VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 29.11.2010 - 11 K 1763/10 - asyl.net: M18455
https://www.asyl.net/rsdb/M18455
Leitsatz:

[...]

2. Die Aufnahme einer Organisation in die EU-Terrorliste besagt nur, dass diese nach Auffassung des Europäischen Rats auch noch gegenwärtig eine terroristische Organisation ist. Auch wenn einer solchen Feststellung nicht unerhebliches Gewicht zukommt, ist dieser Umstand gleichwohl nicht geeignet, eine eigenständige Prüfung seitens der Gerichte und Behörden anhand der vorliegenden Erkenntnismittel entbehrlich zu machen. Eine Bindungswirkung der EU-Terrorliste für deutsche Gerichte und Behörden besteht nicht.

3. Ein strafrechtliches Verhalten, das nicht zu einer Verurteilung geführt hat und nicht mehr zu einer Verurteilung führen kann, kann nicht mehr berücksichtigt werden, wenn die Verfehlung länger zurückliegt und im Falle einer Verurteilung aller Voraussicht nach bereits Tilgungsreife eingetreten wäre.

4. Die Angaben einer Gewährsperson des Landesamts für Verfassungsschutz genügen regelmäßig nicht, wenn sie nicht durch andere wichtige Gesichtspunkte gestützt oder bestätigt werden.

5. Liegen lediglich Verbindungen und Kontakte zu einer Organisation, die den Terrorismus unterstützt oder selbst terroristisch handelt, oder zu deren Mitgliedern vor, ohne dass der Ausländer auch als Nichtmitglied durch sein Engagement eine innere Nähe und Verbundenheit zu dieser Vereinigung selbst zum Ausdruck bringt, fehlt es an einer Unterstützung im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG.

6. Bei der Beurteilung einer gegenwärtigen Gefährlichkeit i.S.d. § 54 Nr. 5 AufenthG kommt der allgemeinen Entwicklung des Ausländers in den letzten Jahren maßgebliche Bedeutung zu insbesondere der Einbindung und Vernetzung des Ausländers in die Vereinigung, die den Terrorismus unterstützt oder selbst terroristisch handelt.

7. Ob eine Angabe falsch oder unvollständig i.S.d. § 54 Nr. 6 AufenthG ist, richtet sich nach dem Erkenntnis- und Verständnishorizont des Ausländers. Bloß objektiv falsche Angaben sind nicht tatbestandsmäßig.

8. Eine gesetzlich angeordnete Rechtspflicht, an einer Sicherheitsbefragung aktiv teilzunehmen, gibt es nicht. Ist aber die Teilnahme an einem Sicherheitsgespräch freiwillig, so setzt eine Ausweisung nach § 54 Nr. 6 AufenthG auch voraus, dass der Ausländer vor Beginn des Sicherheitsgesprächs auf diese Freiwilligkeit hingewiesen wird.

9. Droht einem Familienmitglied im Herkunftsland flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung, so ist diesem ein Verlassen des Bundesgebiets nicht zumutbar. Infolgedessen kann die eheliche/familiäre Lebensgemeinschaft nur in Deutschland gelebt werden.

(Aus den amtlichen Leitsätzen)

Schlagwörter: Ausweisung, Türkei, PKK, EU-Terrorliste, Unterstützer, Terrorismus, Ermessen, Ermessensfehler, Sicherheitsgespräch, Sicherheitsbefragung, Verfassungsschutz, Zeuge vom Hörensagen, PKK-Selbsterklärung
Normen: AufenthG § 64 Nr. 5, AufenthG § 64 Nr. 5a, AufenthG § 54 Nr. 6, AufenthG § 54a
Auszüge:

[...]

