LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 09.05.2011 - L 12 AS 314/11 B ER - asyl.net: M18600
https://www.asyl.net/rsdb/M18600
Leitsatz:

Kein Leistungsausschluss in den ersten drei Monaten gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II für nachzugsberechtigte ausländische Familienangehörige von Deutschen, die Leistungen nach dem SGB II beziehen.

Schlagwörter: SGB II, Leistungsausschluss, Familiennachzug, deutscher Ehegatte, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, Familienangehörige, Schutz von Ehe und Familie, familiäre Lebensgemeinschaft
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, SGB II § 20, GG Art. 6
Auszüge:

[...]

2.) Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Der Senat hält es für angemessen, dem Antragsgegner im Rahmen der für die Kostengrundentscheidung anzustellenden Ermessenserwägungen, die auch und gerade die Prüfung der Erfolgsaussichten des betreffenden Rechtsbehelfs im Zeitpunkt des erledigenden Ereignisses beinhaltet, 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers aufzuerlegen. Denn bei summarischer Prüfung spricht vieles dafür, dass der Antragsteller für die Zeit vom 17.01.2011 bis 27.03.2011 einen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund hinsichtlich der Gewährung der Regelleistung nach § 20 SGB Il glaubhaft gemacht hat.

Der Antragsteller erfüllt die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Er hat das 15. Lebensjahr vollendet und ist hilfebedürftig, da er über kein Einkommen und Vermögen verfügt. Ferner ist er nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 8 SGB II erwerbsfähig, da ihm nach aktenkundigem Visum eine Erwerbstätigkeit gestattet ist (s. auch §§ 6 Abs. 4, 28 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes - [AufenthaltG]). Auch hat er seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.

Ob bei dem Antragsteller, der zum Zwecke des Familiennachzuges als russischer Staatsangehöriger zu seiner Ehefrau (deutsche Staatsangehörige), die als erwerbsfähige Hilfebedürftige Leistungen nach dem SGB II bezieht, in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist, der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II in der Zeit vom 28.12.2010 bis 27.03.2011 eingegriffen hat, ist nach summarischer Prüfung zweifelhaft, so dass ein Anordnungsanspruch nicht ohne Weiteres hätte verneint werden können. Der 19. Senat des LSG NRW hat in seinem eine PKH-Beschwerde im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes betreffenden Beschluss vom 07.12.2009 - L 19 B 363/09 AS - hierzu folgendes ausgeführt:

"Ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II zu Ungunsten der Antragstellerin zu 2) eingreift, ist nach summarischer Prüfung der Rechtslage offen. Die Ausschlussgründe des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 3 SGB II liegen nicht vor. Ob die Antragstellerin zu 2) dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II als nachzugsberechtigte Ehefrau eines deutschen Staatsangehörigen unterfällt, ist durch die Rechtsprechung noch nicht geklärt. Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II sind Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörige für die ersten drei Monate von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Offen ist, ob die Bestimmung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II sämtliche Ausländer erfasst, die erstmalig in die Bundesrepublik Deutschland einreisen [ ...] oder nur Unionsbürger, die dem Freizügigkeitsgesetz/EU unterfallen. Selbst wenn von der Bestimmung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II grundsätzlich sämtliche Ausländer erfasst werden, die erstmalig in die Bundesrepublik Deutschland einreisen, ist zweifelhaft, ob die Antragstellerin zu 2) dem Anwendungsbereich des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II unterliegt. Denn Familienangehörige, die zu einem sich im Bundesgebiet länger aufenthaltsberechtigten Ausländer einreisen, werden von diesem Leistungsausschluss nicht erfasst (Brühl/Schoch in LPK-SGB II, 3. Aufl., § 7 Rn 31). Vorliegend ist die Antragstellerin zu 2) zur Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft mit einem deutschen Staatsangehörigen eingereist. Ein sachlicher Grund für eine unterschiedliche Behandlung ist nicht ersichtlich. Auch unter Beachtung des Schutzes der Ehe durch Art. 6 GG, der ein Grundrecht auf Schutz vor Eingriffen des Staates, eine Institutsgarantie wie auch eine wertentscheidende Grundsatznorm für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts enthält, der auch für Ausländer gilt und das Interesse des deutschen Ehepartners schützt, seine Ehe als eine Lebensgemeinschaft gleichberechtigter Partner im Bundesgebiet fortzusetzen (BVerfG Beschluss vom 18.07.1979 - 1 BvR 650/77 = BVerfG 51, 386), spricht vieles für eine einschränkende Auslegung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II im Fall des Nachzugs eines ausländischen Familienangehörigen zu dem deutschen Ehepartner (siehe auch Dienstanweisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 7 SGB II), zumal der Gesetzgeber hinsichtlich der Vorgängervorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der ab dem 01.04.2006 bis zum 27.08.2007 geltenden Fassung in der Gesetzesbegründung ausdrücklich ausgeführt hatte, dass Unionsbürger - wie vorliegend die Antragstellerin zu 2) -, die als Familienangehörige eines Deutschen in die Bundesrepublik einreisen, von dem Leistungsausschluss nicht erfasst werden (BT Drs. 16/5065 S. 234). Des weiteren ist umstritten, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH gemeinschaftsrechtskonform ist (vgl. zum Meinungsstand LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 29.09.2009 - L 15 AS 905/09 B ER mit weiteren Rechtsprechungs- und Literaturhinweisen)."

