VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Beschluss vom 28.04.2011 - AN 2 S 11.30109 [ASYLMAGAZIN 2011, S. 201 f.] - asyl.net: M18503
https://www.asyl.net/rsdb/M18503
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung eines unbegleiteten Minderjährigen nach Italien.

1. Bei ernsthaften Zweifeln an der Zuständigkeit des Abschiebungszielstaats greift der Eilrechtsschutzausschluss des § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht, denn dieser ist nur für Abschiebungen in den "zuständigen" Staat vorgesehen.

2. Die Zuständigkeit wegen eines erteilten Aufenthaltstitels (Art. 9 Abs. 1 Dublin II-VO) greift lediglich dann, wenn dem Betreffenden nach wirksamer Stellung eines Asylantrags ein Aufenthaltstitel (und zudem wohl auch nur mit dessen Einwilligung) erteilt wird.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, unbegleitete Minderjährige, Somalia, Niederlande, Finnland, Norwegen, Schweden, Asylantrag, Asylantrag, Asylverfahren, Vormundschaft, Aufenthaltstitel, besonders schutzbedürftig, subjektives Recht, Konzept der normativen Vergewisserung, minderjährig,
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VO 343/2003 Art. 6 Abs. 2, VO 343/2003 Art. 16 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 16 Abs. 2, VO 343/2003 Art. 9 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der vorliegend zur Entscheidung stehende Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, mit dem sich der Antragsteller gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung nach Italien im Bescheid des BAMF vom 25. Februar 2011 wendet, ist sowohl zulässig als auch begründet.

Es bestehen in seinem Fall ernsthafte Zweifel an der Zuständigkeit Italiens im Sinne von § 34a Abs. 1 i.V.m. § 27a AsylVfG, die zu einer Interessenabwägung im Rahmen des Verfahrens vorläufigen Rechtschutzes führen, bei der hier den Belangen des Antragstellers der Vorzug zu geben ist. Unerheblich ist im vorliegenden Verfahren, ob nicht etwa statt Deutschland die Niederlande, Schweden, Norwegen oder Finnland zuständiger Staat im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin-II-VO) sind, wozu bislang auch keinerlei weitere Feststellungen getroffen sind; denn mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 25. Februar 2011 ist konkret angeordnet die Abschiebung von Deutschland nach Italien.

Bei ernsthaften Zweifeln an der Zuständigkeit des Abschiebungszielstaates greift auch der Ausschluss vorläufigen Rechtsschutzes in § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht, da dieser Ausschluss nach dem Wortlaut des darin in Bezug genommenen § 34a Abs. 1 AsylVfG sich in Fällen des § 27a AsylVfG nur auf Abschiebungen in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (Hervorhebung durch das Gericht) erstrecken soll und derartige einschneidende Rechtsschutzbeschränkungen von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht weit, sondern eher restriktiv auszulegen sind.

Die ernsthaften Zweifel an der Zuständigkeit Italiens gründen sich im vorliegenden Fall darauf, dass diese nicht nur von Antragstellerseite dezidiert bestritten wird, sondern sie auch nach Aktenlage unter Einbeziehung der weiteren Ausführungen des insoweit beweisbelasteten Bundesamtes zumindest bislang nicht nachvollziehbar ist.

