Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung nach Italien, da Überwiegendes dafür spricht, dass der Antragsteller dort keinen Schutz entsprechend der europaweit vereinbarten Mindeststandards erlangen würde.
[...]
Der Antrag ist auch begründet, weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ablehnung des Asylantrags des Antragstellers als unzulässig gem. § 27a AsylVfG und der Anordnung der Abschiebung nach Italien aufgrund der Verordnung Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02:2003 - Dublin II-Verordnung - bestehen.
Es bestehen nämlich schwerwiegende Bedenken, ob die Praxis der Durchführung von Asylverfahren in Italien den oben zitierten Kernanforderungen des EU-Rechts entspricht. Im Einzelnen:
Zwar hat Italien alle europarechtlich vereinbarten Standards zum Flüchtlingsschutz in nationales Recht übernommen hat, gleichwohl mehren sich die Hinweise, dass die tatsächlichen Umstände der Asylverfahren in Italien von diesen normativen Vorgaben zum Teil erheblich abweichen.
Bereits im Jahr 2006 berichtete Pro Asyl aufgrund einer Recherchereise in Süditalien ausführlich über die tatsächliche Situation von Flüchtlingen in Italien (vgl. Pro Asyl, Bericht vom August 2006: "Zonen der Rechtlosigkeit, Eine Reise auf den Spuren von Flüchtlingen durch Süditalien" - Pro Asyl, Bericht 2006 -). Ein Asylantrag kann danach laut Gesetz in der Polizeidienststelle an der Grenze oder in der Quästur gestellt werden (Pro Asyl, Bericht 2006 S. 6 und S. 17; ebenso Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Bericht vom November 2009 "Rückschaffung in den 'sicheren Drittstaat' Italien" - Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009 -, dort S. 1 und 4). Die Quästur entspricht in etwa einem Migrationsamt (vgl. Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, a.a.O.), mithin dem hiesigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Eines der Probleme vieler Quästuren ist die Unsicherheit über die Zuständigkeit, die dazu führt, dass Asylanträge nicht angenommen werden (Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 4), oder dass Flüchtlinge an den Ort ihres Grenzübertritts zurückschickt werden, weil man wohl der Meinung ist, der Ausländer müsse seinen Asylantrag bei dem Grenzposten stellen, bei dem man italienischen Boden betreten habe (Pro Asyl, Bericht 2006, S. 18). Im Ergebnis führt dies dazu, dass viele Flüchtlinge so lange von Quästur zu Quästur wandern, bis sich eine für zuständig ansieht. Jene sind wiederum völlig überlastet (Pro Asyl, Bericht 2006, S. 19; Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 4). Die Ausländer erhalten keine Informationen über das Asylverfahren, es fehlt an Anwälten und Richtern vor Ort und damit an effektivem Rechtsbeistand für die Flüchtlinge (Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 4; Pro Asyl, Bericht 2006; S. 16 und S. 21).
Bedenklich erscheint auch die Qualität der Asylverfahren. Seit Anfang 2009 betreibt Italien die Asylverfahren in einem beschleunigten Verfahren (vgl. focus Migration, Newsletter 5/2009, "Italien: Maßnahmen gegen irreguläre Migration", - im Folgenden: focus Migration 5/2009 -, S. 2). Die Dauer der Anhörungen liegt zwischen fünf Minuten und maximal einer halben Stunde (vgl. Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 4) bzw. im Durchschnitt bei fünf bis zehn Minuten pro Person, wobei meist keine Rechtsanwälte (Pro Asyl, Bericht 2006, S. 20) und oftmals keine die Muttersprache des Flüchtlings beherrschenden Dolmetscher anwesend sind, sondern allenfalls englisch- oder französischsprachige Übersetzer (vgl. Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 4; Pro Asyl, Bericht 2006, S. 20). Häufig ist auch Botschaftspersonal des Heimatlandes des Flüchtlings bei der Anhörung zum Zwecke der Identifizierung anwesend, was zu der paradoxen Situation führt, dass ein potentieller Asylantragsteller von einem Beamten seines eigenen Landes identifiziert wird (Pro Asyl, Bericht 2006, S. 20). Besteht zwischen einem Herkunftsland und Italien ein Rückübernahmeabkommen, wie z.B. mit Marokko und Tunesien, so wird gar nicht lange nach Asylgründen gefragt, sondern umgehend zurückgeschoben; eine Anerkennung findet dann nie statt (Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 2 und S. 4; Pro Asyl, Bericht 2006, S. 20).
