Flüchtlingsanerkennung, da dem Kläger als kurdischem Volkszugehörigen bei einer Rückkehr nach Syrien aufgrund seiner Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung in Deutschland und seines Verhaltens im Exil Verfolgung droht. Es liegen ernstzunehmende Erkenntnisse über willkürliche Verhaftungen durch syrische Stellen bei abgeschobenen syrischen Exilanten vor.
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Gemessen an diesen Anforderungen droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien politische Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger, wie von ihm geltend gemacht, Syrien bereits politisch vorverfolgt verlassen hat. Jedenfalls ist in seinem Fall nunmehr ein relevanter Nachfluchtgrund i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 28 Abs. 1 a AsylVfG gegeben.
Vor dem Hintergrund der sich aus den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismitteln ergebenden Erkenntnislage zur Behandlung von abgeschobenen Asylbewerbern durch die syrischen Stellen liegen im Falle des Klägers Umstände vor, die geeignet sind, einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu begründen. Dem Kläger droht als kurdischen Volkszugehörigen bei einer Rückkehr nach Syrien aufgrund seiner Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung in Deutschland und seiner Behauptungen zur Begründung des Asylbegehrens nach Überzeugung des Gerichts gegenwärtig mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.
Seit Anfang des Jahres 2009 ist ein bilaterales Rückführungsübereinkommen in Kraft; dieses verpflichtet Syrien sowohl zur Rücknahme eigener Staatsangehörigen als auch von Ausländern oder Staatenlosen, die über einen syrischen Aufenthaltstitel oder Visum verfügt haben (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 09.07.2009). Im ersten Halbjahr 2009 wurden 28 Personen mit syrischer Staatsangehörigkeit von Deutschland nach Syrien zurückgeführt (vgl. Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Ergänzungsbericht vom 28.12.2009 zum Lagebericht vom 09.07.2009), bis Ende des Jahres 2009 stieg diese Zahl auf 38 Personen an (vgl. Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Ergänzungsbericht vom 07.04.2010).
In der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Stellungnahme des Europäischen Zentrums für kurdische Studien Berlin (EZKS) vom 25.11.2009 an Herrn Rechtsanwalt Klaus Walliczek in Minden wird von zwei Fällen berichtet, in denen zum einen eine Familie und in dem anderen Fall eine Einzelperson nach der Rückführung aus Deutschland in Syrien verhaftet worden seien. Dem EZKS zufolge habe die verhaftete Familie einen Teil der Haftzeit in Räumen ohne Tageslicht verbringen müssen. Der Familie seien Schläge angedroht worden und sie sei aufgrund der fehlenden Arabischkenntnisse der Kinder beschimpft worden. Die Familie habe kaum Kontakt zur Außenwelt gehabt. Eine Person sei aufgrund ihrer Zuckerkrankheit in der Folge kollabiert. Einem Sohn sei angedroht worden, man werde ihm seinen Schuh in den Mund stopfen, wenn er nicht die Wahrheit sage. Am 29.10.2009 habe eine Verhandlung vor dem 3. Strafgericht in Damaskus stattgefunden. Der Familie sei vorgeworfen worden, das Land illegal verlassen zu haben. Der zweite berichtete Fall zeige, dass Inhaftierungen keinesfalls stets nach wenigen Tagen oder Wochen enden, sondern auch längerfristig andauern könnten. In jenem Fall sei eine Anklage unter Berufung auf Art. 287 des Syrischen Strafgesetzbuches erfolgt. Dieser Straftatbestand stelle die wissentliche falsche oder übertriebene Informationsverbreitung im Ausland unter Strafe. Der Betroffene habe in Deutschland an diversen Demonstrationen teilgenommen, sei jedoch weder Mitglied einer politischen Partei gewesen, noch habe er regimekritische Artikel im Internet oder anderswo veröffentlicht.
Offenbar sind auch dem Bundesinnenministerium Fälle von Verhaftungen von aus Deutschland abgeschobenen Syrern bekannt geworden. Einer zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Kleinen Anfrage der Abgeordneten Ina Korter und Filiz Polat (Grüne) zur Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 18.02.2010 und der diesbezüglichen Antwort der Landesregierung zufolge existiert ein Rundschreiben des Bundesinnenministeriums vom 16.12.2009 an die Innenministerien und Senatsverwaltungen der Länder. Das Länderrundschreiben vom 16.12.2009 enthalte den Hinweis, dass das Bundesamt wegen drei Inhaftierungsfällen nach Rückführung syrischer Staatsangehöriger unter anderem gebeten worden sei, Entscheidungen über Asylfolgeanträge vorläufig zurückzustellen, bis eine aktualisierte Lagebewertung des Auswärtigen Amtes vorliege. Bis dahin würden die Länder gebeten, bei anstehenden Abschiebungen besonders sorgfältig zu prüfen.
