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VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Beschluss vom 11.04.2011 - 19 AE 173/11 [= ASYLMAGAZIN 2011, S. 164 ff.] - asyl.net: M18463
https://www.asyl.net/rsdb/M18463
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung (formal bis zu zwei Wochen ab Bescheidzustellung), da Ungarn für die Durchführung des Asylverfahrens nicht mehr zuständig sein dürfte.

1. Eine Anhörung zum Verfolgungsschicksal und den Asylgründen kann als Selbsteintritt zu werten sein, wenn sie nicht lediglich der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats dient.

2. Ein Aufnahmeersuchen hätte innerhalb von drei Monaten gestellt werden müssen. Auch ein Wiederaufnahmeersuchen, für welches keine entsprechende Frist gilt, kam hier zwar in Betracht. Hiervon konnte aber schon wegen der Minderjährigkeit des Antragstellers nicht ohne weitere Nachforschungen zur Wirksamkeit eines in einem anderen Mitgliedstaat gestellten Asylantrags ausgegangen werden.

3. Auch wenn die Voraussetzungen für ein Wiederaufnahmeverfahren vorlägen, wäre zu berücksichtigen gewesen, dass maßgeblicher Zweck der Dublin II-VO ein effektiver Verfahrenszugang und eine zügige Bearbeitung von Asylanträgen ist. Wenn das BAMF nach der Anhörung acht Monate lang keinerlei Maßnahmen zur Vorbereitung eines Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchens getroffen hat, kommt darin hinreichend deutlich der Wille zur Durchführung des Asylverfahrens, d.h. eines Selbsteintritts, zum Ausdruck.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, Ungarn, Österreich, unbegleitete Minderjährige, Zustellung, sichere Drittstaaten, Anhörung, Sachprüfung, effektiver Rechtsschutz, Selbsteintritt, Wiederaufnahme
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AsylVfG § 31 Abs. 1 S. 4, VwVfG § 43 Abs. 1 S. 1, VwZG § 7 Abs. 1 S. 1, GG Art. 19 Abs. 4, GG Art. 16a Abs. 5, GG Art. 16a Abs. 2, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 1 S. 2, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2 S. 1, VO 343/2003 Art. 2 Bst. e, VO 343/2003 Art. 16 Abs. 1 Bst. b, AsylVfG § 25, VO 343/2003 Art. 17 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

II. 1. Der Hilfsantrag des Antragstellers auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 Absatz 1 VwGO ist hingegen zulässig, da der gemäß § 123 Absatz 5 VwGO vorrangige Rechtsschutz nach § 80 Absatz 5 VwGO wie dargelegt ausscheidet.

Dabei ist dem Antragsteller auch nicht das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis für den Erlass einer entsprechenden einstweiligen Anordnung vor der wohl beabsichtigten Zustellung des Bescheids vom 3. März 2011 abzusprechen. Denn nach der Überstellungspraxis der Antragsgegnerin wird der ablehnende Bescheid und die Abschiebungsanordnung nach § 34a Absatz 1 AsylVfG dem Betroffenen in der Regel erst am Überstellungstag zugestellt; dies ist ausweislich des bereits genannten Schreibens der Antragsgegnerin vom 25. März 2011 an das Einwohner-Zentralamt auch im vorliegenden Fall beabsichtigt. Zu diesem Zeitpunkt aber kann effektiver Rechtsschutz kaum noch erlangt werden, so dass ein Rechtsschutzbedürfnis für einen der Zustellung vorangehenden Eilantrag im Lichte des Artikel 19 Absatz 4 GG besteht.

Auch steht § 34a Absatz 2 AsylVfG der Statthaftigkeit des Antrags gemäß § 123 Absatz 1 VwGO nicht entgegen.

Gemäß § 34a Absatz 2 AsylVfG darf eine Abschiebungsanordnung nach Absatz 1 der Vorschrift nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden. Dies ist jedoch im Lichte des Artikel 19 Absatz 4 GG so auszulegen, dass die Voraussetzungen des § 34a Absatz 1 Satz 1 AsylVfG tatsächlich gegeben sein müssen. Das bedeutet, dass es sich um die Abschiebung des Ausländers in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) handeln muss. Nur wenn diese Voraussetzungen tatsächlich vorliegen, nicht aber wenn ihr Vorliegen lediglich behauptet wird, kann der Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes greifen. Soll der Ausländer also in einen für die Durchführung des Asylverfahrens unzuständigen Staat abgeschoben werden, ist § 34a Absatz 2 AsylVfG nicht anwendbar (vgl. VG Hamburg, Beschl. v. 20.8.2008 - Az.: 8 AE 356/08 -). So liegt es hier.

