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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 19.04.2011 - 5466652-436 - asyl.net: M18512
https://www.asyl.net/rsdb/M18512
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich Indien wegen schwerer Herzerkrankung, da der mittellose Antragsteller die erforderliche medizinische Behandlung und die Medikamente nicht bezahlen könnte.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Indien, Wiederaufnahme des Verfahrens, Herzerkrankung, medizinische Versorgung, Medikamente,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Die für den Folgeantrag angegebene Begründung führt zu einer für den Antragsteller günstigeren Entscheidung, weil nunmehr vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Indien auszugehen ist. [...]

Beim Antragsteller wurde ein angeborener Herzfehler (Aortenklappeninsuffizienz) diagnostiziert. [...].

Aus der dem Bundesamt vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen der beiden Fachärzte für Innere Medizin und Kardiologie Dr. ... und Dr. ... vom 08.11.2010 geht hervor, dass aufgrund der hochgradigen Aortenklappeninsuffizienz eine Operation notwendig war, die am 30.11.2010 auch durchgeführt wurde. Laut Schreiben des Dr. ... vom 13.12.2010 sei wegen der Schwere der Erkrankung und der Größe des operativen Eingriffs nur mit einer langsamen Rekonvaleszenz zu rechnen, so dass auch trotz der Rehabilitationsmaßnahmen das körperliche Leistungsvermögen noch über Monate wesentlich eingeschränkt sein werde.

Aus der ärztlichen Stellungnahme des Dr. ... vom 13.12.2010 ergibt sich, dass der Antragsteller auch nach der Operation und den Rehabilitationsmaßnahmen in Bezug auf die verbleibenden Herzinsuffizienz (Herzschwäche) und der Antikoagulation (Blutverdünnung) einer dauerhaften medikamentösen Behandlung - einschließlich einer kontinuierlichen medizinischen Betreuung sowohl durch einen Kardiologen als auch durch ein medizinisches Labor, das die gerinnungsphysiologischen Tests zuverlässig ausführen kann (Quick, INR) - bedürfe. Diese Notwendigkeit bestehe lebenslang und sei zwingend durchgehend zum Überleben erforderlich.

Nach alledem ist festzustellen, dass dem Antragsteller bei seiner Rückkehr nach Indien eine erhebliche konkrete Gefahr i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG droht, da seine Krankheit alsbald nach seiner Rückkehr nach Indien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer wesentlichen bzw. gar lebensbedrohlichen Veränderung seines Gesundheitszustandes führen würde.

Die beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Antragstellers kann auch nicht mit den in Indien zur Verfügung stehenden und zugänglichen Behandlungsmethoden ausgeräumt werden.

Laut der ärztlichen Stellungnahme des Dr. ... vom 13.12.2010 seien zur Behandlung des Antragstellers die Medikamentengruppen Antikoagulantien aus der Gruppe der Vitamin K-Antagonisten, ACE-Hemmer oder Angiotensin-II-Rezeptorantagonisten, Betablocker, Aldosteron-Antagonisten, Antibiotika zur Endokarditisprophylaxe, ggf. Diuretika vom Thiazid-Typ oder ein Schleifendiuretikum und evtl. Digitalis erforderlich. Darüber hinaus seien an laborchemischen Untersuchungen Quick und INR je nach Erfordernis (z.B. 14-tägig) und Untersuchungen der Elektrolyte, Nierenretentionswerte, Transaminasen, Blutbild alle 3 Monate und ggf. weitere Zusatzuntersuchungen zur Überwachung erforderlich. An regelmäßigen ärztlichen Kontrollen seien voraussichtlich fachkardiologische Untersuchungen im 3-Monatsabstand unter Einschluss von EKG, Belastungs-EKG und Echokardiografie erforderlich. Diese Untersuchungen und notwendigen Medikamente seien nur die "Routineversorgung", bei Komplikationen und in einem Fall zusätzlicher Erkrankungen seien darüber hinausgehende zusätzliche Maßnahmen erforderlich, die durch die Herzerkrankung und die Kunstklappe begründet seien.

