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EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 28.04.2011 - El Dridi, C-61/11 PPU [ASYLMAGAZIN 2011, S. 216 ff - asyl.net: M18498
https://www.asyl.net/rsdb/M18498
Leitsatz:

1. Die Mitgliedstaaten dürfen von der Rückführungsrichtlinie nur unter den dort vorgesehenen Voraussetzungen abweichen; nach Art. 4 Abs. 3 sind günstigere Vorschriften zulässig. Strengere Normen dürfen in den Mitgliedstaaten jedoch nicht angewendet werden. Hier: Unzulässigkeit der Anwendung einer italienischen Regelung, nach welcher gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen allein deshalb eine Haftstrafe verhängt werden kann, weil er entgegen der Anordnung, das Hoheitsgebiet innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen, ohne berechtigten Grund bleibt (in Italien ist die Rückführungsrichtlinie bisher nicht umgesetzt worden).

2. Zur Auslegung von Art. 15 und 16 der Rückführungsrichtlinie (Inhaftierung zum Zwecke der Abschiebung).

Schlagwörter: Strafrecht, Ausländerstrafrecht, Rückführungsrichtlinie, Vorabentscheidungsverfahren, EuGH, illegaler Aufenthalt, Inhaftierung, Italien, Abschiebung, Verhältnismäßigkeit, praktische Wirksamkeit, Rückkehrentscheidung, freiwillige Ausreise,
Normen: AEUV Art. 267, RL 2008/115/EG Art. 15, RL 2008/115/EG Art. 16, EUV Art. 4 Abs. 3, RL 2008/115/EG Art. 1, RL 2008/115/EG Art. 4 Abs. 3, RL 2008/115/EG Art. 8 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

29 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2008/115, insbesondere ihre Art. 15 und 16, dahin auszulegen ist, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, die vorsieht, dass gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen allein deshalb eine Haftstrafe verhängt werden kann, weil er entgegen einer Anordnung, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen, ohne berechtigten Grund in dessen Hoheitsgebiet bleibt.

30 Das vorlegende Gericht nimmt dabei Bezug auf den in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit sowie auf das Ziel, die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen.

31 Nach ihrem zweiten Erwägungsgrund soll mit der Richtlinie 2008/115 eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik festgelegt werden, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden.

32 Wie sich sowohl aus ihrem Titel als auch aus ihrem Art. 1 ergibt, werden durch die Richtlinie 2008/115 "gemeinsame Normen und Verfahren" geschaffen, die von jedem Mitgliedstaat bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger anzuwenden sind. Aus der genannten Wendung, aber auch aus dem Aufbau der Richtlinie folgt, dass die Mitgliedstaaten von diesen Normen und Verfahren nur unter den in der Richtlinie, insbesondere in deren Art. 4, vorgesehenen Voraussetzungen abweichen dürfen.

33 Folglich verleiht Art. 4 Abs. 3 den Mitgliedstaaten zwar die Befugnis, Vorschriften zu erlassen oder beizubehalten, die für illegal aufhältige Drittstaatsangehörige günstiger sind als die Vorschriften der Richtlinie 2008/115, sofern diese Vorschriften mit der Richtlinie im Einklang stehen; die Richtlinie gestattet es den Mitgliedstaaten jedoch nicht, in dem von ihr geregelten Bereich strengere Normen anzuwenden.

34 Ferner schreibt die Richtlinie 2008/115 genau vor, welches Verfahren von jedem Mitgliedstaat bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger anzuwenden ist, und legt die Reihenfolge der verschiedenen Schritte fest, die dieses Verfahren nacheinander umfasst.

35 So sieht Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie zunächst vor, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet sind, gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen.

36 Im Rahmen dieses einleitenden Schritts des Rückführungsverfahrens hat, von Ausnahmen abgesehen, die freiwillige Erfüllung der aus der Rückkehrentscheidung resultierenden Pflicht Vorrang; dazu heißt es in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, dass diese Entscheidung eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise vorsieht.

37 Nach Art. 7 Abs. 3 und 4 der Richtlinie können die Mitgliedstaaten nur unter besonderen Umständen, etwa wenn Fluchtgefahr besteht, zum einen dem Adressaten einer Rückkehrentscheidung aufgeben, sich regelmäßig bei den Behörden zu melden, eine angemessene finanzielle Sicherheit zu hinterlegen, Papiere einzureichen oder sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, und zum anderen eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen oder gar keine solche Frist vorsehen.