Das Bundesamt stellt offenbar für die Zuständigkeit Italiens zuvorderst auf Art. 6 Satz-2 Dublin-II-VO ab, was voraussetzt, dass der Antragsteller dort einen Asylantrag gestellt hat. Gleichzeitig ist aber den eigenen Ausführungen des BAMF zu entnehmen, dass in Italien ein Minderjähriger erst dann einen Asylantrag stellen kann, wenn ihm ein Vormund bestellt ist, wobei sich die Bestellung des Vormundes zeitlich hinziehen und teilweise über ein Jahr dauern kann und die durchschnittliche Dauer dafür vier bis sechs Monate beträgt. Dies legt es hier nahe, das Vorliegen eines Asylantrags im Sinne von Art. 6 Satz 2 Dublin-II-VO zu verneinen, nachdem ein Grund zu Zweifeln an den Angaben des Antragstellers, dass er erst kurz vor seiner Erfassung am 3. März 2008 nach Italien gekommen sei und er damals - wie im Übrigen auch jetzt noch - minderjährig gewesen sei, bislang nicht besteht. Soweit sich das BAMF darauf beruft, die Zustimmung Italiens zur Aufnahme des Antragstellers signalisiere, dass dort zuvor ein wirksamer Asylantrag gestellt worden sei, vermag dies die Zweifel des Gerichts an der Zuständigkeit Italiens nach der Dublin-II-VO nicht zu beseitigen, sondern verstärkt diese vielmehr. Denn dort ist als Rechtsgrundlage für diese Zustimmung nicht etwa, wie dies bei der Zuständigkeit auf Grund wirksamen Asylantrags zu erwarten wäre, Art. 6 Satz 2 bzw. Art. 16 Abs. 1 Dublin-II-VO angeführt, sondern Art. 16 Abs. 2 Dublin-II-VO, wo die Aufnahmepflicht für den Fall geregelt ist, dass ein Mitgliedsstaat einem Antragsteller einen Aufenthaltstitel erteilt. Dass sich die Zuständigkeit Italiens doch nicht aus Art. 6 Satz 2 Dublin-II-VO, sondern aus Art. 16 Abs. 2 Dublin-II-VO ergeben würde, ist aber bislang ebenfalls nicht abzusehen, da diese Bestimmung nach dem Zusammenspiel der Art. 5, 6, 9 und 16 Dublin-II-VO wohl lediglich dann greift, wenn dem Betreffenden nach wirksamer Stellung eines Asylantrags ein Aufenthaltstitel (und zudem wohl auch nur mit dessen Einwilligung) erteilt wird. Für die Annahme einer derartigen Konstellation mangelt es hier aber ebenfalls bislang an hinreichenden Tatsachen. Schließlich ist ebenso wenig ersichtlich, dass Italien die Zuständigkeit nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO zugewachsen wäre, da dafür als Grundlage wiederum ein wirksam in diesem Staat bzw. an die Behörden dieses Staates gestellter Asylantrag erforderlich sein dürfte. Sofern hier vom Bundesamt über die Tatsachen, die die behauptete Zuständigkeit Italiens begründen sollen, nicht befriedigend Aufklärung geschaffen werden kann, wird im Klageverfahren voraussichtlich davon auszugehen sein, dass die Zuständigkeit Italiens von der Antragsgegnerin zu Unrecht angenommen wird,

Des Weiteren spricht jedenfalls dann, wenn - wie hier - die Zuständigkeitsbestimmungen im Fall minderjähriger Antragsteller relevant sind, angesichts der darin zum Ausdruck kommenden besonderen Schutzbedürftigkeit dieser Personengruppe und angesichts der Massivität des Eingriffs einer Abschiebung in einen anderen Staat viel dafür, dass sich ein Antragsteller gegenüber der Antragsgegnerin auf die Einhaltung der Zuständigkeitsregelung gemäß der Dublin-II-VO berufen kann. Die Argumentation, einem Asylbewerber komme ein subjektiv-öffentliches Recht auf Prüfung seines Asylantrags in einem bestimmten Mitgliedsstaat nicht zu, vermag demgegenüber bei vorläufiger, summarischer Einschätzung nicht zu überzeugen.

Da nach alledem beim vorliegenden Sach- und Streitstand ernsthaft damit zu rechnen ist, dass die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung im Hauptsacheverfahren aufgehoben werden wird, fällt hier die Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers aus, nachdem weitere besondere Belange auf seiner Seite hinzutreten. Zum einen sind das die Beziehung des unbegleiteten, minderjährigen Antragstellers zu seinem in München lebenden Onkel und deren Wichtigkeit in der Situation des Antragstellers, wie dies insbesondere von Seiten des Vormunds des Antragstellers nachvollziehbar dargelegt worden ist. Zum anderen sind, auch wenn nach den vorliegenden Erkenntnissen in Italien nicht von Verhältnissen im Sinne einer Ausnahme vom Konzept der normativen Vergewisserung gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgegangen werden kann, nach der laufenden Berichterstattung erhebliche aktuelle Probleme im staatlichen italienischen Flüchtlingswesen angesichts des Zustroms aus Nordafrika nicht zu übersehen, die gerade übermäßig verletzliche Personen wie unbegleitete minderjährige Flüchtlinge besonders zu treffen vermögen; so ist unter anderem nicht damit zu rechnen, dass dem Antragsteller in Italien alsbald ein Vormund als Rechtswahrer und Bezugsperson zur Seite gestellt wird, zumal schon nach der auf Erfahrungen in der zurückliegenden, "ruhigeren" Zeit beruhenden Einschätzung des Bundesaamtes die Bestellung eines Vormundes durchschnittlich vier bis sechs Monate gedauert hat. [...]