VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Beschluss vom 09.06.2011 - AN 11 E 11.30254 - asyl.net: M18632
https://www.asyl.net/rsdb/M18632
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz gegen Dubin-Überstellung nach Ungarn für einen unbegleiteten Minderjährigen. Im Hauptsacheverfahren ist zu klären, ob in Ungarn ein wirksamer Asylantrag gestellt wurde, die Aufnahme- und Haftbedingungen in Ungarn eine Dublin-Überstellung rechtlich zulassen und ob die Einreise wie vom Antragsteller behauptet womöglich über Griechenland erfolgt ist.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Suspensiveffekt, Ungarn, unbegleitete Minderjährige, Asylantrag, Wirksamkeit, Griechenland, Selbsteintritt, Ermessen, Aufnahmebedingungen, Haftbedingungen,
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VwGO § 80 Abs. 5, VO 343/2003 Art. 2 Bst. e, VO 343/2003 Art. 6 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Ein sicherer Erfolg des Hauptsacheverfahrens lässt sich nach dem Sachstand in diesem Eilverfahren zwar nicht eindeutig prognostizieren. Bei der gebotenen, aber hinreichenden summarischen Prüfung ergeben sich aber gleichwohl erhebliche Bedenken an der zu Grunde gelegten Rechtsgrundlage.

Zunächst erscheint der gestellte Eilantrag bei der hier gebotenen Prüfung nicht nach § 34a Abs. 2 AsylVfG ausgeschlossen. Zwar darf danach die Abschiebung nach Abs. 1 nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden. Nach der hier zu beachtenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (insbesondere vom 8. und 23.9.2009, vom 22.12.2009 und vom 25.1.2011, siehe auch EGMR vom 21.1.2011 unter Aufgabe der Entscheidung vom 2.12.2008, zitiert nach juris) gilt dieser Ausschluss des Eilrechtsschutzes zwar nur in den Grenzen des Konzepts der sog, normativen Vergewisserung (BVerfG vom 14.5.1996, zitiert nach juris). Es wurde aber vom Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang als offen und Anlass zu einer entsprechend eingehenden Untersuchung gebend angesehen, wenn vorgetragen wird, dass das Asylsystem eines Mitgliedstaates - insbesondere nicht nur aus Gründen der Überforderung - defizitär ist, insbesondere die dortigen Aufnahme- und Unterbringungsbedingungen europäischen Mindeststandards nicht genügen. Einen solchen Fall hat der Antragsteller aber hier vortragen lassen und er hält dies auch weiterhin aufrecht. Zwar kann er sich dabei nicht darauf berufen, dass er selbst keinen Zugang zum Asylsystem in Ungarn gehabt hätte. Denn Gegenteiliges ist aktenkundig. Er hat einen Asylantrag in Ungarn gestellt, der bearbeitet und dann abschlägig beschieden wurde. Vor einer Überprüfung dieser Entscheidung durch ein Gericht in Ungarn ist der Antragsteller dann untergetaucht. Aus den vom Antragsteller vorgelegten Berichten ergibt sich aber weiter, dass die Unterbringungsmöglichkeiten insbesondere bei Minderjährigen in Ungarn europäischen Standards nicht entsprechen könnten, weil regelmäßige Misshandlungen in der Haft vorkämen, renitente Flüchtlinge durch Medikamente ruhig gestellt würden, (erneute) Altersfeststellungen ergäben, dass nunmehr im Gegensatz zu kurz früher Volljährigkeit angenommen würde und Minderjährige inhaftiert würden. Diese Situationsschilderung wird auch nicht durch den vom Gericht herangezogenen Bericht des UNHCR von November 2010 über die Asylpraxis in Ungarn in eindeutiger Weise entkräftet oder gar widerlegt. Vielmehr hat gerade der UNHCR dort zahlreiche Verbesserungsvorschläge angebracht und auch angemahnt. Auch das BAMF hat in diesem Kontext diesem Vorbringen nichts Substantiiertes entgegengesetzt. Zudem lässt der Antragsteller nunmehr vortragen, es habe gar