gesundheitswesen, Juli 2008, S.5 ff; SFH, Kamerun: Behandlungsmöglichkeiten von HIV/AIDS, Auskunft vom 22. Mai 2008; Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research (ACCORD), Behandlungsmöglichkeiten für HIV/AIDS und Hepatitis B/C, Auskunft vom 30.01. 2008). Soweit HlV-infizierte Personen Resistenzen gegen ihre Medikamente entwickeln, sind sie oftmals auf teurere, in Kamerun nicht erhältliche Medikamente angewiesen (vgl. Bundesamt; Kamerun/Gesundheitswesen, Juli 2008, S.7).

Abgesehen davon würde es der Klägerin nicht gelingen, über das nationale HIV/AIDS-Programm die derzeit neben Cotrimoxazol verabreichten Medikamente Truvada und Kaletra oder Medikamente mit deren Wirkstoff zu erhalten. Nach Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik in Jaunde vom 27.09.2005 an das VG Stuttgart ist das Kombi-Präparat Truvada nicht in Kamerun erhältlich. Ebenso verhält es sich mit dem der Klägerin verordneten Medikament Kaletra, bestehend aus den Wirkstoffen Lopinavir und Ritonavir. Diese Wirkstoffe sind in Kamerun nicht verfügbar (Bundesamt, Kamerun/Gesundheitswesen, Juli 2008, S. 9; vgl. SFH, Kamerun; Behandlungsmöglichkeiten von HIV/AIDS, Auskunft vom 22.05.2008). Die Klägerin würde somit bei einer Rückkehr nach Kamerun die notwendige Therapie nicht effektiv fortsetzen können. Ihr Immunstatus würde sich binnen weniger Monate massiv verschlechtern und der Ausbruch von AIDS alsbald drohen (vgl. auch VG Potsdam, Urteil vom 20.08.2004 - 14 K 714/02.A -juris, Stadium A 3). Darüber hinaus ist auch nicht erkennbar, dass sich die Klägerin die zwingend notwendigen Kontrollen, ggfs. die Transportkosten zu den Behandlungszentren und die individuellen Medikamente würde überhaupt finanziell leisten können. Auch wenn der Vortrag der Klägerin zur Höhe ihres in Kamerun erzielten monatlichen Einkommen im Laufe der Verfahren wechselte, so ist ihr doch abzunehmen, dass sie im Heimatland nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügen würde, um sich die notwendige Behandlung zu sichern. Vor ihrer Ausreise hat die Klägerin zwar als Schneiderin und Frisörin gearbeitet und nebenher noch ein Geschäft gehabt. Im Hinblick darauf, dass die Klägerin bereits im August 1999 ihr Heimatland verlassen hat, wird ihr jedenfalls das Geschäft nicht mehr zur Verfügung stehen. Im Übrigen haben HlV-lnfizierte, deren Krankheit bekannt ist, in Kamerun große Schwierigkeiten, eine Arbeit zu finden. Arbeitgeber lassen zudem ohne Einverständnis der Angestellten HIV/AIDS-Tests durchführen und entlassen ihre Arbeitnehmer im Falle einer HIV-Erkrankung (vgl. Bundesamt, Kamerun/Gesundheitswesen, Juli 2008, S.11 ff; SFH, Kamerun: Behandlungsmöglichkeiten von HIV/AIDS, Auskunft vom 22.05. 2008). HlV-lnfizierte in Kamerun sind häufig isoliert und von der Gesellschaft ausgegrenzt. Staatliche Unterstützung in sozialer Not gibt es in Kamerun nicht. Eintretende Notlagen müssen in der Regel von funktionierenden sozialen Netzen (Großfamilie) aufgefangen werden. Familiäre Bindungen im Heimatland bestehen jedoch bei der Klägerin (bis auf einen Sohn, dessen Aufenthaltsort sie nicht kennt) nicht. Im Ergebnis ist deshalb davon auszugehen, dass es bei der Klägerin auf Grund der bei ihr gegebenen individuellen Besonderheiten bei einem Absetzen der notwendigen Medikation alsbald zu einer lebensgefährlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes kommen würde und deshalb die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1AufenthG im Bezug auf Kamerun vorliegen. [...]