VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 11.04.2011 - 23 L 84.11 A - asyl.net: M18459
https://www.asyl.net/rsdb/M18459
Leitsatz:

1. Ein Mitgliedsstaat ist auch dann für die Prüfung eines Asylantrages zuständig, wenn er der Aufnahme des Ausländers zugestimmt hat.

2. Ein Ausnahmefall des Konzepts normativer Vergewisserung ist derzeit in Bezug auf Italien nicht festzustellen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Italien, vorläufiger Rechtsschutz, Griechenland, Norwegen, EURODAC, Selbsteintritt, Konzept der normativen Vergewisserung, Iran, Aufnahmebedingungen, Registrierung, Obdachlosigkeit, Asylverfahren,
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VO 343/2003 Art. 19 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der Antrag des Antragstellers nach § 80 Abs. 5 VwGO, die aufschiebende Wirkung seiner Klage vom 28. März 2011 (VG 23 K 85.11 A) gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 23. Februar 2011 anzuordnen, ist nach § 34a Abs. 2 AsylVfG unzulässig.

Nach dieser Vorschrift darf die Abschiebung nicht nach § 80 VwGO ausgesetzt werden, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll. Dies ist hier der Fall, weil der Antragsteller nach Italien abgeschoben werden soll. Italien ist nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates der Europäischen Union vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung des von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50/1 vom 25. Februar 2003 – Dublin II-VO –) für das Asylverfahren des Antragstellers zuständig. Dies ergibt sich daraus, dass Italien mit Schreiben des italienischen Innenministeriums vom 15. März 2011 nach Art. 19 Abs. 1 Dublin II-VO der Aufnahme des Antragstellers zugestimmt hat, so dass es nicht darauf ankommt, ob die Kriterien zur Rangfolge in Kapitel III der Dublin II-VO vorliegen (vgl. VG München, Urteil vom 29. April 2010 – M 17 K 09.50619 –, juris; VG Ansbach, Urteil vom 30. März 2005 – 6 K 201/05.A – juris, Rdnr. 16; a.A. VG Ansbach, Beschluss vom 9. März 2011 – AN 11 E 11.30089 –). Zudem ist die Erklärung des italienischen Innenministeriums, den Antragsteller zur Prüfung seines Schutzantrages zu übernehmen, als Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO zu verstehen. Die Ausübung des Selbsteintrittsrechts ist – wie hier – jedenfalls dann unbedenklich, wenn irgendein Anknüpfungspunkt zwischen dem das Selbsteintrittsrecht ausübenden Mitgliedsstaat und dem betreffenden Asylbewerber besteht (vgl. VG Mainz, Beschluss vom 16.

April 2004 – 7 L 312/04.MZ –, juris, Rdnr. 7). Die ist im vorliegenden Fall gegeben, weil der Antragsteller in Italien einen Asylantrag gestellt und sich dort für längere Zeit aufgehalten hat. [...]

Es liegen derzeit auch keine Erkenntnisse darüber vor, dass das Asylverfahren in Italien nicht europäischen Mindeststandards entspricht. Dem von Bethke und Bender verfassten Bericht von Pro Asyl vom 28. Februar 2011 "Zur Situation von Flüchtlingen in Italien" ist zu entnehmen, dass jedenfalls Asylsuchende aus den Ländern Eritrea, Äthiopien und Somalia in Italien irgendeine Form von Schutz und damit ein Aufenthaltsrecht erhalten. Nach Ansicht der Verfasser bestehe eine Gesamtschutzquote, die von praktisch allen Gesprächspartnern als zufrieden stellend bezeichnet worden sei (S. 5). In dem Bericht der Schweizer Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht von November 2009 "Rückschaffung in den 'sicheren Drittstaat' Italien" wird in Bezug auf das italienische Asylverfahren konkret ausgeführt, dass Bootsflüchtlinge in Lampedusa oft kein reguläres Asylverfahren erhielten und Italien Schutzsuchende aus Ländern, mit denen es ein Rückübernahmeabkommen abgeschlossen habe, praktisch nie als Flüchtlinge anerkenne. Unabhängig davon, dass sich dem nicht entnehmen lässt, ob Asylsuchenden aus solchen Ländern jeglicher Schutz versagt wird, ist dies jedenfalls hier bedeutungslos, da mit dem Herkunftsland des Antragstellers Iran keine Rückübernahmeabkommen besteht. Auch auf die Umstände der Asylverfahren von Bootsflüchtlingen in Süditalien kommt es im vorliegenden Fall nicht an, da der Antragsteller ein Asylverfahren nicht dort durchzuführen, sondern sich nach Mitteilung des italienischen Innenministeriums am Flughafen Mailand Malpensa zu melden hat. Ferner lassen sich den Angaben des Antragstellers gegenüber dem Bundesamt keine gravierenden Mängel des italienischen Asylverfahrens entnehmen. Zwar gibt er an, die Polizei habe sich nach seiner Ankunft in Italien zunächst geweigert, sein Asylgesuch aufzunehmen, und ihn mehrmals auf einen späteren Zeitpunkt verwiesen. Seinen weiteren Ausführungen ist jedoch zu entnehmen, dass er sich problemlos in eine andere Stadt begeben konnte und dort ein Asylantrag aufgenommen wurde. Weitere Schwierigkeiten bei der Durchführung seines Asylverfahrens in Italien hat er nicht geschildert.

