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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 28.04.2011 - V ZB 292/10 - asyl.net: M18565
https://www.asyl.net/rsdb/M18565
Leitsatz:

Die Rechtsbeschwerde ist auch dann ohne Zulassung statthaft, wenn sie sich gegen die Zurückweisung einer Beschwerde gegen einen Haftaufhebungsantrag richtet. Das Rechtsmittelgericht kann in einem solchen Fall die Rechtsverletzung (erst) ab Eingang des Haftaufhebungsantrag beim Gericht des ersten Rechtszugs feststellen.

Schlagwörter: Zurückschiebungshaft, Haftantrag, Einvernehmen der Staatsanwaltschaft zur Abschiebung, Strafverfahren, Rechtskraft,
Normen: FamFG § 426 Abs. 2 S. 1, FamFG § 62 Abs. 1, AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1
Auszüge:

[...]

1. Die Rechtsbeschwerde ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG statthaft und auch im Übrigen zulässig.

a) Statthaft ist auch eine Rechtsbeschwerde mit dem Ziel, die Rechtsverletzung des Betroffenen durch die Zurückweisung eines Antrags auf Haftaufhebung nach § 426 Abs. 2 Satz 1 FamFG festzustellen.

Für diesen Feststellungsantrag kann nichts anderes gelten als für entsprechende Anträge nach Erledigung gegen die Haftanordnung eingelegter Beschwerden, in denen Feststellungsanträge analog § 62 Abs. 1 FamFG auch im Rechtsbeschwerdeverfahren gestellt werden können, ohne dass es einer Zulassung des Rechtsmittels bedarf (std. Rspr.: vgl. Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150, 151 Rn. 9, 10; Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 153 Rn. 4). Die besonderen Rechtsschutzmöglichkeiten beruhen auf dem Rehabilitierungsinteresse des Betroffenen nach einem Eingriff in sein Freiheitsgrundrecht und hängen nicht von dem konkreten Ablauf des Verfahrens ab (vgl. BVerfGE 104, 220, 235).

b) Die Rechtsbeschwerde ist auch dann ohne Zulassung statthaft, wenn - wie hier - das Beschwerdegericht über einen Feststellungsantrag nach § 62 Abs. 1 FamFG entschieden hat und in dem Rechtsbeschwerdeverfahren die Überprüfung dieser Entscheidung verlangt wird (Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27 Rn. 4).

2. In der Sache hat die Rechtsbeschwerde teilweise Erfolg. Die Zurückweisung des Aufhebungsantrags hat ab dessen Eingang bei dem Amtsgericht am 6. November 2009 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, weil schon kein zulässiger Haftantrag vorlag.

a) Das Fehlen des nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG auch für die Zurückschiebung erforderlichen Einvernehmens der zuständigen Staatsanwaltschaft führt nicht nur zur Unzulässigkeit der Haft, sondern zur Unzulässigkeit des Haftantrags, wenn sich aus ihm oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne weiteres ergibt, dass gegen den Betroffenen ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig ist und der Antrag zu dem Vorliegen des Einvernehmens keine Angaben enthält (Senat, Beschluss vom 24. Februar 2011 - V ZB 202/10, juris Rn. 7, 10 ff.).

So ist es hier. In dem von der Beteiligten zu 2 am 22. September 2009 gestellten Haftantrag heißt es unter "III. Sachverhalt" u.a.: "Seitens der hiesigen Dienststelle wurde ein Strafverfahren wegen der unerlaubten Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet gegen den o.a. afghanischen Staatsangehörigen eingeleitet." Angaben dazu, ob das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft mit der Zurückschiebung vorliegt, enthält der Antrag nicht.

b) Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (Senat, Beschluss vom 9. Dezember 2010 - V ZB 136/10, juris Rn. 6 mwN). Es ist deshalb unerheblich, dass der Betroffene das Fehlen dieser Verfahrensvoraussetzung weder in den Vorinstanzen noch in der Rechtsbeschwerdebegründung gerügt hat.

c) Gleichwohl ist die Rechtsbeschwerde unbegründet, soweit es um die Feststellung der Rechtsverletzung durch die Haftanordnung von Anfang geht. Dieser Feststellung steht die formelle Rechtskraft des Beschlusses des Amtsgerichts vom 22. September 2009 (Haftanordnung) entgegen.

aa) Zwar ist vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben, die an einen wirkungsvollen Rechtsschutz bei prozessualer Überholung zu stellen sind, ein Rechtsschutzinteresse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme regelmäßig gegeben (siehe nur BVerfGE 104, 220, 234; Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 116/10, juris Rn. 8 mwN). Dieses rechtliche Interesse erlaubt jedoch nicht die Stellung eines Feststellungsantrags losgelöst von dem jeweils bestehenden Rechtsschutzsystem, sofern es dem Betroffenen zumutbar und möglich war, eine von der Verfahrensordnung bereitgestellte Rechtsschutzmöglichkeit zu ergreifen; besteht eine solche Möglichkeit, kann von dem Betroffenen erwartet werden, dass er diese wahrnimmt (Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 116/10, juris aaO).

bb) Diese Voraussetzung liegt hier vor. Gegen den Beschluss, mit dem das Amtsgericht die Haft angeordnet hat, hat der Betroffene kein Rechtsmittel eingelegt.

d) Die formelle Rechtskraft der Entscheidung über die Haftanordnung kann auch nicht durch das Verfahren auf Aufhebung der Haft nach § 426 Abs. 2 Satz 1 FamFG durchbrochen werden. Zwar sind Entscheidungen über die Anordnung der Haft nicht der materiellen Rechtskraft fähig, so dass ein Betroffener den Haftaufhebungsantrag nicht nur auf neue Umstände, sondern auch auf Einwände gegen die erstmalige Anordnung der Haft stützen kann (Senat, Beschluss vom 18. September 2008 - V ZB 129/08, NJW 2009, 299, 300 zu § 10 Abs. 2 FEVG). Diese Berücksichtigung von Einwänden gegen die Haftanordnung bei der Prüfung der Haftaufhebung führt aber nicht dazu, dass die formelle Rechtskraft unterlaufen werden darf (OLG München, FGPrax 2005, 276, 277; Keidel/Budde, FamFG 16. Aufl., § 62 Rn. 5; offengelassen von KG, NVwZ-RR 2009, 222, 223).

e) Begründet ist die Rechtsbeschwerde jedoch insoweit, als das Beschwerdegericht den Feststellungsantrag auch für den Zeitraum ab dem Eingang des Haftaufhebungsantrags bei dem Amtsgericht am 6. November 2009 zurückgewiesen hat. Insoweit sind seine Entscheidung und auf die Beschwerde des Betroffenen auch die Entscheidung des Amtsgerichts vom 22. Juli 2010 aufzuheben.

IV. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 81 Abs. 1, 83 Abs. 2, 430 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, die Bundesrepublik Deutschland, der die beteiligte Behörde angehört, zur Erstattung eines Teils der notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten. Die Kostenquote entspricht dem Verhältnis des gesamten Haftzeitraums zu dem Zeitraum, für den die Rechtsmittel Erfolg haben. [...]