38 Für den letztgenannten Fall, aber auch für den Fall, dass die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der für die freiwillige Ausreise eingeräumten Frist nachgekommen ist, geht aus Art. 8 Abs. 1 und 4 der Richtlinie 2008/115 hervor, dass diese Vorschriften, um die Wirksamkeit der Rückführungsverfahren zu gewährleisten, den Mitgliedstaat, der eine Rückkehrentscheidung in Bezug auf einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen erlassen hat, verpflichten, bei der Vornahme der Abschiebung, bei der er alle erforderlichen Maßnahmen trifft, zu denen gegebenenfalls auch Zwangsmaßnahmen gehören, unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit und insbesondere der Grundrechte vorzugehen.

39 Hierzu ergibt sich aus dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie und aus dem Wortlaut ihres Art. 15 Abs. 1, dass die Mitgliedstaaten die Abschiebung unter Einsatz möglichst wenig intensiver Zwangsmaßnahmen vornehmen müssen. Nur wenn die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung mittels Abschiebung nach einer anhand jedes Einzelfalls vorzunehmenden Beurteilung durch das Verhalten des Betroffenen gefährdet zu werden droht, können die Mitgliedstaaten ihm durch Inhaftnahme die Freiheit entziehen.

40 Dieser Freiheitsentzug muss nach Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2008/115 so kurz wie möglich sein und darf sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden. Nach Art. 15 Abs. 3 und 4 wird ein solcher Freiheitsentzug in gebührenden Zeitabständen überprüft und ist zu beenden, wenn sich herausstellt, dass keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht. Nach Art. 15 Abs. 5 und 6 beträgt die Höchstdauer des Freiheitsentzugs 18 Monate; diese Obergrenze gilt für alle Mitgliedstaaten. Darüber hinaus müssen die Betroffenen nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie in einer speziellen Einrichtung und jedenfalls gesondert von den gewöhnlichen Strafgefangenen untergebracht werden.

41 Nach alledem entspricht die Reihenfolge des Ablaufs des durch die Richtlinie 2008/115 geschaffenen Rückführungsverfahrens einer Abstufung der zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu treffenden Maßnahmen, die von der die Freiheit des Betroffenen am wenigsten beschränkenden Maßnahme – der Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise – bis zu den diese Freiheit am stärksten beschränkenden Maßnahmen – der Inhaftnahme in einer speziellen Einrichtung – reichen, wobei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei all diesen Schritten gewahrt werden muss.

42 Selbst der Rückgriff auf die letztgenannte Maßnahme, bei der es sich um die einschneidendste nach der Richtlinie im Rahmen eines Verfahrens der zwangsweisen Abschiebung zulässige freiheitsbeschränkende Maßnahme handelt, wird in den Art. 15 und 16 der Richtlinie strikt reglementiert, namentlich um die Achtung der Grundrechte der betroffenen Drittstaatsangehörigen zu gewährleisten.

43 Insbesondere die in Art. 15 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2008/115 vorgesehene Höchstdauer soll den Freiheitsentzug der Drittstaatsangehörigen, denen eine zwangsweise Abschiebung droht, begrenzen (Urteil vom 30. November 2009, Kadzoev, C-357/09 PPU, Slg. 2009, I-11189, Randnr. 56). Die Richtlinie 2008/115 soll dabei sowohl der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Rechnung tragen, wonach der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die Inhaftierung einer Person, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist, nicht unangemessen lange fortgesetzt wird, d.h., den zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlichen Zeitraum nicht überschreitet (vgl. u.a. EGMR, Urteil Saadi/Vereinigtes Königreich vom 29. Januar 2008, noch nicht im Recueil des arrêts et décisions veröffentlicht, §§ 72 und 74), als auch der achten der vom Ministerkomitee des Europarats am 4. Mai 2005 angenommenen "20 Leitlinien zur Frage der erzwungenen Rückkehr", auf die die Richtlinie in ihrem dritten Erwägungsgrund Bezug nimmt. Nach dieser Leitlinie muss jede Inhaftierung vor der Abschiebung so kurz wie möglich sein.

44 In Anbetracht dieser Erwägungen ist zu prüfen, ob die durch die Richtlinie 2008/115 eingeführten gemeinsamen Vorschriften einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegenstehen.