Zunächst ist es fraglich, ob diese umfangreichen Untersuchungen und Medikamente in Indien überhaupt verfügbar sind. So erläutert Dr. ... vom MGM New Bombay Hospital in seiner Stellungnahme vom 04.11.2010, dass es grundsätzlich möglich sei, eine Aortenklappeninsuffizienz in Indien zu behandeln und auch Einrichtungen in Amritsar, der Herkunft des Antragstellers, vorhanden seien. Antikoagulantien wie Marcumar seien in Indien erhältlich. Die laborchemischen Untersuchungen können ebenfalls in Indien durchgeführt werden, allerdings müsse der Betroffene hierzu spezielle Kliniken aufsuchen.

Letztlich kann es aber dahingestellt bleiben, ob in Indien alle Medikamente und Untersuchungen zur Verfügung stehen, da der Antragsteller dennoch keinen Zugang hierzu hätte. Laut Dr. ... vom MGM New Bombay Hospital seien sowohl die Medikamente als auch die Untersuchungen kostenpflichtig und der Betroffene müsse für diese Kosten selbst aufkommen.

Ferner teilte das Auswärtige Amt mit Schreiben vom 06.10.2009, Az.: RK 516.80, in einem anderen Asylverfahren mit, dass bereits die Erreichbarkeit des Krankenhauses problematisch sein könne, da der Betroffene regelmäßig dorthin zur Behandlung und Betreuung müsse, damit er die Therapie auch in Anspruch nehmen könne. Ebenfalls sei bekannt, dass wohl - falls die Therapie in den kostengünstigeren staatlichen Krankenhäusern durchgeführt werden solle - der entsprechende Zugang zur adäquaten medizinischen staatlichen Versorgung in der Realität mit unmittelbaren, unkontrollierbaren privaten Zahlungen verbunden sei und somit vor allem zunächst eine Frage des Preises zu scheinen sei. Im Übrigen könne zu den Kosten der Therapie keine Aussage getroffen werden, da nicht absehbar bzw. einschätzbar sei, was in Zukunft an konkreter medizinischer Versorgung notwendig sei.

Diese Einschätzung des Auswärtigen Amtes dürfte auch auf die Krankheit des Antragstellers zutreffen, der laut der Asylfolgeantragsbegründung seiner Rechtsanwälte mittellos ist und über kein familiäres bzw. soziales Netz in Indien verfügt. Es liegen keine Anhaltspunkte vor, dass die Eltern des Antragstellers in der Lage wären, die medizinisches Versorgung in diesem Ausmaß finanzieren zu können. Auch der Antragsteller selbst wird aufgrund seiner Krankheit wohl nicht in der Lage sein, neben der Sicherung seines Lebensunterhaltes zusätzliche Finanzierungsmittel für seine medizinische Versorgung mit Hilfe seiner Arbeitskraft aufzubringen. So entschied bspw. auch das VG Ansbach mit Urteil vom 19.03.2009, Az.: AN 16 K 06.30115, dass das staatliche Gesundheitssystem in Indien nicht in der Lage sei, z.B. einem Dialysepatienten das Überleben zu ermöglichen. Hierzu wären möglicherweise Privatkliniken mit westlichem Standard in der Lage, die jedoch für den Kläger aus finanziellen Gründen unerreichbar seien.

Da derzeit nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden kann, dass der Antragsteller die möglicherweise vorhandene Behandlung in seinem Heimatland aufgrund der finanziellen Verhältnisse auch tatsächlich in Anspruch nehmen könnte, war im vorliegenden Fall festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind. Es kann nach den vorliegenden Erkenntnissen keinesfalls sichergestellt werden, dass dem Antragsteller die erforderliche Behandlung in Indien zuteil würde. [...]