Mehrere Menschenrechtsorganisationen und der Vatikan kritisieren überdies die seit 2009 praktizierte sofortige Zurückschiebung von Bootsflüchtlingen, meist nach Libyen - mit dem Italien seit 2009 ein entsprechendes Abkommen unterhält, obwohl Libyen bekanntermaßen die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet hat (vgl. etwa Süddeutsche Zeitung, Presseartikel vom 22.05.2009 "Kalkulierte Hetze gegen Einwanderer"; medico international, rundschreiben 03/10 vom 01.10.2010, "Liebesgrüße nach Tripolis", - im Folgenden: medico international 03/10 -, S. 3) -, ohne zuvor ihren Bedarf nach asylrechtlichem Schutz zu überprüfen (vgl. UNHCR, Presseerklärungen vom 07.05.2009 und vom 12.05.2009; Pro Asyl, Presseerklärung vom 11.05.2009 "Bootsflüchtlinge: Abgefangen abgedrängt und inhaftiert in Libyen", Pro Asyl, Artikel vom 03.07.2009 "Das Netz zieht sich zu: Italien und Griechenland bauen illegale Grenzabschottung aus"; amnesty international, Jahresbericht 2010; focus Migration - 5/2009 S. 2; vgl. auch Frankfurter Rundschau, Presseartikel vom 11.05.2009 "Rom schickt 240 Flüchtlinge zurück"; Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Presseartikel vom 17.05.2009 "Die Vereinten Nationen haben Italien den Verstoß gegen internationale Abkommen vorgeworfen"; Pro Asyl, Artikel vom 03.07.2009 "Das Netz zieht sich zu: Italien und Griechenland bauen illegale Grenzabschottung aus"). Seit Italien so gegen die Bootsflüchtlinge vorgeht, ist ihre Zahl um 94 % zurückgegangen (vgl. Kordula Doerfler, Presseartikel "Willkommen in Europa" in: Frankfurter Rundschau vom 01.02.2011). Die Flüchtlinge werden in Libyen in eines der dortigen Auffanglager gebracht, in denen es regelmäßig zu schwersten menschenrechtswidrigen Übergriffen wie Folter, Vergewaltigung und Mord kommt (vgl. medico international 03/10, S. 2; Michael Braun, taz, Presseartikel vom 12.05.2009 "Reine Abwehr").
Ausgesprochen bedenklich ist die Lage von Asylsuchenden in Italien auch während des Verfahrens. So existiert zwar ein staatliches Aufnahmesystem zur Unterbringung von Flüchtlingen "SPRAR" (Sistema di prozezione per richiedenti asilo e rifugiati), dieses ist jedoch völlig überlastet (vgl. Bender an VG Darmstadt vom 26.10.2010, S. 2; Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 1). Landesweit gibt es hier 3000 Plätze, die eine Aufnahme von jeweils 6 Monaten ermöglichen. 2009 haben 17.000, 2008 31.000 Personen und 2007 14.000 Personen Asylgesuche gestellt (Bender an VG Darmstadt vom 26.10.2010, S. 2; Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 1/2). Die Wartelisten für SPRAR-Plätze sind so lang, dass eine realistische Perspektive auf einen Platz für die meisten Menschen nicht besteht (Bender an VG Darmstadt vom 26.10.2010, S. 2; Bethke/Bender, Bericht über die Recherchereise nach Rom und Turin im Oktober 2010 vom 29.11.2010, - im Folgenden: Bethke/Bender, Reisebericht 2010 - , S. 3).
