VG Leipzig

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Zitieren als:
VG Leipzig, Beschluss vom 17.05.2011 - 3 L 234/11 - asyl.net: M18568
https://www.asyl.net/rsdb/M18568
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz gegen Abschiebung zur Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage der Gesundheitsgefahr bzw. Suizidgefahr wegen der Abschiebung (Reisefähigkeit).Das eingeholte amtsärztliche Gutachten leidet an erheblichen Mängeln und ist daher nicht verwertbar.

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, Duldung, Abschiebung, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Abschiebungshindernis, psychische Erkrankung, Depression, Suizidgefahr, Sachverständigengutachten, Amtsermittlung, Reisefähigkeit, rechtliche Unmöglichkeit, Verwertbarkeit, Türkei
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 2, GG Art. 2 Abs. 2
Auszüge:

[...] Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat Erfolg. [...]

Angesicht der konkret geplanten Abschiebung des Antragstellers, die noch von der jederzeit möglichen Vorlage der bei der Botschaft der Türkei in Berlin angeforderten Reisedokumente abhängt, liegt der Anordnungsgrund der Eilbedürftigkeit vor.

Ebenso wurde der erforderliche Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Der Antragsteller hat unter Zugrundelegung des bisherigen Sach- und Streitstandes und für die vorzunehmende Interessenabwägung hinreichend glaubhaft gemacht, dass seiner Abschiebung im konkreten Einzelfall ein rechtliches Abschiebungshindernis i.S.v. § 60a Abs. 2 AufenthG wegen seiner diagnostizierten psychischen Erkrankung entgegen stehen könnte. Für die vorliegende Entscheidung kommt es dabei allein darauf an, ob sich der Gesundheitszustand des Antragstellers allein durch seine Abschiebung erheblich verschlechtern wird und damit die Voraussetzungen für die Erteilung einer Duldung gemäß § 60a AufenthG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 GG gegeben sind. Unerheblich ist, ob seine Krankheit in der Türkei sachgerecht behandelt werden kann. Diese Frage bleibt dem asylrechtlichen (Folge-) Verfahren vorbehalten und wurde bereits im Beschluss des VG Leipzig vom 9.3.2011 - 5 L 64/11 - entschieden.

Ob letztlich die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2 AufenthG vorliegen, kann derzeit nicht abschließend festgestellt werden. Hierzu ist zunächst die Klärung der "Reisefähigkeit" des Antragstellers unter Prüfung und Benennung von Schutzmaßnahmen erforderlich, und zwar angesichts seiner besonderen schwer zu beurteilenden gesundheitlichen Situation im Wege der Begutachtung durch einen medizinischen Sachverständigen. Dementsprechend ist die Abschiebung vorläufig zu untersagen, da die Interessen des Antragstellers dem öffentlichen Interesse an einer Abschiebung vorgehen. Sollte der Krankheitszustand des Antragstellers nämlich einer Abschiebung derzeit entgegenstehen, wären die Nachteile, die dieser im Falle eines Vollzugs der Abschiebung zu erdulden hätte, ungleich schwerere als der Nachteil, den die öffentliche Hand durch eine vorläufige Untersagung der Abschiebung erfahren würde.

Dies ergibt sich aus Folgendem:

Die Abschiebung eines Ausländers ist gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Eine rechtliche Unmöglichkeit in diesem Sinne kann sich dabei insbesondere aus dem von Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz - GG - geschützten Recht der körperlichen Unversehrtheit ergeben. Ist die Gesundheit des Abzuschiebenden so angegriffen, dass das ernsthafte Risiko besteht, unmittelbar durch die Abschiebung werde der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert, liegt Reiseunfähigkeit vor, es sei denn, dass effektive Schutzmaßnahmen getroffen werden können (vgl. u.a. OVG Saarland, Beschl. v. 14.9.2010 - 2 B 210/10 -; VGH Mannheim, Beschl. v. 6.2.2008 - 11 S 2439/07 -, jeweils zitiert nach Juris)). Auch eine konkrete, ernstliche Suizidgefährdung mit Krankheitswert kann zu einem solchen Abschiebungshindernis führen (vgl. OVG NW, Beschl. v. 27.07.2006 - 18 B 586/06 -, NWVBl. 2007, 55). Die mit dem Vollzug der Abschiebung betraute Stelle ist von Amts wegen in jedem Stadium der Durchführung der Abschiebung zur Prüfung von Abschiebehindernissen verpflichtet und hat gegebenenfalls durch ein (vorübergehendes) Absehen von der Abschiebung (Duldung) oder durch eine entsprechende tatsächliche Gestaltung der Abschiebung die notwendigen Vorkehrungen zu treffen (BVerfG, Kammerbeschl. v. 26.02.1998 - 2 BvR 185/98 -, InfAuslR 1998, 241). Die Abschiebung eines Ausländers hat insbesondere einstweilen zu unterbleiben, solange nicht eine amtsärztliche Begutachtung das Fehlen einer Suizidgefahr feststellt (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 09.02.1995 - 2 BvQ 7/95 -, AuAS 1995, 54). Krankheitsbedingte Gefahren, die sich vor oder bei der Abschiebung realisieren können, sind als inlandsbezogene Abschiebungshindemisse von der Verwaltungsbehörde zu prüfen und können einer Abschiebung entgegenstehen.

Dass der Antragsteller reiseunfähig in diesem Sinne ist und damit ein Abschiebehindernis vorliegt, kann derzeit aufgrund der vorgelegten ärztlichen Atteste einerseits und des amtsärztlichen Gutachtens andererseits aber nicht ausgeschlossen werden.