Auch das Sozialgericht Nürnberg vertritt die Auffassung, dass ein nachzugsberechtigter, ausländischer Familienangehöriger einer/eines Deutschen, der/die als erwerbsfähige/r Hilfebedürftige/r Leistungen nach dem SGB II bezieht, nicht in den Anwendungsbereich des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II fällt (Urteil v. 26.08.2009 - S 20 AS 906/09 -). Hierzu führt es aus:

"Aus dem Regelungszusammenhang mit § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II und dem Wortlaut der Vorschrift wird erkennbar, dass der Leistungsausschluss Mitglieder von Bedarfsgemeinschaften erfassen soll, die aus einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, der nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, und seinen Angehörigen gebildet werden (siehe dazu auch BT-Drs. 16/5065, 234). Der Kläger gehört jedoch zu einer Bedarfsgemeinschaft, deren Anknüpfungspunkt seine erwerbsfähige, hilfebedürftige Ehefrau, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, bildet. Auch die Gesetzeshistorie und der Regelungszweck des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II sprechen dafür, dass Familienangehörige deutscher Erwerbsfähiger nicht von dem Leistungsausschluss erfasst werden. Nach der bis zum 27.08.2007 gültigen Fassung des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II waren vom Leistungsanspruch ausgenommen Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, ihre Familienangehörigen sowie Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes. Die Vorschrift ist wortgleich in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 u. 3 SGB II übernommen worden. Nach der Begründung des Gesetzgebers (BT-Drs. 16/5065, 13) sollten von der Regelung, die auf arbeitsuchende Ausländer und ihre Familienangehörigen zugeschnitten war, nicht Bürger erfasst werden, die als Familienangehörige eines Deutschen in die Bundesrepublik Deutschland einreisen. Am 28.08.2007 trat § 2 Abs. 5 Freizügigkeitsgesetz/EU in Kraft. Danach können sich Unionsbürger und ihre Familienangehörigen für drei Monate ohne besonderes Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Da solche Unionsbürger vom Wortlaut des bisher gültigen § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II nicht erfasst wurden, hat der Gesetzgeber mit Wirkung zum 28.08.2007 den Tatbestand des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II durch das Gesetz zur Umsetzung von aufenthalts- und asylrechtlichen Richtlinien der Europäischen Union neu geschaffen. Er hat dabei von der Option des Artikels 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Rates vom 29.04.2004 Gebrauch gemacht. Danach ist ein aufnehmender Mitgliedsstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens, zu gewähren. Zielsetzung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II ist es somit sicherzustellen, dass EU-Bürger und ihre Familienangehörigen auch in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland keine Ansprüche nach dem SGB II geltend machen können (vgl. BT-Drs. 16/5065). Nicht bezweckt ist dagegen, abweichend von der bis zum 27.08.2007 gültigen Gesetzeslage nunmehr auch Familienangehörige deutscher erwerbsfähiger Hilfebedürftiger in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts von Leistungen nach dem SGB II auszuschließen. Damit kann dahingestellt bleiben, ob eine solche Regelung im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz verfassungskonform wäre."