Ein staatliches Sozialsystem, das die Menschen auffangen könnte, existiert in Italien nicht; die Flüchtlinge bleiben - auch falls sie eine der Plätze von SPRAR erhalten haben, wenn die sechs Monate um sind - sich selbst überlassen (Bethke/Bender, Reisebericht 2010 S. 3, Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 2; Pro Asyl, Bericht 2006, S. 7). Dies gilt sowohl für abgelehnte Asylbewerber als auch für solche, die (subsidiären) Schutz erhalten haben (Bethke/ Bender, Reisebericht 2010 S. 2 und S. 3; Bender an VG Darmstadt vom 26.10.2010, S. 2; Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 2; Pro Asyl, Bericht 2006, S. 7). Für Asylsuchende gibt es Erstaufnahmeeinrichtungen, CARA (Centri di accoglienza per richiedenti asilo) genannt; allerdings verlieren die Flüchtlinge nach Abschluss ihres Asylverfahrens jeden Anspruch auf Unterbringung dort (Bethke/Bender, Reisebericht 2010, S. 2; Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 1 und S. 3). Auch finden viele Asylsuchende erst gar keinen Platz in diesen Erstaufnahmeeinrichtungen (Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 1). Die große Mehrheit der Asylsuchenden ist damit ungeschützt, ohne Obdach, Integrationshilfe und gesicherten Zugang zu Nahrung. Die Betroffenen übernachten in Parks, in leer stehenden Häusern und überleben dank der Hilfe von karitativen Organisationen (Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 2; Pro Asyl, Bericht 2006, S. 15; Kordula Doerfler, Presseartikel "Willkommen in Europa" in: Frankfurter Rundschau vorn 01.02.2011).
Zwar vermögen diese, insbesondere die kirchlichen Versorgungsangebote, wohl einen Teil des Nahrungsbedarfs abzudecken, dies gilt für weniger durchsetzungsfähige Menschen, insbesondere Kinder, Jugendliche, Kranke, aber allenfalls eingeschränkt (Bender an VG Darmstadt vom 26.10.2010, S. 2; Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 2; Bethke/Bender, Reisebericht 2010, S. 7; Pro Asyl, Bericht 2006, S. 7). Das Platz- und Obdachlosigkeitsproblem betrifft auch die Rückkehrer im Rahmen von Dublin-II-Verfahren. Zwar sollen diese am Flughafen in Rom in Empfang genommen werden, jedoch besteht auch für sie ein Platzproblem und aufgrund langer Wartelisten ist die Lage gleichwohl prekär; das gilt selbst für unbegleitete Minderjährige (Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 3). Einen Anspruch auf Wohnraum haben auch diese Rückkehrer nicht, ebenso wenig wie auf existenzsichernde Sozialleistungen (Bethke/Bender, Reisebericht 2010, S. 13). Laut einem offiziellen SPRAR-Bericht wurden in den Jahren 2008 und 2009 lediglich 12 % der Dublin-Rückkehrer in ein SPRAR-Projekt vermittelt; 88 % hingegen wurden der Obdachlosigkeit überlassen (Bethke/Bender, Reisebericht 2010, S. 13 mit Nachweisen; Bender an VG Armstadt vom 26.10.2010, S. 5; Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 2). Die ehemalige somalische Botschaft in Rom wird bereits seit Jahren von Flüchtlingen bewohnt, die dort unter unzumutbaren Bedingungen ihr Dasein fristen (Bethke/Bender, Reisebericht 2010, S. 8 f. mit Nachweisen zu Videos, Bender an VG Darmstadt vom 26.10.2010, S. 4; vgl. auch Michael Braun, taz, Presseartikel vom 01.03.2011 "Somalische Flüchtlinge an die Luft gesetzt"; Kordula Doerfler, Presseartikel "Willkommen in Europa" in: Frankfurter Rundschau vom 01.02.2011). Viele andere verlassene Gebäude werden von Flüchtlingen entsprechend genutzt, aber es gibt auch Slum-artige Wellblech- und Lehmhüttenansammlungen auf Brachflächen (Bethke/Bender, Reisebericht 2010, S. 9f.; Bender an VG Darmstadt vom 26.10.2010, S. 4).