Der Antragsgegner kann sich zur Annahme der Reisefähigkeit des Antragstellers nicht auf das amtsärztlichen Gutachten des Landkreises Leipzig vom 19.4.2011 berufen, da dieses an erheblichen Mängeln leidet, die eine Verwertbarkeit ausschließen. Die Amtsärztin führt in ihrem Gutachten aus, dass der Antragsteller nach Einschätzung der behandelnden Ärzte im Krankenhaus ... an einer "überrationalen Angst vor Abschiebung" leide und dieser bei der anstehenden Abschiebung mit Sicherheit einen Suizidversuch unternehmen werde. Dabei handele es sich aber um eine demonstrative Maßnahme zur Verhinderung der bestehenden Abschiebung und sei das Verhalten des Antragstellers nicht aus einer psychischen Erkrankung heraus zu definieren.

Anhand der Aktenlage und dem Vortrag des Antragsgegners, der sich dieses Gutachten zu Eigen macht, lässt sich nicht feststellen, worauf diese Erkenntnisse der Amtsärztin beruhen. Offensichtlich hat diese weder eine Untersuchung des Antragstellers vorgenommen noch sich dezidiert mit dessen Krankenunterlagen auseinandergesetzt. Jedenfalls bestehen nach Aktenlage Zweifel daran, dass die Amtsärztin neben den vom Antragsteller vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen weitere Unterlagen beigezogen hat, um eine Einschätzung des Gesundheitszustandes vornehmen zu können. So hat diese auch im Wesentlichen die Feststellungen und die Formulierung hierzu aus dem amtsärztlichen Gutachten vom 8.10.2008 übernommen, was ebenfalls die Annahme zulässt, dass eine erforderliche Auseinandersetzung mit der gesamten psychischen Krankengeschichte des Antragstellers nicht stattfand. Der im Gutachten vom 19.4.2011 als Bearbeiter aufgeführte Facharzt für Neurologie/Psychiatrie hat das Gutachten nicht unterschrieben, so dass nicht ersichtlich ist, ob und inwieweit überhaupt ein Facharzt an der Erstellung des amtsärztlichen Gutachtens mitgewirkt hat. Auf eine aktuelle amtsärztliche, fachärztliche Untersuchung kann hier jedoch nicht verzichtet werden. Denn das amtsärztliche Gutachten steht in Widerspruch zu der ärztlichen Stellungnahme vom 28.2.2011 der den Antragsteller behandelnden Ärzte der Klinik ..., in der der Antragsteller vom 10.3.2011 bis 20.4.2011 in stationärer Behandlung war, und dem Entlassungsbericht vom 20.4.2011. Die vorgelegten Atteste belegen eine psychische Erkrankung des Antragstellers, die auch auf die Angst vor Abschiebung zurückzuführen ist und dass sich bereits im Falle einer Androhung der Abschiebung dieser Zustand verschlechtern würde. Hierzu wird ausgeführt, dass der Antragsteller an einem "schweren depressiven Symptom mit psychotischer Symptomatik" und "andauernder Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung" leidet, dass das jetzige Ausmaß der Ängste durch die Ankündigung der Rückführung hervorgerufen wurde und das daraus resultierende Syndrom eng mit der Türkei als Aufenthaltsort verbunden ist. Bereits beim Versuch der Rückführung sei mit einer wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu rechnen.

Die Feststellungen des amtsärztlichen Gutachtens, die Angst des Antragstellers beruhe auf einer demonstrativen Maßnahme zur Verhinderung der Abschiebung und nicht auf einer psychischen Erkrankung, stehen in Widerspruch hierzu, ohne dass erkennbar wird, weshalb die Stellungnahmen der behandelnden Ärzte unzutreffend oder irrelevant sein sollten.

Daher lässt sich derzeit weder beurteilen, ob und inwieweit der Antragsteller psychisch erkrankt ist, noch ob eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes im Zusammenhang mit der Abschiebung droht, ob die vom Antragsgegner beabsichtigten Maßnahmen einer ärztlichen Betreuung während des Fluges ausreichend sind, um eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Antragstellers oder eine Suizidgefahr auszuschließen. Auch mit letzterem setzt sich das amtsärztliche Gutachten nicht auseinander. Es wird daher auch zu prüfen sein, ob und gegebenenfalls mit welchen Schutzmaßnahmen eine Abschiebung des Antragstellers bei einer psychischen Erkrankung und der festgestellten Suizidgefahr derzeit durchgeführt werden kann. Ein amtsärztliches Gutachten, welches allein zu dem Zweck "Feststellung der Reisefähigkeit" eingeholt wird, erfasst nach dem oben Ausgeführten nämlich auch und gerade die ärztliche Prüfung/Bestätigung von im Falle einer Abschiebung zu ergreifender Schutzmaßnahmen für den Antragsteller. Bereits im Vorfeld der Abschiebung muss die Behörde zudem konkretisieren, welche Vorkehrungen sie im Einzelnen getroffen hat, um einen Suizid des Antragstellers im Zusammenhang mit der geplanten Abschiebung zu verhindern. Dabei ist eine Gefährdung auch im Zeitraum zwischen der Ankündigung der Abschiebung und der Durchführung ggf. durch Prüfung entsprechender Sicherungsmaßnahmen zu minimieren (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 6.2.2008, a.a.O.; OVG NRW, Beschl. v. 15.10.2010 - 18 A 2088/10 -). [...]