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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 20.01.2011 - V ZB 226/10 - asyl.net: M18462
https://www.asyl.net/rsdb/M18462
Leitsatz:

a) Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann auch allgemein erteilt werden.

b) Werden Ermittlungsverfahren durch mehrere Staatsanwaltschaften geführt, müssen alle ein Verfahren führenden Staatsanwaltschaften nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG der Abschiebung zustimmen.

c) In dem Haftantrag muss nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG dargelegt werden, dass die zuständige(n) Staatsanwaltschaft(en) allgemein oder im Einzelfall ihr Einvernehmen mit der Abschiebung nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erklärt hat (haben), wenn sich aus dem Antrag selbst oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne weiteres ergibt, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Betroffenen anhängig ist. Fehlen sie, ist der Antrag mangels ausreichender Begründung unzulässig (Fortführung von Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 – V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Einvernehmen der Staatsanwaltschaft zur Abschiebung, Haftantrag, Begründungserfordernis, Ausländerakte, Sachaufklärungspflicht, Haftgründe, Drei-Monats-Frist, Prognose, Verhältnismäßigkeit, Passbeschaffung, Nigeria
Normen: AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1, FamFG § 417 Abs. 2 S. 2 Nr. 5, FamFG § 26, AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4, GG Art. 20 Abs. 3, GG Art. 2 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 4, AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 5, AufenthG § 58 Abs. 1, FamFG § 74 Abs. 6 S. 2
Auszüge:

[...]

e) Nicht festgestellt ist schließlich auch, ob für die Anordnung der Abschiebungshaft das Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaft nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderlich war und vorlag.

aa) Nach der genannten Vorschrift darf ein Ausländer nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft ausgewiesen und abgeschoben werden, wenn gegen ihn öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist. Liegt das danach erforderliche Einvernehmen nicht vor, darf die Haft zur Sicherung der Abschiebung nicht angeordnet werden (Senat, Beschlüsse vom 17. Juni 2010 - V ZB 93/10, NVwZ 2010, 1574, 1575 Rn. 8 und vom 18. August 2010 - V ZB 211/10, juris Rn. 10).

bb) Ob gegen den Betroffenen öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig war und ob die zuständige Staatsanwaltschaft der Ausweisung und Abschiebung zugestimmt hatte, haben weder das Amtsgericht noch das Beschwerdegericht festgestellt. Dazu bestand aber Veranlassung. Die Haftakte beginnt mit der Feststellung, der Betroffene sei als Ladendieb festgenommen worden. Aus dem Stammblatt der Ausländerakte des Beteiligten zu 2 über den Betroffenen ergibt sich, dass die Außenstelle Dortmund des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge auf ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Halberstadt hingewiesen und um Unterrichtung der Staatsanwaltschaft bei „Auftauchen“ des Betroffenen gebeten hatte. Deshalb war nach § 26 FamFG von Amts wegen festzustellen, ob das zutraf und ob die Staatsanwaltschaft das erforderliche Einvernehmen erteilt hatte.

IV. Die Sache ist nicht zur Entscheidung reif. Es ist trotz der zwischenzeitlich erfolgten Abschiebung des Betroffenen nicht auszuschließen, dass die fehlenden Feststellungen noch getroffen werden können. Die Sache ist deshalb nach § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen. Dafür weist der Senat auf Folgendes hin:

1. Zunächst wird der Frage nachzugehen sein, ob bei Stellung des Haftantrags und bei der Entscheidung des Beschwerdegerichts gegen den Betroffenen eines oder mehrere strafrechtliche Ermittlungsverfahren schon oder noch anhängig waren. Sollte das der Fall sein, wäre weiter zu prüfen, ob sämtliche Staatsanwaltschaften, die Verfahren gegen den Betroffenen führten, ihr erforderliches Einvernehmen allgemein oder im Einzelfall erteilt hatten. Sollten seinerzeit eines oder mehrere strafrechtliche Ermittlungsverfahren anhängig gewesen sein und das erforderliche Einvernehmen der beteiligten Staatsanwaltschaft(en) nicht vorgelegen haben, ist die Verletzung des Betroffenen in seinen Rechten sowohl durch die Haftanordnung als auch durch die Beschwerdeentscheidung festzustellen. Denn dieser Mangel ist nicht heilbar.

2. Sollte sich ergeben, dass entweder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren nicht anhängig war oder das Einvernehmen vorlag, wäre weiter festzustellen, ob der den Vorinstanzen vorgelegte Tatsachenstoff einen Haftgrund ergibt und ob der Beteiligte zu 2 die Beschaffung der Ersatzpapiere mit der gebotenen Beschleunigung betrieb. Dem Betroffenen bislang nicht bekannte Ergebnisse einer etwa erforderlichen ergänzenden Sachaufklärung nach § 26 FamFG dürften dabei allerdings zu seinem Nachteil nur verwertet werden, wenn dem Betroffenen rechtliches Gehör gewährt wird. Sollte das nicht möglich sein, bliebe die Frage unaufklärbar. Das ginge zu Lasten des Beteiligten zu 2.