LG Hannover

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Zitieren als:
LG Hannover, Beschluss vom 24.03.2011 - 8 T 1/11 - asyl.net: M18533
https://www.asyl.net/rsdb/M18533
Leitsatz:

Die Ingewahrsamnahme war ab 13 Uhr bis zum Erlass des Haftbeschlusses am nächsten Tag rechtswidrig, da der Betroffene nicht unverzüglich einem Richter vorgeführt worden ist. Bei den in Art. 104 Abs. 2 S. 3 bzw. 104 Abs. 3 S. 1 GG genannten Fristen handelt es sich um Höchstfristen. Die fehlende Erreichbarkeit eines Richters kann nicht ohne weiteres als unvermeidbares Hindernis einer unverzüglichen Vorführung gelten.

Schlagwörter: Ingewahrsamnahme, Richter, Unverzüglichkeit, Frist
Normen: FGG-RG Art. 111, GG Art. 2 Abs. 2 S. 2, GG Art. 104 Abs. 2 S. 2, GG Art. 104 Abs. 2 S. 3, GG Art. 104 Abs. 3 S. 1
Auszüge:

[...]

2. Die zulässige Beschwerde des Beschwerdeführers ist im Ergebnis auch begründet.

Die Ausführungen des Amtsgerichts, dass es an der Statthaftigkeit des Feststellungsantrags des Beschwerdeführers vom 8.5.2007 bereits deswegen im Wesentlichen fehle, weil für die weit überwiegende Zeit, auf die sich die beantragte Feststellung beziehe, nämlich die Zeit zwischen 13.00 Uhr am 21.4. und dem Antrag der Verwaltungsbehörde am Morgen des 22.4.2007, die Ingewahrsamnahme nur als rein polizeiliche Maßnahme zu Zwecken der Vorbereitung von Untersuchungshaft und gerade nicht zu Zwecken der Vorbereitung der Abschiebung auf Anordnung der Ausländerbehörde hin darstelle, können keinen Bestand haben.

Zwar ist dem Amtsgericht dahingehend zu folgen, dass im Rahmen von § 13 Abs. 2 FrhEntzG nur eine verwaltungsbehördliche Maßnahme zur Überprüfung durch das Gericht steht, die in der Tat bis zum Antrag der Ausländerbehörde vom 22.4.2007 im hiesigen Fall nicht vorlag.

Hierdurch war das erkennende Gericht allerdings nicht davon entbunden zu prüfen, ob infolge der Ingewahrsamnahme durch die Polizei und das Unterlassen einer unverzüglichen Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung gegen andere Vorschriften verstoßen und der Beschwerdeführer dadurch in seinen Rechten verletzt wurde.

b) Die Tatsache, dass der Beschwerdeführer in der Zeit vom 21.4.2007, 13.00 Uhr bis zum Mittag des 22.4.2007 ohne Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung im Polizeigewahrsam festgehalten wurde, begründet einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 S. 2 GG und damit eine Verletzung des Beschwerdeführers in seinen Rechten.

aa) Für den Eingriff in das Recht auf Freiheit verlangt Art. 104 Abs. 2 GG neben dem Vorbehalt eines förmlichen Gesetzes als weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt eine richterliche Entscheidung, um hierdurch den Grundrechtsschutz des Art. 2 Abs. 2 GG zu gewährleisten (vgl. BVerfG v. 4.9.2009, 2 BvR 2520/07). Sämtliche staatliche Organe haben dabei dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird (vgl. BVerfGE 105, 239, 248). Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn - soweit eine Freiheitsentziehung ausnahmsweise ohne vorherige richterliche Entscheidung zulässig ist - die richterliche Entscheidung im Sinne von Art. 104 Abs. 2 S. 2 GG unverzüglich nachgeholt wird.

bb) "Unverzüglich" bedeutet insoweit, dass die richterliche Entscheidung ohne jede Verzögerung, die nicht aus sachlichen Gründen wie Verzögerungen des Transports, Länge des Weges, notwendigen Registrierungen und Protokollierungen oder Verhaltensweisen des Festgenommenen gerechtfertigt sind, zu erfolgen hat (vgl. BVerfGE 103, 142, 156; 105, 239, 249; BVerfG v. 4.9.2009, 2 BvR 2510/07).

Für die Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs der "Unverzüglichkeit" kann damit nicht etwa auf die in Art. 104 Abs. 2 S. 3 bzw. 104 Abs. 3 S. 1 GG genannten Fristen zurückgegriffen werden in dem Sinne, dass eine Unverzüglichkeit als gegeben anzusehen ist, wenn die genannten Fristen nicht überschritten worden sind. Vielmehr handelt es sich bei diesen Bestimmungen um Höchstfristen, nach deren Ablauf ein weiteres Festhalten des Betroffenen auf jeden Fall unzulässig wird, selbst wenn die Verzögerung unvermeidbar ist und kein Verstoß gegen das Unverzüglichkeitsgebot vorliegt.

cc) Im vorliegenden Fall war ausweislich der Angaben des die Festnahmeanzeige fertigenden Polizeibeamten am 21.4.2007 um 12.45 Uhr ein Richter (offenbar beim Amtsgericht Neustadt) nicht erreichbar, so dass die Vorführung deswegen unterblieb. Die fehlende Möglichkeit, einen Richter zu erreichen, kann angesichts der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Staates, der Bedeutung des Richtervorbehaltes durch geeignete organisatorische Maßnahmen Rechnung zu tragen, jedoch nicht ohne weiteres als unvermeidbares Hindernis für die unverzügliche Herbeiführung bzw. Nachholung einer richterlichen Entscheidung gelten (vgl. BVerfGE 103, 142, 151 ff., 156; 105, 239 ff. (Orientierungssatz)). Insoweit hätte, da feste Dienstzeiten für Richter nicht bestehen, zumindest weitere Versuche einer Kontaktaufnahme mit dem zuständigen Bereitschaftsrichter bzw. seinem Vertreter unternommen und dokumentiert werden müssen, gegebenenfalls - was der zuständigen Polizeidienststelle als bekannt unterstellt wird - beim Amtsgericht Hannover als bis 13.00 Uhr mit einem richterlichen Präsenzbereitschaftdienst versehenem, örtlich ohne nennenswerten Verzögerungen erreichbaren Gericht um Zuführung und Vorführung ersucht werden müssen. Dies ist jedoch ersichtlich nicht erfolgt.

Eingedenk dessen kann daher vorliegend nicht davon ausgegangen werden, dass der Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung am 21.4.2007 nach 13.00 Uhr ein unvermeidbares Hindernis entgegenstand und die Nachholung der Vorführung am 22.4.2007 in der Mittagszeit damit unverzüglich im Sinne von Art. 104 Abs. 2 S. 2 GG war. Hieraus begründet sich die Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers. [...]