Der Antragsteller hat ebenfalls nicht die hohen Darlegungsanforderungen in Bezug auf seine soziale Lage bei einer Rückkehr nach Italien erfüllt. Dass er in Italien in Verhältnissen leben müsste, die seine Menschenwürde, sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit gefährden und daher ein Ausnahmefall des Konzepts normativer Vergewisserung begründen können, ist nicht hinreichend gewiss. Zwar wird in dem von Bethke und Bender verfassten Bericht von Pro Asyl vom 28. Februar 2011 ausgeführt, laut offiziellem Bericht des SPRAR – dem italienischen staatlichen Aufnahmesystem – seien in den Jahren 2008 und 2009 lediglich 12 % der Dublin-Rückkehrer in ein SPRAR-Projekt vermittelt, 88 % seien der Obdachlosigkeit überlassen worden (S. 23). Sofern mit dieser Aussage gemeint sein sollte, 88 % der Dublin-Rückkehrer seien ernsthaft von Obdachlosigkeit bedroht, ist dies den als Quellen angegebenen Berichten des SPRAR nicht zu entnehmen, da sich darin – soweit ersichtlich – keine Angaben über die Lebensverhältnisse der nicht in das Projekt aufgenommenen Dublin-Rückkehrer befinden. Daher lassen sich dem Bericht von Pro Asyl keine Erkenntnisse darüber gewinnen, ob eine signifikante Anzahl der Dublin-Rückkehrer von Obdachlosigkeit bedroht ist oder ob die Rückkehrer, die nicht in das SPRAR-Projekt aufgenommen wurden, die realistische Möglichkeit haben, durch kommunale, kirchliche oder karitative Einrichtungen oder auch eigenes Einkommen der Wohnungslosigkeit zu entgehen. Ebenfalls lässt sich diesem Bericht nicht entnehmen, dass die dort dargelegten teilweise katastrophalen Lebensverhältnisse von Flüchtlingen in Rom auch auf einen überwiegenden Teil der anderen Städte und Regionen Italiens, insbesondere in Norditalien, zutreffen. Ebenso wenig ist ersichtlich, ob sich Schutzsuchende, die sich in einer Region aufhalten, in der ein ausreichender sozialer Mindeststandard nicht gewährleistet ist, nicht in eine andere Region Italiens begeben können, in der eine ausreichende soziale Versorgung sichergestellt ist. Soweit in dem Bericht der Schweizer Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht von November 2009 auf "Schätzungen von Flüchtlingsorganisationen" verwiesen wird, wonach etwa die Hälfte der allein stehenden männlichen Asylsuchenden und anerkannten Flüchtlingen keine Unterkunft habe, genügt diese allgemeine Auskunft ohne Quellenangabe schon nicht den dargestellten hohen Darlegungsanforderungen im Rahmen des Konzepts der normativen Vergewisserung.

Darüber hinaus ist der Bericht von Pro Asyl im vorliegenden Fall unergiebig, da er maßgeblich die Lebenswirklichkeit von Flüchtlingen aus Eritrea, Äthiopien und Somalia behandelt (S. 5), der Antragsteller jedoch aus dem Iran stammt. Ferner hat dieser nicht dargetan, an seine vor der Ausreise aus Italien bestehenden Lebensbedingungen im Falle einer Rückkehr nicht wieder anknüpfen zu können. Nach seinen Angaben beim Bundesamt lebte er dort für etwa ein Jahr in einem Asylbewerberheim – wobei offen blieb, ob es sich ein Heim von SPRAR oder einer anderen Einrichtung handelte –, bevor er sich zur Ausreise nach Norwegen entschloss. Des Weiteren hat er nicht dargelegt, in Italien über keine ausreichenden Geldmittel oder Verdienstmöglichkeiten zu verfügen, um sich auf dem Wohnungsmarkt eine Unterkunft, die zumindest sehr einfachen Ansprüchen genügt, zu verschaffen. Vielmehr bestehen Anhaltspunkte, dass der Antragsteller über gewisse Geldmittel oder Verdienstmöglichkeiten verfügt. Er hat nämlich 1.500 Euro für eine Schleusung von Italien nach Norwegen aufgebracht, weil er in Italien eine Rückführung nach Griechenland befürchtete. Nur mit ausreichenden finanziellen Mitteln ist zu erklären, dass sich der Antragsteller nicht in einen an Italien angrenzenden Mitgliedstaat begab, sondern sich – sogar mittels eines Schleusers – nach Nordeuropa bringen ließ. Auch als er die Rückführung von Norwegen nach Griechenland verhindern wollte, reiste er nicht in das angrenzende Schweden, sondern ließ sich mit finanziell deutlich höherem Aufwand von einem Schlepper nach Deutschland bringen.

Schließlich bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte, dass die Erreichbarkeit des Antragstellers in Italien für die Durchführung des Hauptsacheverfahrens nicht sichergestellt ist. Anders als in den Fällen in Bezug auf Griechenland (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 8. September 2009, juris) gibt es – wie bereits ausgeführt – für Italien keine ernst zu nehmenden Quellen, dass ihm in Italien eine Registrierung faktisch unmöglich wäre und ihm die Obdachlosigkeit drohte. Es ist auch nicht ersichtlich, dass Italien den Antragsteller ohne Prüfung über sein Schutzgesuch, die dem europäischen Flüchtlingsschutz entspricht, in einem Drittstaat abschiebt, so dass er für das Klageverfahren nicht mehr erreichbar und sein Anspruch auf Durchführung eines effektiven Asylverfahrens vereitelt wäre. [...]