Das Regierungspräsidium ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Ausweisungstatbestand des § 54 Nr. 5 AufenthG erfüllt ist. Nach dieser Bestimmung wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat; auf zurückliegende Mitgliedschaften oder Unterstützungshandlungen kann die Ausweisung nur gestützt werden, soweit diese eine gegenwärtige Gefährlichkeit begründen. Vorläufer dieser Regelung war der durch das Terrorismusbekämpfungsgesetz vom 09.01.2002 (BGBl. I S. 361) neu eingeführte Versagungsgrund des § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG. Durch Streichung des Attributs "international" im Aufenthaltsgesetz wollte der Gesetzgeber den nationalen wie den internationalen Terrorismus erfassen; der räumliche Anwendungsbereich der Vorschrift wurde demzufolge erweitert und erfasst alle terroristischen Aktivitäten unabhängig davon, wo sie stattfinden (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.04.2009 - 1 C 6.08 - NVwZ 2009, 1162 unter Verweis auf BTDrucks. 15/420 S. 70). [...]

Entgegen der Auffassung des Regierungspräsidiums Stuttgart hat der Kläger die PKK jedoch nicht unterstützt.

Als tatbestandserhebliches Unterstützen im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG ist jede Tätigkeit anzusehen, die sich in irgendeiner Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeiten der Vereinigung, die den Terrorismus unterstützt, auswirkt. Auf einen beweis- und messbaren Nutzen für die Verwirklichung der missbilligten Ziele kommt es ebenso wenig an wie auf eine subjektive Vorwerfbarkeit. Allerdings muss auch die eine Unterstützung der Vereinigung, ihre Bestrebungen oder ihre Tätigkeit bezweckende Zielrichtung des Handelns für den Ausländer regelmäßig erkennbar und ihm deshalb zurechenbar sein. Maßgeblich ist, inwieweit das festgestellte Verhalten des Einzelnen zu den latenten Gefahren der Vorfeldunterstützung des Terrorismus nicht nur ganz unwesentlich oder geringfügig beiträgt und deshalb selbst potenziell gefährlich erscheint (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.03.2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114).

Nach diesen Grundsätzen ist vorliegend eine Unterstützung der PKK durch den Kläger nicht feststellbar. Der Beklagte hält dem Kläger vor, er sei schon in der Türkei seit dem Jahr 1989 für die PKK tätig gewesen; dort habe er Kurierdienste übernommen, Lebensmittel und Kleidung besorgt sowie Flugblätter verteilt. Diese Handlungen werden aber schon deshalb von § 54 Nr. 5 AufenthG nicht erfasst, da sie lange vor Inkrafttreten dieser Bestimmung getätigt wurden und dem Kläger nur solche Verhaltensweisen vorgeworfen werden können, auf die er sich im Hinblick auf die bestehende Rechtslage einstellen kann.

Soweit der Beklagte dem Kläger Aktivitäten für die PKK im Bundesgebiet vorhält, sind diese entweder nicht erwiesen oder aber nicht als schädliche Unterstützungshandlungen zu bewerten. Im Einzelnen:

Das Gericht ist nicht davon überzeugt, dass der Kläger am 12.02.1996 anlässlich einer Großdemonstration in Stuttgart Parolen wie "es lebe die PKK" und "Deutsche Polizisten schützen Mörder und Faschisten" skandiert und eine Fahne der PKK geschwenkt hat. Ein diesbezügliches Verhalten hat der Kläger beim durchgeführten Sicherheitsgespräch am 08.11.2006 vehement abgestritten. Der materiell beweispflichtige Beklagte hat für die Richtigkeit seines Vorbringens keinerlei Beweis angetreten. Im Übrigen wurde das diesbezügliche Ermittlungsverfahren eingestellt. Zwar greift bei einem strafrechtlichen Verhalten, das nicht zu einer Verurteilung des Ausländers geführt hat, das Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG nicht ein; auch eine analoge Anwendung des Verwertungsverbots scheidet aus. Gleichwohl ist eine Straftat, die nicht zu einer Verurteilung geführt hat und nicht mehr zu einer Verurteilung führen kann, unberücksichtigt zu lassen, wenn die Verfehlung länger zurückliegt und im Falle einer Verurteilung aller Voraussicht nach bereits Tilgungsreife eingetreten wäre (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.03.1996 - 1 C 12.95 - BVerwGE 101, 24; VGH Mannheim, Urt. v. 08.07.2009 - 13 S 358/09). Für den vom Beklagten geltend gemachten Vorfall vom 12.02.1996 kann allenfalls die für eine Verurteilung wegen einer Geldstrafe von nicht mehr als 90 Tagessätzen geltende Frist von fünf Jahren herangezogen werden (§ 46 Abs. 1 Nr. 1 a BZRG), so dass die Verfehlung vom 12.02.1996 unabhängig vom Wahrheitsgehalt nicht mehr berücksichtigt werden darf. Entsprechendes gilt in Bezug auf das strafrechtliche Verhalten des Klägers am 19.08.1996. An diesem Tag soll der Kläger nach dem Vorbringen des Beklagten einen anderen Kurden durch Faustschläge und Fußtritte verletzt haben. Auch das diesbezügliche Ermittlungsverfahren wurde eingestellt, da die Täterschaft des Klägers nicht nachweisbar war.