45 Hierzu ist erstens festzustellen, dass die Richtlinie 2008/115 – wie sich aus den Angaben sowohl des vorlegenden Gerichts als auch der italienischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen ergibt – nicht in italienisches Recht umgesetzt wurde.

46 Nach ständiger Rechtsprechung kann sich aber, wenn ein Mitgliedstaat eine Richtlinie nicht fristgemäß oder unzulänglich umgesetzt hat, ein Einzelner gegenüber diesem Staat auf inhaltlich unbedingte und hinreichend genaue Bestimmungen der Richtlinie berufen (vgl. in diesem Sinne u.a. Urteile vom 26. Februar 1986, Marshall, 152/84, Slg. 1986, 723, Randnr. 46, und vom 3. März 2011, Auto Nikolovi, C-203/10, Slg. 2011, I-0000, Randnr. 61).

47 Dies trifft auf die Art. 15 und 16 der Richtlinie 2008/115 zu, die – wie sich aus Randnr. 40 des vorliegenden Urteils ergibt – unbedingt und hinreichend genau sind, ohne dass es weiterer besonderer Gesichtspunkte bedürfte, um ihre Umsetzung durch die Mitgliedstaaten zu ermöglichen.

48 Im Übrigen fällt eine Person in der Lage von Herrn El Dridi in den persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115, die nach ihrem Art. 2 Abs. 1 auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige Anwendung findet.

49 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 22 bis 28 seiner Stellungnahme ausgeführt hat, wird dieses Ergebnis nicht durch Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie in Frage gestellt, wonach die Mitgliedstaaten beschließen können, sie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden, die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist. Aus der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass die Rückkehrpflicht im Ausgangsverfahren aus einem Dekret des Präfekten von Turin vom 8. Mai 2004 resultiert. Im Übrigen betreffen die strafrechtlichen Sanktionen, von denen in der genannten Vorschrift die Rede ist, nicht die Nichteinhaltung der Frist für die freiwillige Ausreise.

50 Zweitens unterscheidet sich, auch wenn das Dekret des Präfekten von Turin vom 8. Mai 2004, soweit es Herrn El Dridi verpflichtet, das Staatsgebiet zu verlassen, unter den in Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115 definierten und u. a. in den Art. 6 Abs. 1 und 7 Abs. 1 der Richtlinie verwendeten Begriff "Rückkehrentscheidung" fällt, das in der im Ausgangsverfahren streitigen italienischen Regelung vorgesehene Abschiebungsverfahren erheblich von dem Verfahren nach der Richtlinie.

51 So schreibt die Richtlinie vor, dass eine Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise zu gewähren ist, während das Decreto legislativo Nr. 286/1998 keine solche Maßnahme vorsieht.

52 Sodann ist zu den Zwangsmaßnahmen, die die Mitgliedstaaten nach Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 anwenden können und zu denen u.a. die in Art. 13 Abs. 4 des Decreto legislativo Nr. 286/1998 vorgesehene zwangsweise Begleitung an die Grenze gehört, festzustellen, dass es den Mitgliedstaaten, wenn mit solchen Maßnahmen das angestrebte Ziel der Abschiebung des Drittstaatsangehörigen, gegen den sie sich richten, nicht erreicht werden konnte, freisteht, Maßnahmen – auch strafrechtlicher Art – zu treffen, die es insbesondere ermöglichen, Drittstaatsangehörige vom illegalen Verbleib in ihrem Hoheitsgebiet abzuhalten.

53 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das Strafrecht und das Strafprozessrecht zwar grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, dass aber dieser Rechtsbereich gleichwohl vom Unionsrecht berührt werden kann (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 11. November 1981, Casati, 203/80, Slg. 1981, 2595, Randnr. 27, vom 2. Februar 1989, Cowan, 186/87, Slg. 1989, 195, Randnr. 19, und vom 16. Juni 1998, Lemmens, C-226/97, Slg. 1998, I-3711, Randnr. 19).

54 Folglich müssen die Mitgliedstaaten ungeachtet dessen, dass weder Art. 63 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b EG, der in Art. 79 Abs. 2 Buchst. c AEUV übernommen wurde, noch die Richtlinie 2008/115, die u.a. auf der Grundlage dieser Bestimmung des EG-Vertrags ergangen ist, die strafrechtliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich der illegalen Einwanderung und des illegalen Aufenthalts ausschließen, ihre Rechtsvorschriften in diesem Bereich so ausgestalten, dass die Wahrung des Unionsrechts gewährleistet ist.