Die Antragsgegnerin beabsichtigt laut dem in der Akte befindlichen Entwurf eines Bescheides vom 3. März 2011, den Antragsteller nach Ungarn als für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abzuschieben. Ungarn dürfte jedoch nicht (mehr) für die Durchführung seines Asylverfahrens zuständig sein. Wie noch auszuführen sein wird, dürfte die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrag zuständig ist (ABl. L 50 v. 25.2.2003, im Folgenden: Dublin II-VO) der Bundesrepublik die Zuständigkeit für das Asylverfahren des Antragstellers zuordnen. Damit ist zugleich die Wirkung des Artikel 16a Absatz 5 GG ausgelöst mit der Folge, dass die Grundrechtssperre des Artikel 16a Absatz 2 GG aufgehoben wird und die Möglichkeit entfällt, den Antragsteller auf Grundlage von § 34a Absatz 1 i.V.m. § 26a AsylVfG nach Ungarn - als einen sicheren Drittstaat - abzuschieben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.7.2003, in NVwZ 2003, Beilage Nr. I 12,97).

2. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, die Durchführung seines Asylverfahrens durch die Antragsgegnerin beanspruchen zu können und sich dementsprechend gemäß § 55 Absatz 1 Satz 1 AsylVfG für die Durchführung dieses Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten zu dürfen.

Nach Artikel 3 Absatz 1 Satz 2 Dublin II-VO wird der Asylantrag von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III Dublin II-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Abweichend von Absatz 1 dieser Vorschrift kann gemäß Artikel 3 Absatz 2 Satz 1 Dublin II-VO jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der betreffende Mitgliedstaat wird nach Satz 2 dieser Vorschrift mit dieser Prüfung zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen.

"Prüfung" eines Asylantrags in diesem Sinn meint gemäß Artikel 2 Buchstabe e) Dublin II-VO die Gesamtheit der Prüfungsvorgänge, der Entscheidungen bzw. Urteile der zuständigen Stellen in Bezug auf einen Asylantrag gemäß dem einzelstaatlichen Recht, mit Ausnahme der Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Staates gemäß dieser Verordnung. Auch aus Artikel 16 Absatz 1 Buchstabe b) Dublin II-VO, wonach der zuständige Mitgliedstaat die Prüfung des Asylantrags abzuschließen hat, lässt sich ableiten, dass nicht erst die Entscheidung über den Asylantrag eine Prüfung im Sinne der Dublin II-VO darstellt, sondern auch die der Entscheidung vorangehenden Prüfungsvorgänge und damit die auf die Prüfung des Asylanspruchs gerichtete Anhörung zur Sache.

Eine Anhörung zum Verfolgungsschicksal des Asylbewerbers kann also der Beginn und damit Teil der Prüfung im Sinne des Artikel 3 Absatz 2 Dublin II-VO sein, die in eine Entscheidung über den Asylantrag mündet und durch die der Mitgliedstaat zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne des Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 Dublin II-VO wird, sie kann aber auch lediglich Teil des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates sein. Letzteres gilt, weil die Verfolgungsgründe je nach Lage der Dinge die Entscheidung nach Artikel 3 Absatz 2 Dublin II-VO erst ermöglichen oder zumindest beeinflussen können. Vor diesem Hintergrund kann der äußere Umstand einer inhaltlichen Befragung des Asylbewerbers zu seinen Fluchtgründen für sich genommen nicht schon die irreversible Wahrnehmung des Selbsteintrittsrechts ergeben. Da sich die Frage, ob ein Selbsteintrittsrecht tatsächlich ausgeübt wird, in erster Linie aus dem Willen des betreffenden Mitgliedstaats ergibt (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, 3. Aufl. 2009, II Artikel 3, K17), dürften in dieser Situation die Motive des Mitgliedstaats für diese Befragung eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Nach allem bedarf es im Falle einer Befragung des Asylbewerbers zu seinen Fluchtgründen grundsätzlich einer weitergehenden Prüfung, ob Umstände des Einzelfalls Rückschlüsse darauf zulassen, dass darin der Wille des betreffenden Mitgliedstaats zum Selbsteintritt zum Ausdruck kommt (vgl. auch VGH München, Beschl. v. 3.3.2010, in InfAuslR 2010, 467).

Im vorliegenden Fall machen die weiteren Umstände des Einzelfalls ausreichend deutlich, dass die Antragsgegnerin mit der Anhörung des Antragstellers am 6. Mai 2010 zu seinen Fluchtgründen das Selbsteintrittsrecht wahrnehmen wollte.