Das Gericht ist weiter nicht davon überzeugt, dass der Kläger im Juli 1997 an der Kindesentziehung und Freiheitsberaubung einer siebzehnjährigen Türkin zum Zwecke von deren Ausbildung im Sinne der PKK beteiligt war. Denn auch das insoweit gegen den Kläger eingeleitete strafrechtliche Ermittlungsverfahren wurde von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Im Einstellungsbeschluss der Staatsanwaltschaft Offenburg vom 15.09.1997 heißt es ausdrücklich, es habe nicht festgestellt werden können, dass die Betroffene Angaben unter Druck gemacht habe. Für die substanzlose entgegengesetzte Behauptung des Regierungspräsidiums Stuttgart fehlt jeglicher Nachweis.

Der Kläger soll nach dem Vortrag des Beklagten zudem am 17.08.2003 in Heilbronn und am 19.11.2009 in Mannheim an einer Veranstaltung von Anhängern der PKK teilgenommen haben. Dies hat der Kläger indes nachhaltig bestritten. Die Erkenntnisse des Beklagten über die angebliche Teilnahme des Klägers an den Veranstaltungen am 17.08.2003 und am 29.11.2009 gehen auf Wahrnehmungen einer Gewährsperson des Landesamtes für Verfassungsschutz Baden-Württemberg zurück. Diese Gewährsperson ist als unmittelbarer Zeuge nicht erreichbar. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass auch Erkenntnisse des Landesamtes für Verfassungsschutz, die auf geheim gehaltenen Quellen beruhen und als "Zeugenaussage vom Hörensagen" in den Prozess eingeführt werden, grundsätzlich berücksichtigt werden können. Die gerichtliche Beweiswürdigung der Angaben eines Zeugen vom Hörensagen unterliegt aber besonderen Anforderungen, die auf dem Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip abzuleiten sind. Danach ist der Beweiswert seiner Angaben besonders kritisch zu prüfen. Denn das Zeugnis vom Hörensagen ist nur begrenzt zuverlässig, weil sie die jedem Personenbeweis anhaftenden Fehlerquellen im Zuge der Vermittlung der Angaben verstärken und weil das Gericht die Glaubwürdigkeit der Gewährsperson nicht selbst einschätzen kann. Die Angaben der Gewährsperson genügen danach regelmäßig nicht, wenn sie nicht durch andere wichtige Gesichtspunkte - die etwa im Blick auf Einlassungen des Betroffenen oder in Gestalt objektiver Umstände gegeben sein können - gestützt oder bestätigt werden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.05.1981 - 2 BvR 215/81 - BVerfGE 57, 250; Beschl. v. 11.04.1991 - 2 BvR 196/91 - NJW 1992, 168; Beschl. v. 19.07.1995 - 2 BvR 1142/93 - NJW 1996, 448 und Beschl. v. 21.08.1996 - 2 BvR 1304/96 - NJW 1997, 999). Diese für den Strafprozess entwickelten Grundsätze gelten auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 02.05.1984 - 10 S 1739/82 - NJW 1984, 2429; Urt. v. 27.03.1998 - 13 S 1349/96 - EzAR 277 Nr. 10 und Urt. v. 11.07.2002 - 13 S 1111/01 - juris -).

