OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 14.02.2011 - 4 Bs 282/10 - asyl.net: M18564
https://www.asyl.net/rsdb/M18564
Leitsatz:

1. Zur Fähigkeit eines Minderjährigen, einen Antrag auf Inobhutnahme zu stellen und zu verfolgen.

2. Zum Anspruch eines unbegleiteten Flüchtlings, dessen Minderjährigkeit zweifelhaft ist, auf vorläufige Unterbringung und Versorgung in einer Einrichtung der Jugendhilfe.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: unbegleitete Minderjährige, Inobhutnahme, vorläufige Unterbringung, Jugendhilfe, Kindeswohl, Volljährigkeit,
Normen: SGB I § 36 Abs. 1 S. 1, SGB VIII § 42, SGB VIII § 42 Abs. 1 S. 2, SGB VIII § 42 Abs. 2 S. 3,
Auszüge:

[...]

b) Die Beschwerde hat jedoch Erfolg, soweit der Antragsteller sich dagegen wendet, dass das Verwaltungsgericht es auch abgelehnt hat, die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, ihn einstweilen bis zur Klärung seines Lebensalters vorläufig in einer Einrichtung der Jugendhilfe unterzubringen.

aa) Der in erster und zweiter Instanz gestellte Antrag des Antragstellers, ihn in Obhut zu nehmen, umfasst als "Minus" das Begehren, vorläufig bis zur Aufklärung des Sachverhalts durch die Antragsgegnerin in einer Einrichtung der Jugendhilfe untergebracht und betreut zu werden. Denn mit seinem Begehren auf Inobhutnahme geht es ihm auch darum, in eine Einrichtung der Jugendhilfe aufgenommen zu werden.

bb) Mit seiner Beschwerdebegründung, auf die gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO abzustellen ist, hat der Antragsteller die Entscheidung des Verwaltungsgerichts hinsichtlich der versagten vorläufigen Unterbringung und Versorgung hinreichend in Zweifel gezogen. Er hat zutreffend darauf abgestellt, dass die Antragsgegnerin nach ihrer Verwaltungspraxis bei Zweifeln an der Minderjährigkeit des ausländischen Flüchtlings diesen zunächst aufnimmt und dass das Verwaltungsgericht selbst eine sachverständige Untersuchung durch ein Altersgutachten für notwendig erachtet hat.

cc) Aus den vom Antragsteller dargelegten Gründen hat die Beschwerde hinsichtlich der vorläufigen Aufnahme auch in der Sache Erfolg. Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.

(1) Der Antragsteller hat mit der für eine Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit einen Anordnungsanspruch nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO glaubhaft gemacht. Der Anordnungsanspruch ergibt sich entweder aus einer analogen Anwendung von § 42 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 3 SGB VIII oder daraus, dass die Antragsgegnerin verpflichtet ist, den Antragsteller wie vergleichbare andere Hilfesuchende zu behandeln und ihn entsprechend ihrer ständigen Verwaltungspraxis vorläufig unterzubringen.

Es kann dahingestellt bleiben, ob in Zweifelsfällen, in denen eine behauptete Minderjährigkeit zwar nicht glaubhaft gemacht wurde, jedoch nach den Gesamtumständen in Betracht kommt, eine analoge Anwendung von § 42 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 3 SGB VIII gerechtfertigt ist und sich der geltend gemachte Anspruch des Antragstellers bereits hieraus ergibt. Danach hat das Jugendamt im Falle einer Inobhutnahme das Kind oder den Jugendlichen vorläufig bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen (§ 42 Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz SGB VIII), und es hat während der Inobhutnahme für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen zu sorgen und dabei den notwendigen Unterhalt und die Krankenhilfe sicherzustellen (§ 42 Abs. 2 Satz 3 SGB VIII). Die sich in diesem Zusammenhang stellenden Fragen bedürfen angesichts der ständigen Verwaltungspraxis der Antragsgegnerin keiner Entscheidung. Der Antragsteller hat aus Art. 3 Abs. 1 GG einen Anspruch auf Gleichbehandlung im Rahmen dieser Verwaltungspraxis. Diese vermittelt ihm den geltend gemachten Anspruch, vorläufig bis zur Klärung seines Lebensalters und der damit verbundenen Entscheidung über die Inobhutnahme vorläufig in einer Einrichtung der Jugendhilfe aufgenommen und versorgt zu werden. Im Einzelnen:

Dem Senat ist aus verschiedenen Eilverfahren (4 Bs 6/11, 4 Bs 7/11, 4 Bs 8/11, 4 Bs 9/11 und 4 Bs 10/11) bekannt, dass die Antragsgegnerin regelhaft nach den "Informationen zur Erstversorgung minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge" (Stand Januar 2011, veröffentlicht unter der Adresse www.hamburg.de/contentblob/2672526/data/doku-2010.pdf) verfährt. Hierauf sind die Beteiligten auch in diesem Beschwerdeverfahren hingewiesen worden. Die Antragsgegnerin hat nicht erklärt, dass sie sich hieran nicht mehr hält. Diese Verfahrensrichtlinie (vgl. Seite 2 f.) sieht vor, dass zur Feststellung der Minderjährigkeitinsbesondere biografische Fakten wie altersmäßige Einordnung in die Familienkonstellation, das äußere Erscheinungsbild sowie ggf. vorgelegte Dokumente zum Identitätsnachweis herangezogen werden können. Auf dieser Grundlage schätzt die Antragsgegnerin das Alter ein. Dabei hat die Antragsgegnerin folgende Entscheidungsmöglichkeiten vorgesehen (vgl. S. 3 der Verfahrensrichtlinie):

"- In den Fällen, bei denen offenkundig Zweifel an der Altersangabe (Minderjährigkeit) bestehen, weil es aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes, des Entwicklungsstandes und des Gesamteindrucks, der in einem Gespräch mit Hilfe eines Sprachmittlers gewonnen wird, ausgeschlossen scheint, dass die Person minderjährig ist (vgl. § 21 SGB X), lehnt die Freie und Hansestadt Hamburg die Inobhutnahme ab.

- In Fällen, in denen auf eine Volljährigkeit nicht eindeutig geschlossen werden kann, wird zunächst Minderjährigkeit angenommen, dieser Sachverhalt jedoch durch eine medizinische Altersfeststellung überprüft.

Dokumentation der Einschätzung wird vermerkt, wenn es eine offenkundige Abweichung zwischen dem angegebenen und dem eingeschätzten Alter gibt."

Diese Aufstellung zeigt, dass eine Inobhutnahme nur abgelehnt wird, wenn offenkundig Volljährigkeit vorliegt (1. Spiegelstrich). Bleibt diese zweifelhaft, so wird hingegen zunächst Minderjährigkeit angenommen (2. Spiegelstrich). Der Betreffende wird so behandelt als wäre er minderjährig. Konkret heißt das, bei ihm wird nicht – wie bei einem offensichtlich Volljährigen – die Inobhutnahme abgelehnt, und er wird nicht wie dieser der Einrichtung verwiesen. Vielmehr wird er einstweilen, nämlich bis zur Klärung seines Alters und damit der Voraussetzungen für eine Inobhutnahme, in einer Einrichtung der Jugendhilfe untergebracht und versorgt.

Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass ein solcher Anwendungsfall des 2. Spiegelstrichs der genannten Verwaltungsrichtlinie gegeben ist. Nach den dem Beschwerdegericht vorliegenden Informationen, die sich mangels weitergehender Dokumentation durch die Antragsgegnerin im Wesentlichen auf ein tabellarisches Protokoll und eine Entscheidungsbegründung im sogenannten Multiple-Choice-Verfahren (Mehrfachauswahl), jeweils vom 28. November 2010 (insgesamt 3 Blatt), beschränken, kann Minderjährigkeit nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.

(a) Aufgrund der eigenen Angaben des Antragstellers ist nicht davon auszugehen, dass er volljährig ist. Vielmehr kommt hiernach Minderjährigkeit in Betracht.

Aus den tabellarisch festgehaltenen Informationen über den Antragsteller (Gesprächsdokumentation v. 28.11.2010 = Bl. 31-33 d.A.) ergibt sich nicht, dass er das 18. Lebensjahr mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits vollendet hat. Er trägt danach vielmehr vor, 16 Jahre alt zu sein. Biographische Angaben des Antragstellers, die Volljährigkeit nahelegen, fehlen in der Dokumentation der Antragsgegnerin ebenfalls. Zu denken ist etwa an Rückschlüsse aus dem Alter der Eltern/Geschwister, den Daten zur Einschulung/Beendigung der Schule, Zeiten von Berufs- bzw. Arbeitstätigkeit oder einer Passbeschaffung durch den Betroffenen selbst (vgl. die formularmäßigen Vorgaben in der Gesprächsdokumentation der Antragsgegnerin, dort Bl. 3 = Bl. 33 d.A.). Derartige Gesichtspunkte hat die Antragsgegnerin nicht dokumentiert. Blatt 3 des von der Antragsgegnerin benutzten Vordrucks ist von den das Gespräch führenden Sozialpädagogen im maßgeblichen Bereich nicht ausgefüllt worden.

