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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 11.05.2011 - V ZB 265/10 - asyl.net: M18597
https://www.asyl.net/rsdb/M18597
Leitsatz:

Auch wenn der Haftrichter eine Haftdauer von weniger als drei Monaten anordnet, muss er eine Prognose darüber treffen, ob die Abschiebung bei realistischer Betrachtung innerhalb dieser Zeit erfolgen kann.

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Zurückschiebungshaft, Tschechische Republik, Dublinverfahren, Drei-Monats-Frist, Prognose, Verhältnismäßigkeit, Schwangerschaft, Beschleunigungsgebot
Normen: AufenthG § 57 Abs. 3, AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4, GG Art. 2 Abs. 2 S. 2, FamFG § 26
Auszüge:

[...]

2. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg, weil sowohl die Beschwerdeentscheidung als auch die Haftanordnung, die im Falle der Erledigung ebenfalls Gegenstand der Überprüfung ist (Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152 Rn. 14; Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 119/10, Rn. 6, juris, einer rechtlichen Prüfung nicht standhalten. Die Anordnung der Sicherungshaft war schon deshalb rechtswidrig, weil weder das Amtsgericht noch das Beschwerdegericht die erforderliche Prognose gemäß § 57 Abs. 3 i.V.m. § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG vorgenommen haben.

a) Die Haftgerichte sind auf Grund von Art. 20 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich und auf Grund von § 26 FamFG einfachrechtlich verpflichtet, das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungshaft in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend zu prüfen. Insbesondere die für die Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG notwendige Prognose hat der Haftrichter auf der Grundlage einer hinreichend vollständigen Tatsachengrundlage zu treffen. Die Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt auch insoweit Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für die Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (BVerfG, NJW 2009, 2659, 2660; Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 329 f. Rn. 14; Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, Rn. 15, juris).

b) Auch wenn der Haftrichter eine Haftdauer von weniger als drei Monaten anordnet, muss er eine Prognose darüber treffen, ob die Abschiebung bei realistischer Betrachtung innerhalb dieser Zeit erfolgen kann. Das ergibt sich schon daraus, dass § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG eine Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist (vgl. BVerfG, NJW 2009, 2659). Die Prognose muss sich grundsätzlich auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Gründe erstrecken, die der Zurückschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können (Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27 Rn. 22; Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 119/10, Rn. 22, juris). Zu der Feststellung, ob die Zurückschiebung innerhalb der angeordneten Haftdauer möglich ist, sind konkrete Angaben zum Ablauf des Verfahrens und eine Darstellung erforderlich, in welchem Zeitraum die einzelnen Schritte unter normalen Bedingungen durchlaufen werden können. Soweit die Ausländerbehörde keine konkreten Tatsachen hierzu mitteilt, obliegt es gemäß § 26 FamFG dem Gericht nachzufragen (Senat, Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 193/09, InfAuslR 2010, 361, 363; Beschluss vom 8. Juli 2010 - V ZB 89/10, Rn. 8, juris; Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 119/10, Rn. 22 aaO).

c) Diesen Anforderungen genügen die angefochtenen Entscheidungen nicht.

aa) Aus der Entscheidung des Amtsgerichts geht eine Prognose nicht hervor. Die Tatsachengrundlage ist zudem unzureichend, weil sich der Entscheidung nicht entnehmen lässt, dass das Gericht überhaupt Kenntnis von dem Umstand hatte, dass der Betroffene in Begleitung seiner hochschwangeren Ehefrau eingereist war.

bb) Ebenso wenig lässt sich der Entscheidung des Beschwerdegerichts die erforderliche Prognose entnehmen. Es hat allerdings den Sachverhalt weiter aufgeklärt und ist davon ausgegangen, dass angesichts der Schwangerschaft eine Zurückschiebung des Betroffenen nur gemeinsam mit seiner Ehefrau in Betracht kommen werde. Wegen der laufenden Asylverfahren und der bevorstehenden Entbindung hat das Beschwerdegericht allenfalls ein kurzes Zeitfenster für die Durchführung der Zurückschiebung gesehen. Diesen Umstand hat es zwar zum Anlass genommen, die Behörde auf das Erfordernis einer größtmöglichen Beschleunigung hinzuweisen und die Haft zu verkürzen. Die Durchführbarkeit der Abschiebung als solche hat es aber nicht geprüft. Dazu bestand schon deshalb Anlass, weil sich die Ehefrau den Feststellungen zufolge im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung bereits in der 28./29. Schwangerschaftswoche und damit am Beginn des achten Schwangerschaftsmonats befand. Dass eine Flugreise deshalb problematisch war, hat das Beschwerdegericht erörtert, ohne jedoch auf die nahe liegende Frage einzugehen, ob eine Zurückschiebung bei realistischer Betrachtung nicht schon aus diesem Grund scheitern musste. Im Hinblick darauf hätte es gemäß § 26 FamFG Ermittlungen dazu durchführen müssen, ob der Gesundheitszustand der Ehefrau eine Flugreise noch erlaubte und ob sie von Seiten der Fluggesellschaften noch durchgeführt werden würde. Schließlich hat das Beschwerdegericht nicht festgestellt, dass mit einer Entscheidung über die Asylanträge durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu einem Zeitpunkt gerechnet werden konnte, in dem die Zurückschiebung noch erfolgen konnte. [...]