Nach diesen Maßstäben genügen die Angaben der Gewährsperson des Landesamtes für Verfassungsschutz nicht, die angeblichen Teilnahmen des Klägers an den Veranstaltungen am 17.08.2003 und am 29.11.2009 zu erweisen, weil sie nicht durch andere wichtige Gesichtspunkte gestützt oder bestätigt werden. Der Kläger hat während des gesamten Verfahrens bestritten, an diesen Veranstaltungen teilgenommen zu haben. Andere Indizien als die Erkenntnisse des Landesamtes für Verfassungsschutz Baden-Württemberg im Hinblick auf eine Teilnahme des Klägers an den besagten Veranstaltungen gibt es nicht.

Der Kläger hat allerdings unstreitig am 15.07.2001 die "PKK-Selbsterklärung" unterzeichnet. Es bestehen bereits Zweifel, ob die Unterzeichnung der "PKK-Selbsterklärung" objektiv eine Unterstützungshandlung i.S.d. § 54 Nr. 5 AufenthG darstellt (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.02.2007 - 5 C 20/05 - BVerwGE 128, 140). Jedenfalls fehlt es insoweit an dem erforderlichen subjektiven Moment. Es fehlen Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger mit der Unterzeichnung der "PKK-Selbsterklärung" tatsächlich die PKK unterstützen wollte. Der Kläger hat beim Sicherheitsgespräch am 08.11.2006 vorgetragen, ein Freund habe ihm gesagt, es gehe um die kurdische Sache, er unterschreibe nicht für die PKK. Da der Kläger Analphabet ist und die deutsche Sprache - wie die mündliche Verhandlung gezeigt hat - nur bruchstückhaft versteht, ist nicht anzunehmen, dass der Kläger den umfangreichen und schwierigen, teilweise hochintellektuellen deutschen Text verstanden und ihn vor seiner Unterschriftsleistung nachvollzogen hat. Vielmehr ist glaubhaft, dass der Kläger - wie von ihm geltend gemacht - dem durch Landsleute vermittelten friedlichen Inhalt aufgesessen ist. Allein aus der Existenz der klägerischen Unterschrift unter der "PKK-Selbsterklärung" kann daher nicht der Schluss gezogen werden, der der deutschen Schriftsprache nicht mächtige Kläger habe unabhängig von den mündlichen Erläuterungen des ihn bedrängenden Freundes die Zusammenhänge und die Bedeutung einer vom ihm zu erbringenden Unterstützungshandlung zutreffend einordnen können oder dies jedenfalls müssen.

Schließlich hat der Kläger unstreitig am 11.02.2006 an einer Demonstration mit Kundgebung anlässlich des siebten Jahrestages der Verhaftung Öcalans in Straßburg teilgenommen. Diese Demonstrationsteilnahme stellt aber weder in subjektiver noch in objektiver Hinsicht eine Unterstützungshandlung i.S.d. § 54 Nr. 5 AufenthG dar. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung überzeugend zum Ausdruck gebracht, dass er an der Demonstration in Straßburg lediglich zur Unterstützung der kurdischen Belange, nicht aber wegen der PKK teilgenommen habe. Das bloße Werben um Verständnis für die von politisch Gleichgesinnten im Heimatland verfolgten Ziele oder vergleichbare, auf die Beeinflussung des "Meinungsklimas" gerichtete Verhaltensweisen können nicht als Unterstützungshandlungen gewertet werden (vgl. VGH München, Urt. v. 22.02.2010 - 19 B 09.929 - juris -). Zudem fehlt es an einem Unterstützen, wenn jemand allein einzelne politische, humanitäre oder sonstige Ziele der Organisation, nicht aber auch die Unterstützung des internationalen Terrorismus befürwortet (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.03.2005 - 1 C 26.03 - BVerwGE 123, 114). Der Kläger ist allein durch die Teilnahme an der Demonstration am 11.02.2006 auch nicht in eine innere Nähe und Verbundenheit zur PKK geraten; eine solche innere Nähe läge nur dann vor, wenn zahlreiche Beteiligungen an Veranstaltungen der PKK feststellbar wären. Dies ist aber, wie dargelegt, hier nicht der Fall. Liegen somit - wie vorliegend - lediglich Verbindungen und Kontakte zu Organisationen, die den Terrorismus unterstützen oder selbst terroristisch handeln, oder zu deren Mitgliedern vor, ohne dass der Ausländer auch als Nichtmitglied durch sein Engagement eine innere Nähe und Verbundenheit zu dieser Vereinigung selbst zum Ausdruck bringt, fehlt es an einer Unterstützung i.S.d. § 54 Nr. 5 AufenthG (vgl. VGH München, Urt. v. 25.03.2010 - 10 BV 09.178 - juris -). [...]