In all diesen Unterkünften befinden sich auch zahlreiche Rückkehrer aus Dublin-II-Verfahren (Bethke/Bender, Reisebericht 2010, S. 13; Bender an VG Darmstadt vom 26.10.2010, S.5). Die vielfach behauptete bevorzugte Behandlung von Dublin-II-Rückkehrern gibt es in der Lebenswirklichkeit nicht (Bethke/Bender, Reisebericht 2010, S. 13; Bender an VG Darmstadt vom 26.10.2010, S. 5; Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 2; Pro Asyl, Bericht 2006, S. 21). Offenbar leben allein im Großraum Rom mehrere tausend Schutzberechtigte oder abgelehnte Asylbewerber in solchen behelfsmäßigen Unterkünften oder unbewohnten Häusern, ohne dass sie eine wie auch immer geartete Alternative zu diesen Aufenthaltsorten hätten. Viele Flüchtlinge, die in keinem der "besetzten" Häuser oder Hütten eine Unterkunft finden, übernachten in Parks, U-Bahnhöfen, unter Brücken oder in Tunneln und sind dort massiven Gefährdungen, insbesondere durch Überfälle, Diebstähle und sexuelle Übergriffe ausgesetzt (Bethke/Bender, Reisebericht 2010, S. 11 f.).
Aus der Obdachlosigkeit der vielen tausend Flüchtlinge resultieren für diese massive Folgeprobleme. So ist zunächst die Anmeldung eines festen Wohnsitzes unter einer dieser Anschriften nicht möglich (Bender an VG Darmstadt vom 26.10.2010, S. 5). Ein solcher ist aber sowohl für den Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem als auch für die Zuteilung einer Steuernummer erforderlich; letztere wiederum wird für einen legalen Zugang zu Arbeitsmöglichkeiten benötigt (Bethke/Bender, Reisebericht 2010, S. 13; Bender an VG Darmstadt vom 26.10.2010, S. 5; Schw. Beobachtungsstelle, Nov, 2009, S. 2). Für Dublin-II-Rückkehrer bedeutet eine solche Situation zugleich, dass auch die Angabe einer offiziellen, ladungsfähigen Anschrift für ein etwa in Deutschland noch laufendes Gerichtsverfahren unmöglich ist (Bethke/Bender; Reisebericht 2010, S. 7). Postzustellungen sind an solche Orte ohnehin nicht möglich (Bethke/Bender, Reisebericht 2010, S. 7), was eine weitere massive Erschwernis für die Flüchtlinge bedeutet. Ganz schwierig gestaltet sich die Lage auch für psychisch besonders schutzbedürftige Personen. Dem statistischen Jahresbericht des SPRAR für 2009 listete italienweit drei Projekte für solche Personen auf mit insgesamt 16 Unterkunftsplätzen, wovon allerdings erst fünf tatsächlich zur Verfügung standen, während die anderen noch in Planung waren (Bethke/Bender, Reisebericht 2010, S. 13; vgl. auch Schw. Beobachtungsstelle, Nov. 2009, S. 3).
Aus der Gesamtschau dieser Umstände ergibt sich, dass die Mindestnormen, welche die Europäische Union - EU - an die Aufnahmeverfahren für Flüchtlinge stellt, in Italien in großen Teilen nicht erfüllt werden. [...]