Anspruch auf Analogleistungen gemäß § 2 AsylbLG trotz früherer Identitätstäuschung nach Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG, wenn von einem zukünftigen Daueraufenthalt auszugehen ist.
[...]
Der Bescheid der Beklagten vom 04.01.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.07.2010 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Denn die Kläger haben einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen gemäß § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) i.V.m. dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) unter Anrechnung bereits gewährter Leistungen gemäß § 3 AsylbLG für den streitgegenständlichen Zeitraum. [...]
Die Kläger sind zunächst leistungsberechtigt i.S.v. § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG, denn sie waren im streitgegenständlichen Zeitraum im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Sie haben darüber hinaus auch einen Anspruch auf Gewährung sog. höherwertiger Leistungen gemäß § 2 AsylbLG i.V.m. dem SGB XII. Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG ist abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 48 Monaten Leistungen nach § 3 erhalten haben und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.
Die Erfüllung der Vorbezugszeiten ist zwischen den Beteiligten unstreitig.
Die Kammer ist davon ausgegangen, dass den Klägern infolge der erteilten Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG der Vorwurf rechtsmissbräuchlichen Verhaltens nicht mehr gemacht werden kann. Hiergegen spricht bei näherer Betrachtung bereits der Wortlaut der Norm. Denn was unter dem unbestimmten, der sozialgerichtlichen Kontrolle voll zugänglichen Begriff einer rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer zu verstehen ist, wird weder in § 2 Abs. 1 AsylbLG noch an einer anderen Stelle des Gesetzes definiert. Es bedarf daher eines Rückgriffs auf die anerkannten, herkömmlichen juristischen Auslegungsmethoden. Dabei ist zunächst auf den semantischen Gehalt des aus den beiden selbständigen Wörtern ("Recht" und "Missbrauch") sich zusammensetzenden Wortes "Rechtsmissbrauch" abzustellen, der darin besteht, dass ein subjektives Recht in einer funktionswidrigen, Treu und Glauben widersprechenden und damit unzulässigen Weise wahrgenommen wird (vgl. Brockhaus, Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 14, Stichwort: "Missbrauch" und Bd. 18, Stichwort: "Rechtsmissbrauch"). Folgerichtig wird mit dem Begriff des "Rechtsmissbrauchs" im bürgerlichen und öffentlichen Recht im Allgemeinen die zwar formell mit dem Gesetz in Einklang stehende Ausübung eines subjektiven Rechts bezeichnet, dessen Geltendmachung aber wegen der besonderen Umstände als "treuwidrig" eingestuft wird (vgl. z.B. Creifelds, Rechtswörterbuch, 12. Auflage [1994], Stichwort: "Rechtsmissbrauch"). Demnach sind als Unterfälle des "Rechtsmissbrauchs" etwa anzusehen, wenn der Rechtsinhaber das geltend gemachte Recht selbst durch unredliches Verhalten erworben hat, wenn eine Rechtsverfolgung oder die Einlegung eines Rechtsbehelfs offensichtlich aussichtslos erfolgt oder wenn ein dem Einzelnen eingeräumtes Recht durch diesen umgangen wird (vgl. GK-AsylbLG, Kommentar Dr. Hohm, Bd. III § 2 Rdnr. 81). Dass die Kläger das geltend gemachte Recht selbst durch unredliches Verhalten erworben haben oder eine Rechtsverfolgung vorliegend offensichtlich aussichtslos erfolgt, ist hier nicht der Fall. Der Erwerb des Anspruchs auf höherwertige Leistungen beruht auch nicht darauf, dass die Kläger das geltend gemachte Recht selbst durch unredliches Verhalten erworben haben. Dies würde vielmehr einen Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten der Kläger und der Zuerkennung der höherwertigen Leistungen voraussetzen. Ein solcher ist jedoch nicht gegeben. Vielmehr wird die Anerkennung der höherwertigen Leistungen durch die Zuerkennung der aus § 25 Abs. 5 AufenthG begründeten Aufenthaltserlaubnisse gestützt. Mit der Erteilung dieser Aufenthaltserlaubnisse ist damit eine Zäsur im Aufenthalt der Kläger eingetreten.