Der Beklagte geht auch zu Unrecht davon aus, dass im Falle des Klägers der Regelausweisungstatbestand des § 54 Nr. 6 AufenthG erfüllt ist. Nach dieser Bestimmung wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn er in einer Befragung, die der Klärung von Bedenken gegen den weiteren Aufenthalt dient, der Ausländerbehörde gegenüber in wesentlichen Punkten falsche oder unvollständige Angaben über Verbindungen zu Personen oder Organisationen macht, die der Unterstützung des internationalen Terrorismus verdächtigt sind.

Ob eine Angabe falsch oder unvollständig ist, richtet sich nach dem Erkenntnis- und Verständnishorizont des befragten Ausländers, so dass bloß objektiv falsche Angaben nicht tatbestandsmäßig sind (vgl. VGH München, Beschl. v. 19.02.2009 - 19 CS 08.1175 - juris -). Denn die Annahme eines die Ausweisung rechtfertigenden spezial- oder generalpräventiven Ausweisungsinteresses setzt voraus, dass der Ausländer selbst vollständig Kenntnis von dem wahren Sachverhalt hat und diesen Sachverhalt bewusst falsch oder unvollständig wiedergibt. Nur bewusst falsche oder unvollständige Angaben zu sicherheitsrelevanten Sachverhalten können den Verdacht begründen, der Ausländer wolle aus unlauteren, sicherheitsrelevanten Motiven heraus etwas verbergen. Von Bedeutung ist der Verständnishorizont des Ausländers auch insoweit, als bestimmte Begriffe mehreren Interpretationen zugänglich sind, so dass die Frage vom Ausländer anders verstanden werden kann als vom Befrager gemeint und umgekehrt (vgl. VGH München, Beschl. v. 19.02.2009 - 19 CS 08.1175 - juris -; Discher in: GK-AufenthG, § 54 Rdnr. 742).