Nachdem die Befragung zu seiner Herkunft, seinen Familienmitgliedern, zur Erforschung des Reisewegs und zu den Modalitäten der Einreise abgeschlossen war, hat die Antragsgegnerin den Antragsteller in formeller Anhörung nach § 25 AsylVfG ausdrücklich und ausführlich nach seinem Verfolgungsschicksal und seinen Asylgründen befragt. Der Antragsteller hatte zunächst angegeben, dass ihm in Ungarn und Österreich Fingerabdrücke abgenommen worden seien und er - minderjährig - in Österreich einen Asylantrag gestellt habe. Ähnlich hatte sich der Antragsteller bereits am 3. Mai 2010 gegenüber dem Einwohnerzentralamt der Freien und Hansestadt Hamburg geäußert, was der Antragsgegnerin auch schon vor der Anhörung nach § 25 AsylVfG bekannt gewesen sein dürfte, da sich ein Eingangsstempel der Antragsgegnerin vom 5. Mai 2010 auf diesem Protokoll befindet. Hätte die intensive Befragung des Antragstellers auch zu seinem Verfolgungsschicksal lediglich der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats dienen und damit nicht den Beginn einer Prüfung nach Artikel 3 Absatz 2 Dublin II-VO darstellen sollen, hätte die Antragsgegnerin den Vorgang unverzüglich intern zur Bestimmung des nach der Dublin II-VO zuständigen Mitgliedstaates weitergeleitet und alsbald ein Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeersuchen in dem zuständigen Mitgliedstaat vorbereitet. Hätte ein Mitgliedstaat um Aufnahme des Antragstellers gebeten werden sollen, hätte dies nämlich nach Artikel 17 Absatz 1 Satz 1 Dublin II-VO innerhalb von drei Monaten nach Einreichung des Asylantrags - hier also bis Anfang August 2010 - geschehen müssen. Die Notwendigkeit eines Wiederaufnahmeersuchens nach Artikel 20 Dublin II-VO, für das keine derartige Frist bestimmt ist, kam zwar in Betracht. Es konnte aber schon wegen der Minderjährigkeit des Antragstellers nicht ohne weitere Nachforschungen davon ausgegangen werden, dass die Voraussetzungen dafür - etwa ein wirksam gestellter Asylantrag bzw. die wirksame Vertretung bzw. Betreuung des Antragstellers - tatsächlich vorliegen. Aber auch für den Fall, dass von vornherein allein ein Wiederaufnahmeverfahren in Erwägung zu ziehen gewesen wäre, für das die Dublin II-VO - wie schon ausgeführt - keine Frist bestimmt, wäre zu berücksichtigen gewesen, dass es maßgeblicher Zweck der Regelungen in der Dublin II-VO ist, den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und die Asylanträge zügig zu bearbeiten (vgl. Erwägungsgrund (4) der Dublin II-VO). Wenn die Antragsgegnerin vor dem Hintergrund dieser Ausführungen nach der Anhörung acht Monate lang keinerlei Maßnahmen zur Vorbereitung eines Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeersuchens getroffen hat, kommt darin hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass Zweck der Befragung des Antragstellers zu seinen Fluchtgründen nicht die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gewesen sein konnte. Dann kommt als Grund für die Befragung ernstlich nur noch der Wille der Antragsgegnerin zur Prüfung des Asylantrags und damit zum Selbsteintritt in Betracht. Tatsächlich ergaben die Angaben des Antragstellers während der Anhörung auch Anhaltspunkte dafür, von einem Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeersuchen nach Ungarn abzusehen, weil dann der minderjährige Antragsteller bei einer Überstellung nach Ungarn voraussichtlich auf sich allein gestellt gewesen wäre, während er in Deutschland in der Obhut seiner Tante und seines älteren Bruders verweilt.

Das am 14. Februar 2011 an Ungarn gerichtete Wiederaufnahmegesuch und der darin zum Ausdruck kommende Wille, das Selbsteintrittsrecht nicht mehr ausüben zu wollen, konnte die zuvor eingetretene Zuständigkeit der Antragsgegnerin nicht wieder rückgängig machen. Vielmehr wäre die Antragsgegnerin nach der Wahrnehmung des Selbsteintrittsrechts gehalten gewesen, nach Artikel 16 Dublin II-VO zu verfahren, insbesondere nach dessen Absatz 1 Buchstabe b) die Prüfung des Asylantrags nach dem AsylVfG mit den dort vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten abzuschließen.

Nach allem kann auf sich beruhen, ob die Antragsgegnerin wegen der besonderen Schutzbedürftigkeit des minderjährigen Antragstellers zwingend das Selbsteintrittsrecht hätte ausüben müssen und ob inlandsbezogene Abschiebungshindernisse der Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn entgegengestanden hätten. Fest steht jedenfalls, dass die Antragsgegnerin - und nicht die Ausländerbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg - für die Feststellung von inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen zuständig ist (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 3.12.2010 - Az.: 4 Bs 223/10 -).

Der Antragsteller hat auch das Vorliegen eines Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht. Ohne den Erlass dieser einstweiligen Anordnung bestünde die Gefahr, dass er nach Ungarn abgeschoben würde, ohne zuvor die Möglichkeit zu erhalten, seinen glaubhaft gemachten Anspruch, das Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland zu betreiben, wirksam durchzusetzen.

Die einstweilige Anordnung ist auf den Ablauf von zwei Wochen nach Zustellung einer Entscheidung der Antragsgegnerin über den Asylantrag des Antragstellers zu befristen. Die Antragsgegnerin hat nunmehr die Gelegenheit zu prüfen, ob sie an dem Bescheidentwurf vom 3. März 2011 festhält oder über den Asylantrag in der Sache entscheiden will. Die Frist von zwei Wochen ab Zustellung des Bescheides sichert die Möglichkeit ab, noch Klage zu erheben und ggf. auch die aufschiebende Wirkung der Klage zu beantragen. [...]