Von drei Inhaftierungsfällen, die insgesamt sechs Personen betreffen, berichtet auch das Auswärtige Amt in seinem Ad-hoc-Ergänzungsbericht vom 28.12.2009 zum Lagebericht vom 09.07.2009 und in seinem Ad-hoc-Ergänzungsbericht vom 07.04.2010. Einem der dort genannten Fälle lässt sich die zum Gegenstand des Verfahrens gemachte Mitteilung von amnesty international vom 08.10.2009 auf der Internetseite der Organisation zuordnen.
Die vom Auswärtigen Amt bestätigten drei Inhaftierungsfälle greift das EZKS in seiner ebenfalls zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Stellungnahme vom 14.02.2010 an Herrn Rechtsanwalt Klaus Walliczek in Minden erneut auf und fuhrt hierzu nähere Details aus: [...] Das EZKS weist in seiner Stellungnahme vom 14.02.2010 schließlich daraufhin, dass es begonnen habe, weitere Fälle von in jüngster Vergangenheit aus Deutschland abgeschobenen Kurden, über deren Verbleib nichts bekannt sei, zu recherchieren. Bislang habe man eine weitere Person identifiziert, die 2009 nach Syrien abgeschoben und einem Bekannten zufolge dort festgenommen und gefoltert worden sei.
Der Ad-hoc-Ergänzungsbericht des Auswärtigen Amtes (vom 07.04.2010) enthält hinsichtlich der bekannt gewordenen Vorfälle nichts durchgreifend Neues, was diese in einem anderen Lichte erscheinen lassen würde.
Nach alledem liegen ernst zu nehmende Erkenntnisse über willkürliche Verhaftungen durch die syrischen Stellen bei abgeschobenen syrischen Exilanten vor, wobei sich ein bestimmter Verfolgungsmodus nicht erkennen lässt. Die Verhaftungen betreffen sowohl exilpolitisch tätige Exilsyrer, als auch Personen, die sich im Ausland nicht exilpolitisch betätigt haben. Dabei schrecken die syrischen Stellen offenbar auch nicht vor der Verhaftung ganzer Familien zurück. Soweit konkrete Vorwürfe gegenüber den Betroffenen überhaupt erhoben werden, reichen diese vom Vorwurf des illegalen Verlassens des Landes bis hin zum Vorwurf der wissentlichen Verbreitung von falschen oder übertriebenen Informationen im Ausland. Während der Haftzeit kommt es zu physischer und psychischer Folter sowie zu sonstiger menschenrechtswidriger Behandlung.
Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse sind nach Überzeugung des Gerichts der Weggang des Klägers ins Ausland und dessen Exilverhalten geeignet, eine Rückkehrgefährdung des Klägers mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auszulösen. Nach dem Weggang des Klägers ins Ausland und seiner Asylantragstellung in Deutschland ist in Ansehung seiner kurdischen Volkszugehörigkeit, der Art und des Inhalts seines Vorbringens zur Begründung seines Asylbegehrens - gleichgültig, ob in Gänze zutreffend oder nicht - davon auszugehen, dass die syrischen Sicherheitskräfte an ihm ein ernsthaftes Verfolgungsinteresse haben könnten. Es ist zu befürchten, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit z.B. unter dem Vorwurf der Verbreitung von wissentlich falschen oder übertriebenen Informationen im Ausland oder auch aus schlicht nicht nachvollziehbaren Gründen ähnlichen Repressalien wie die Betroffenen in den genannten Referenzfällen ausgesetzt sein würde. Bei einer Rückkehr nach Syrien müsste er aller Voraussicht nach mit einer Festnahme und damit einhergehender menschenrechtswidriger Behandlung rechnen. Unter diesen Umständen erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Rückkehr des Klägers in den Heimatstaat als unzumutbar.
Es liegen mithin bei dem Kläger die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG vor. [...]