Biografische Angaben, die den Schluss rechtfertigten, der Antragsteller sei volljährig, ergeben sich ferner nicht aus der später vom Verwaltungsgericht auf Grundlage von § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO herangezogenen Niederschrift des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. Dezember 2010 über eine Anhörung gem. § 25 AsylVfG vom 3. Dezember 2010. Der Inhalt der Niederschrift ist hinsichtlich der Frage, ob Voll- bzw. Minderjährigkeit vorliegt, unergiebig. Die Erklärung des Antragstellers, bis zum 12. Lebensjahr die Schule (im Iran) besucht zu haben, lässt in Verbindung mit dem in der Niederschrift weiter angeführten letzten Schuljahr ("entweder 2004 oder 2005", Bl. 4 der Niederschrift = Bl. 45 d.A.) nicht den Schluss zu, der Antragsteller sei volljährig. Diese – vom Antragsteller jedenfalls hinsichtlich des letzten Schuljahres zudem bestrittenen – Angaben sind zwar mit der Einlassung, 16 Jahre alt zu sein, nicht vereinbar. Es kommt danach aber in Betracht, dass der Antragsteller erst das 17., nicht aber bereits das 18. Lebensjahr vollendet hat.

(b) Die von der Antragsgegnerin getroffenen Feststellungen erlauben ebenfalls nicht den Schluss, der Antragsteller sei volljährig.

Die Antragsgegnerin hat nicht in einer für das Beschwerdegericht nachvollziehbaren Weise dargelegt, dass nach den dokumentierten Wahrnehmungen ihrer Mitarbeiter eine Minderjährigkeit des Antragstellers auszuschließen ist. Denn eine nach dem subjektiven Empfinden ausgeprägte Stirnfalte, eine wohl als tief interpretierte Stimmlage, Bartwuchs und ein als postpubertär eingeschätzter Körperbau (vgl. Bl. 3 der Dokumentation = Bl. 33 d.A.) können nach allgemeiner Lebenserfahrung durchaus auch bereits einem Minderjährigen zugeschrieben werden. Ein entsprechender Entwicklungsstand erscheint bei einem Jugendlichen im Alter von 16 oder 17 Jahren nicht ungewöhnlich.

Soweit die Antragsgegnerin die Verlässlichkeit der vorgenommenen Schätzung mit der fachlichen Qualifikation ihrer Mitarbeiter begründet, führt dies nicht weiter. Selbst wenn die eingesetzten Sozialpädagogen auch in Zweifelsfällen insbesondere unter Würdigung des Verhaltens des Betroffenen im Aufnahmegespräch mit der erforderlichen Sicherheit auf Minderjährigkeit bzw. Volljährigkeit des Befragten schließen könnten, ist ein solches Vorgehen im Falle des Antragstellers weder dokumentiert noch in Form einer für das Gericht nachvollziehbaren sachverständigen Stellungnahme begründet worden.

(2) Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Er hat geltend gemacht, in der Unterkunft für Erwachsene, in der er derzeit lebe, gebe es ständig Streit, es werde Alkohol konsumiert und es werde aus den Zimmern gestohlen. Diese Nachteile sind gewichtig. Dem Antragsteller ist nicht zuzumuten, diese Nachteile bis zur Klärung seines Alters hinzunehmen.

(3) Die getroffene Regelung ist gerechtfertigt, obwohl sie insoweit, als die Antragsgegnerin den Antragsteller bis zur Entscheidung über seinen Widerspruch unterzubringen und zu versorgen hat, eine Vorwegnahme der Hauptsache darstellt. Dies ist aus Gründen der Effektivität des Rechtsschutzes erforderlich, da die Leistungen, die der Antragsteller insoweit begehrt, nicht nachholbar sind. [...]