Dem zuvor gefundenen Ergebnis steht auch nicht die obergerichtliche Rechtsprechung entgegen. So hat sich das Bundessozialgericht mit Urteil vom 17.06.2008 (B 8/9b AY 1/07 R), teilweise unter ausdrücklicher Aufgabe der Rechtsprechung des zuvor zuständigen 9b. Senates (vgl. hierzu insbesondere die Entscheidung des BSG vom 08.02.2007 - B 9b AY 1/06 R), mit der Definition des rechtsmissbräuchlichen Verhalts im Sinne von § 2 AsylbLG auseinandergesetzt. Es hat dabei insbesondere festgestellt, dass eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer, die höhere Leistungen in entsprechender Anwendung des SGB XII (Analogleistungen) für Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG nach einem 36- bzw. 48-monatigen Vorbezug von Leistungen nach § 3 AsylbLG (Grundleistungen) ausschließt, ein auf die Aufenthaltsverlängerung zielendes vorsätzliches sozialwidriges Verhalten unter Berücksichtigung des jeweiligen Einzelfalles voraussetzt. Hierfür genüge nicht schon die Inanspruchnahme einer ausländerrechtlichen Duldung, wenn es dem Ausländer möglich und zumutbar sei, freiwillig auszureisen. Eine Beeinflussung der Aufenthaltsdauer läge schon dann vor, wenn bei generell-abstrakter Betrachtungsweise das rechtsmissbräuchliche Verhalten typischerweise die Aufenthaltsdauer verlängern könne (vgl. hierzu Urteil des BSG 8. Senat vom 17.06.2008 - B 8/9b AY 1/07 R). In der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 17.06.2008 - B 8/9 b AY 1/07 R, dort insbesondere Rdnr. 43 und 44) wurde ausgeführt, eine Ausnahme von der typisierenden Betrachtungsweise im Sinne der zwischenzeitlich erfolgten höchstrichterlichen Rechtsprechung müsse dann gemacht werden, wenn eine etwaige Ausreisepflicht des betroffenen Ausländers unabhängig von seinem Verhalten ohnehin in dem gesamten Zeitraum ab dem Zeitpunkt des Rechtsmissbrauchs nicht hätte vollzogen werden können, etwa weil die Erlasslage des zuständigen Innenministeriums eine Abschiebung ohnehin nicht zugelassen hätte. In diesen Fällen sei eine typisierende Betrachtungsweise nicht mehr zulässig. Eine Aussage zu der Frage, inwieweit der Vorwurf rechtsmissbräuchlichen Verhaltens nach Änderung des aufenthaltsrechtlichen Status noch gerechtfertigt ist, hat das Bundessozialgericht damit nicht getroffen.
Insoweit bedarf es nach Auffassung der Kammer für die Beurteilung, ob rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG vorliegt, bedarf es hierbei stets einer Einzelfallbetrachtung.
Dem liegt folgendes zugrunde: Durch die vom Bundessozialgericht inzwischen vorgenommene sogenannte generell-abstrakte Auslegungsweise des Begriffs des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens entsteht grundsätzlich ein sehr weitreichender Anwendungsbereich dieses unbestimmten Rechtsbegriffs. Gerade dieser Umstand, erfordert nach Auffassung der Kammer ein einschränkendes Korrektiv. Dementsprechend werden auch in der Kommentarliteratur inzwischen Ausnahmen von der sogenannten "abstrakten Betrachtungsweise" unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gefordert. Zur Begründung wird ausgeführt, die Problematik einer "abstrakt-generellen, Betrachtungsweise zeige sich unter anderem daran, dass ein einmaliges missbilligtes Fehlverhalten auf Dauer angelegt sein soll. Es müsse sich nicht wiederholen, es könne sogar revidiert werden und im aktuellen Leistungszeitraum keine Relevanz mehr haben (beispielsweise im Fall korrigierter Personalien und einer in der Vergangenheit liegenden Identitätstäuschung), ohne dass der dauerhafte Leistungsausschluss entfallen solle. In Konsequenz dessen könne die "abstrakte Betrachtungsweise" bei erwachsenen Leistungsberechtigten zu einem lebenslangen Ausschluss von privilegierten Leistungen führen und bei Kindern mindestens bis zur Vollendung des achtzehnten Lebensjahres (§ 2 Absatz 3 AsylbLG), wenn nicht ein schützenswerter, dauerhafter Aufenthaltsstatus erteilt werde, mit dem die Leistungsberechtigten aus dem