Hiervon ausgehend vermag die Feststellung des Regierungspräsidiums Stuttgart im angefochtenen Bescheid, der Kläger habe anlässlich der Sicherheitsbefragung am 18.05.2006 und dem Sicherheitsgespräch am 08.11.2006 wahrheitswidrige Angaben gemacht, nicht zu tragen. Der Kläger hat die Fragen zur Mitgliedschaft in der PKK, zur Unterstützung der PKK, zum Kontakt zur PKK sowie zum Kontakt zu einer Person, die der PKK nahestand, jeweils mit "nein" beantwortet. Diese Antworten können entgegen der Ansicht des Beklagten nicht als falsch i.S.d. § 54 Nr. 6 AufenthG gewertet werden. Es ist gerichtsbekannt, dass nur Funktionäre und die kämpfenden Einheiten als "Mitglieder" der PKK gelten. Anhänger und Sympathisanten sind demnach keine "Mitglieder". Nach den dem Kläger vorgehaltenen Tätigkeiten kann es sich bei ihm allenfalls um einen Sympathisanten handeln. Auch die Antwort des Klägers zur Unterstützung der PKK ist nach dem Erkenntnis- und Verständnishorizont des Klägers nicht falsch. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger vorgetragen, eine Unterstützungshandlung im Hinblick auf die PKK liege aus seiner Sicht nur vor, wenn er diese Organisation finanziell unterstütze. Dass der Kläger die PKK mit Geldspenden unterstützt hat, wird vom Beklagten indes nicht geltend gemacht. Im Hinblick auf Kontakte zur PKK und zu einer ihr nahestehenden Person liegen ebenso wenig falsche oder unvollständige Angaben des Klägers vor. Für den Kläger ist nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung ein "Kontakt" dann gegeben, wenn der Kontaktierte ein Freund von ihm sei. Nach diesem maßgeblichen Verständnis ist aber nach dem Akteninhalt und dem Vorbringen des Beklagten nicht erkennbar, dass der Kläger einen "Kontakt" zur PKK hatte. Soweit das VG Karlsruhe (Urt. v. 29.04.2008 - 11 K 3727/07) und der VGH Mannheim (Beschl. v. 04.09.2008 - 11 S 1656/08) in einem vorhergehenden Aufenthaltserlaubnisverfahren das Vorliegen eines Ausweisungsgrundes nach § 54 Nr. 6 AufenthG bejaht haben, wurde übersehen, dass für die Bewertung einer Angabe als falsch oder unvollständig der Erkenntnis- und Verständnishorizont des befragten Ausländers maßgebend ist. Ein Weiteres kommt hinzu: Eine gesetzlich angeordnete Rechtspflicht, an einer Sicherheitsbefragung aktiv teilzunehmen, gibt es nicht (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 28.09.2010 - 11 S 1978/10 - juris -). War aber die Teilnahme an dem Sicherheitsgespräch freiwillig, so setzt eine Ausweisung nach § 54 Nr. 6 AufenthG - über den Wortlaut der Norm hinaus - auch voraus, dass der Ausländer vor Beginn des Sicherheitsgesprächs auf diese Freiwilligkeit hingewiesen wurde. Dies ist vorliegend nicht geschehen.

Selbst wenn aber die Regelausweisungstatbestände des § 54 Nr. 5, Nr. 5 a und Nr. 6 AufenthG insgesamt oder teilweise vorliegen würden, müsste der angefochtene Bescheid aufgrund von sonstigen Rechtsfehlern aufgehoben werden. Da der Kläger sich auf den besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AufenthG berufen kann, darf die Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erfolgen (§ 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Gleichzeitig ist die Regelausweisung zu einer Ermessensausweisung herabgestuft (§ 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). Zwar hat das Regierungspräsidium Stuttgart eine Ermessensentscheidung getroffen; die hierbei angestellten Erwägungen sind indes fehlerhaft, da der Beklagte von unzutreffenden tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen ausgegangen ist.

Das Regierungspräsidium Stuttgart hat seiner Ermessensentscheidung zugrunde gelegt, dass beim Kläger eine nicht unerhebliche und extremistische Gefahr für höchste Rechtsgüter besteht; beim Kläger sei eine grundsätzliche Gewaltbereitschaft zu Tage getreten. Diese Annahme entbehrt indes jeglicher Grundlage. Aus der Akte und dem Vorbringen des Beklagten ist auch nicht in Ansätzen zu entnehmen, dass sich der Kläger in der Vergangenheit durch Gewalttaten hervorgetan hat. Der Vorfall vom 19.08.1996, der Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens war und das von der Staatsanwaltschaft Offenburg eingestellt wurde, konnte dem Kläger gerade nicht zugeordnet werden. [...]

Schließlich ist das Regierungspräsidium bei seiner Ermessensentscheidung davon ausgegangen, dass im Falle einer Rückkehr in die Türkei eine Gefährdung des Klägers nicht mehr bestehe. Damit setzt sich der Beklagte in rechtswidriger Weise über die Bindungswirkung des Bescheids des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 27.12.1995, wonach beim Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG im Hinblick auf die Türkei vorliegen, hinweg (§ 4 AsylVfG). [...]