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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 27.04.2011 - V ZB 71/11 - asyl.net: M18506
https://www.asyl.net/rsdb/M18506
Leitsatz:

Der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft während des Beschwerdeverfahrens ihr Einverständnis mit der Abschiebung des Betroffenen telefonisch mitgeteilt hat, lässt zwar das der Abschiebung entgegenstehende Hindernis entfallen, jedoch nicht die in der Beschwerdeinstanz nicht heilbare Verletzung des Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG, weshalb die Abschiebungshaft rechtswidrig war. Der Betroffene macht auch zu Recht geltend, dass er durch das Beschwerdegericht hätte angehört werden müssen.

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Sicherungshaft, vorläufiger Rechtsschutz, Einvernehmen der Staatsanwaltschaft zur Abschiebung, Haftantrag, Anhörung, Beschwerdeverfahren
Normen: FamFG § 64 Abs. 3, AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1, GG Art. 104 Abs. 1 S. 1, GG Art. 103 Abs. 1, FamFG § 68 Abs. 3 S. 1, FamFG § 420 Abs. 1 S. 1, FamFG § 68 Abs. 3 S. 2
Auszüge:

[...]

b) Nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft ausgewiesen und abgeschoben werden. Fehlen in dem Haftantrag Ausführungen zu dem Einvernehmen, obwohl sich aus ihm selbst oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne weiteres ergibt, dass die öffentliche Klage oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig ist, scheidet die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung eines Ausländers aus, und der Antrag ist unzulässig (siehe nur Senat, Beschluss vom 10. Februar 2011 - V ZB 49/10, Rn. 6, juris; Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, Rn. 9, juris). So verhält es sich hier. Dem Haftantrag war die gegen den Betroffenen gerichtete Strafanzeige der Polizei beigefügt. Damit ergab sich ohne weiteres, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen ihn anhängig war (vgl. Senat, Beschluss vom 3. Februar 2011 - V ZB 224/10, Rn. 7, juris). Deshalb musste sich der Haftantrag der Behörde auch dazu verhalten, ob das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG für die Abschiebung erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft vorliegt. Hieran fehlt es indes.

c) Daran ändert der Umstand nichts, dass die zuständige Staatsanwaltschaft dem Beschwerdegericht ihr Einverständnis mit der Abschiebung des Betroffenen während des Beschwerdeverfahrens telefonisch mitgeteilt hat. Damit entfiele zwar das der Abschiebung entgegenstehende Hindernis, jedoch nicht die in der Beschwerdeinstanz nicht heilbare Verletzung des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG (Senat, Beschluss vom 7. April 2011 - V ZB 133/10, S. 5, zur Veröffentlichung bestimmt; Beschluss vom 21. Oktober 2010 - V ZB 96/10, Rn. 14, juris, Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 218/09. FGPrax 2010, 210, 211, Rn. 19).

d) Selbst wenn durch das im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung vorliegende Einvernehmen der Staatsanwaltschaft erstmals eine zulässige Tatsachengrundlage für eine Haftanordnung - allerdings auch erst ab diesem Zeitpunkt - vorgelegen hat, macht der Betroffene mit Erfolg geltend, dass er nach Art. 103 Abs. 1 GG, §§ 68 Abs. 3 Satz 1, 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG durch das Beschwerdegericht hätte angehört werden müssen, weil die Voraussetzungen für das Absehen von der Anhörung (§ 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG) nicht vorgelegen haben. Der Betroffene hatte nämlich zuvor keine Gelegenheit, sich zu allen tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen der gegen ihn verhängten Freiheitsentziehung zu äußern und persönlich zu den Gesichtspunkten Stellung zu nehmen, auf die es für die Entscheidung über die Freiheitsentziehung ankam (Senat, Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211, Rn. 25).