Anwendungsbereich von § 1 AsylbLG herausfallen würden und die Möglichkeit des Zugangs zu anderen Sozialleistungssystemen (SGB II, SGB XII) eröffnet werde. Diese Konstellation ergebe sich zum Beispiel bei dauerhaft in der Bundesrepublik geduldeten Ausländern, die weder einen rechtmäßigen Aufenthaltsstatus erlangen würden, noch in ihr Heimatland abgeschoben würden. Verschärft würde diese Problematik dann noch, wenn beispielsweise Abschiebungshindernisse (§ 60 Absatz 7 AufenthG) festgestellt worden seien, so dass den Ausländern auch eine freiwillige Ausreise in ihr Heimatland unzumutbar geworden sei (beispielsweise bei dauerhafter Reiseunfähigkeit und aus familiären Gründen). Es wird daher als erwägenswert angesehen, nach einem gewissen Zeitablauf dem Rechtsmissbrauch keine Bedeutung mehr beizumessen, wenn die Ausländer trotz ungesicherten Aufenthaltsstatus dauerhaft in der Bundesrepublik Deutschland verbleiben und ihnen während eines langen Zeitraums ein rechtsmissbräuchliches Verhalten nicht erneut vorgeworfen werden kann. Hierdurch soll die fortwirkende Kausalität unterbrochen werden und berücksichtigt werden können, dass bestimmte Ereignisse zu einer Zäsur im Aufenthalt der Ausländer führen. Denn es wird als unverhältnismäßig angesehen, nicht mehr änderbares, zurückliegendes Fehlverhalten oder erst recht korrigiertes Fehlverhalten unbegrenzt fortwirken zu lassen. Vor diesem Hintergrund wird vorgeschlagen, im Falle eines Abschiebestopps, von Passlosigkeit bei Reiseunfähigkeit, zum Schutz der Familie gemäß Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG) sowie bei Anerkennung einer faktischen Inländereigenschaft gemäß Artikel 8 EMRK Ausnahmen vom Kausalzusammenhang zu machen (vergleiche zum Ganzen Oppermann in jurisPK - SGB XII, 1. Auflage 2010 vom 01.11.2010, Kommentierung zu § 2 AsylbLG, Rdnr 82 ff.).
Unter Berücksichtigung dieser zutreffenden Ausführungen hat die Kammer es als erforderlich erachtet, eine Ausnahme von der abstrakten Kausalität im konkreten Fall anzunehmen. Denn mit der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG hat die Ausländerbehörde die von ihr getroffene Entscheidung, aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber der Familie nicht mehr weiter zu verfolgen, durch Erteilung der zuvor genannten Erlaubnis umgesetzt. Akzeptiert jedoch die Ausländerbehörde unter Abwägung der persönlichen Interessen der Betroffenen und der öffentlichen Interessen den weiteren Verbleib der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland und perpetuiert diesen durch Erteilung entsprechender Aufenthaltserlaubnisse, kann von einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten nicht mehr ausgegangen werden.
Soweit die Beklagte auf einen Beschluss des LSG NRW vom 14.05.2009 (Aktenzeichen L 20 B 15/09 AY ER) verweist, in dem unter anderem ausgeführt wird, dass diejenigen, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 5 AufenthG haben, vollziehbar zur Ausreise verpflichtet sind und keine längerfristige Aufenthaltsperspektive hätten, führt dies vorliegend zu keinem anderen Ergebnis. Das LSG NRW vertritt in dieser Entscheidung zwar die Auffassung, dass Inhaber einer derartigen Aufenthaltserlaubnis kein verfestigtes Aufenthaltsrecht haben. Hintergrund dieser Entscheidung ist jedoch nicht die Differenzierung zwischen Leistungen nach § 2 und § 3 AsylbLG, sondern die Frage der Anwendbarkeit des Leistungsausschlusses gemäß § 7 Absatz 1 Satz 2 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) für Ausländer, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 5 AufenthG erhalten haben. Die Entscheidung steht daher den obigen Ausführungen nicht entgegen. Sie verdeutlicht vielmehr das bereits angesprochene Problem, das Ausländer unter Umständen trotz Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis dauerhaft vom Bezug anderweitiger existenzsichernder Leistungen, z.B. solcher nach dem SGB II, ausgeschlossen sein könnten. [...]