Der Senat schließt sich den Ausführungen des 19. Senats des LSG NRW und des Sozialgerichts Nürnberg nach eigener - summarischer - Prüfung an. Da somit vieles dafür gesprochen hat, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II auf den Antragsteller in der Zeit vom 28.12.2010 bis 27.03.2011 keine Anwendung findet, hätte ein Anordnungsanspruch für die - vorläufige - Gewährung von Leistungen nach dem SGB II nicht verneint werden können.

Ferner dürfte nach summarischer Prüfung auch ein Anordnungsgrund als Ergebnis einer Folgenabwägung bestanden haben. Der 19. Senat des LSG NRW hat im o.a. Beschluss vom 07.12.2009 (L 19 B 363/09 AS) hierzu folgendes ausgeführt:

"Nach summarischer Prüfung spricht aber vieles dafür, dass bei der - im Fall, dass eine abschließende Klärung der Rechtslage wegen derer Komplexität im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nicht möglich erscheint - vorzunehmenden Folgenabwägung (vgl. BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05) das Interesse der Antragstellerin zu 2) am Erlass der Regelungsanordnung überwogen hätte. Bei der Folgenabwägung sind die grundrechtlichen Belange der Antragstellerin zu 2) umfassend in die Abwägung einzubeziehen. Die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt (vgl. BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05). Daher scheint es nicht als ausgeschlossen, dass bei einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls - Schutz der Bedarfsgemeinschaft durch Art. 6 GG und Aufenthaltsrechts des nachzugsberechtigten ausländischen Ehegatten aus § 28 AufenthG im Regelfall ohne das Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts (vgl. hierzu Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Aufenthalts- und Ausländerrecht, § 28 Rn 10 - das Interesse der Antragstellerin zu 2) am Erlass der Regelungsanordnung überwogen hätte, weil ohne die zuerkannten Leistungen das Existenzminimum der Antragstellerin zu 2) nicht gedeckt gewesen wäre und die Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft mit dem Antragsteller zu 1), die durch Art. 6 GG geschützt ist, gefährdet gewesen wäre, zumal der Antragsteller zu 1) nicht in der Lage gewesen ist, die Antragstellerin zu 2) ohne Gefährdung seines soziokulturellen Existenzminimums aus eigenen Mitteln zu unterstützen. Durch die vorläufige Gewährung der Leistung wäre auch die Entscheidung in der Hauptsache schon deshalb nicht vorweggenommen worden, weil die Leistungen nur darlehensweise gewährt werden müssten. "

Diese Ausführungen zum Bestehen eines Anordnungsgrundes, denen sich der erkennende Senat vollumfänglich anschließt, sind auf den vorliegenden Fall übertragbar, wobei ergänzend anzumerken ist, dass dem Antragsteller bereits bei Visumerteilung die Erwerbstätigkeit erlaubt worden ist. Es ist mithin auch hier nicht ausgeschlossen, dass in der Zeit vom 28.12.2010 bis 27.03.2011 auch ein Anordnungsgrund bei dem Antragsteller bestand. Mithin hat viel dafür gesprochen, ihm vorläufig und darlehensweise Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Form der Regelleistung (§ 20 SGB II) in gesetzlicher Höhe zu gewähren, wohl jedoch nicht Kosten der Unterkunft und Heizung, da ein etwaig drohender Verlust der Wohnung nach Aktenlage im streitigen Zeitraum nicht ersichtlich war. Dies, die verbleibende Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Anwendung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II auf den Antragsteller sowie den Umstand, dass die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung für die Zeit vor Antragstellung (01.01.2011 bis 16.01.2011) ohnehin gefehlt haben (s.o.), hat der Senat bei der Quotelung im Rahmen der Kostengrundentscheidung nach § 193 SGG berücksichtigt. [...]