55 Insbesondere dürfen die Mitgliedstaaten keine Regelung, auch strafrechtlicher Art, anwenden, die die Verwirklichung der mit einer Richtlinie verfolgten Ziele gefährden und sie damit ihrer praktischen Wirksamkeit berauben könnte.

56 In Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 2 und 3 EUV heißt es nämlich, dass die Mitgliedstaaten u.a. "alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen [ergreifen], die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben", und "alle Maßnahmen [unterlassen], die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten"; dazu gehören auch die mit den Richtlinien verfolgten Ziele.

57 Speziell in Bezug auf die Richtlinie 2008/115 ist zu beachten, dass nach ihrem 13. Erwägungsgrund der Rückgriff auf Zwangsmaßnahmen im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele ausdrücklich den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Wirksamkeit unterliegen sollte.

58 Folglich sind die Mitgliedstaaten für den Fall, dass Zwangsmaßnahmen zur Durchführung der zwangsweisen Abschiebung gemäß Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie fehlschlagen, nicht befugt, zur Abhilfe eine Freiheitsstrafe der in Art. 14 Abs. 5-ter des Decreto legislativo Nr. 286/1998 vorgesehenen Art allein deshalb zu verhängen, weil sich ein Drittstaatsangehöriger, nachdem ihm eine Anordnung zum Verlassen des Staatsgebiets bekannt gegeben wurde und die darin gesetzte Frist abgelaufen ist, weiterhin illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, sondern sie müssen ihre auf die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, die weiterhin Wirkungen entfaltet, gerichteten Anstrengungen fortsetzen.

59 Eine solche Strafe droht nämlich, insbesondere aufgrund ihrer Bedingungen und Anwendungsmodalitäten, die Verwirklichung des mit der Richtlinie 2008/115 verfolgten Ziels zu beeinträchtigen, das darin besteht, eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik in Bezug auf illegal aufhältige Drittstaatsangehörige zu schaffen. Wie der Generalanwalt in Nr. 42 seiner Stellungnahme ausgeführt hat, könnte eine nationale Regelung der im Ausgangsverfahren streitigen Art insbesondere die Anwendung der in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 genannten Maßnahmen zum Scheitern bringen und die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung verzögern.

60 Dies schließt nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten aus, unter Beachtung der Grundsätze der Richtlinie 2008/115 und ihres Ziels Vorschriften zu erlassen, die den Fall regeln, dass Zwangsmaßnahmen es nicht ermöglicht haben, einen Drittstaatsangehörigen abzuschieben, der sich illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhält.

61 Nach dem Vorstehenden muss das vorlegende Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden und deren volle Wirksamkeit zu gewährleisten hat, jede dem Resultat der Richtlinie 2008/115 zuwiderlaufende Bestimmung des Decreto legislativo Nr. 286/1998 und insbesondere dessen Art. 14 Abs. 5-ter unangewendet lassen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal, 106/77, Slg. 1978, 629, Randnr. 24, vom 22. Mai 2003, Connect Austria, C-462/99, Slg. 2003, I-5197, Randnrn. 38 und 40, und vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C-188/10 und C-189/10, Slg. 2010, I-0000, Randnr. 43). Dabei muss das vorlegende Gericht dem Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes, der zu den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten gehört, angemessen Rechnung tragen (Urteile vom 3. Mai 2005, Berlusconi u. a., C-387/02, C-391/02 und C-403/02, Slg. 2005, I-3565, Randnrn. 67 bis 69, und vom 11. März 2008, Jager, C-420/06, Slg. 2008, I-1315, Randnr. 59).

62 Daher ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2008/115, insbesondere ihre Art. 15 und 16, dahin auszulegen ist, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, die vorsieht, dass gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen allein deshalb eine Haftstrafe verhängt werden kann, weil er entgegen einer Anordnung, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen, ohne berechtigten Grund in dessen Hoheitsgebiet bleibt.

Kosten

63 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, insbesondere ihre Art. 15 und 16, ist dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, die vorsieht, dass gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen allein deshalb eine Haftstrafe verhängt werden kann, weil er entgegen einer Anordnung, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen, ohne berechtigten Grund in dessen Hoheitsgebiet bleibt. [...]