keine wirksame Asylantragstellung in Ungarn vorgelegen, weil völker- oder unionsrechtliche Vorschriften zum Minderjährigenschutz dort nicht eingehalten worden seien. Wenn demnach der einfachgesetzliche Ausschluss des Eilrechtsschutzes hier nicht greift, kommt es darauf an, ob die letztlich in Streit stehende Unzulässigerklärung des Asylantrags des Antragstellers und die Abschiebungsanordnung nach Ungarn offensichtlich rechtmäßig oder rechtswidrig wären. Dies richtet sich danach, ob hierfür Rechtsgrundlagen vorliegen und das BAMF die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen zutreffend angenommen hat oder nicht. Die sog. Dublin-II-Verordnung beinhaltet dabei als vergemeinschafteter Ersatz des Dublin-Übereinkommens (Marx § 27a AsylVfG RdNr. 4; GK AsylVfG § 27a AsylVfG RdNrn. 112 ff.; Art. 24) nach ihrem Art. 1 die Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist. Unter Prüfung eines Asylantrags ist nach Art. 2 e) dabei die Gesamtheit der Prüfungsvorgänge und Entscheidungen in Bezug auf einen Asylantrag gemäß dem einzelstaatlichen Recht zu verstehen, wobei aufgrund der fortgeschrittenen Vergemeinschaftung des Asylsystems auf europäischer Ebene von den Mitgliedstaaten insoweit wiederum insbesondere auch die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie) und die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 (sog. Verfahrensrichtlinie) und dort vor allem die im Einzelnen geregelte Prüfung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes zu beachten sind. Nach Art. 3 Abs. 1 der Dublin-II-Verordnung prüfen die Mitgliedstaaten jeden bei ihnen gestellten Asylantrag, wobei ein einziger Mitgliedstaat nach bestimmten Kriterien als hierfür zuständiger Staat bestimmt wird. Sobald ein entsprechender Asylantrag erstmals gestellt wird, wird nach Art. 4 das betreffende Verfahren eingeleitet. Die Zuständigkeitskriterien richten sich nach der Rangfolge in Art. 5 bis 14 (GK AsylVfG § 27a AsylVfG RdNrn. 146 ff.). Wird nach Art. 10 Abs. 1 auf der Grundlage von bestimmten Beweismitteln oder Indizien festgestellt, dass ein Asylbewerber aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig, wobei die Zuständigkeit zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts endet. Eine anderweitige Zuständigkeit kann sich für Familienmitglieder aus humanitären Gründen aus Art. 15 ergeben. Unabhängig davon kann nach Art. 3 Abs. 2 jeder Mitgliedstaat einen bei ihm eingereichten Asylantrag prüfen (sog. Selbsteintrittsrecht) mit der Folge, dass er dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat wird und die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen übernimmt. Kriterien, unter welchen tatbestandlichen Voraussetzungen eine solche Ermessensausübung erfolgen kann, sind in der Verordnung selbst nicht enthalten. Den Mitgliedstaaten soll ermöglicht werden, möglicherweise noch bestehenden nationalen materiell- oder verfahrensrechtlichen Vorgaben oder Besonderheiten Rechnung zu tragen bzw. eine Vielzahl denkbarer politischer Zweckmäßigkeitserwägungen anzustellen, insbesondere im Fall einer (rechtlich oder tatsächlich) unklaren Zuständigkeit unbürokratisch eine Sachentscheidung treffen zu können (GK AsylVfG § 27a AsylVfG RdNrn, 216 ff.). Es ist deshalb bereits zweifelhaft, welche Kriterien hier überhaupt als relevant anzusehen sind, welche Maßstäbe gelten und ob insbesondere festgestellte Missstände im Asylsystem eines Mitgliedstaats, die sich insbesondere aus einer nicht ausreichenden Beachtung des sonstigen geltenden EG-Rechts, insbesondere der materiellen QRL und der formellen VRL ergeben, in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen können (VG Gießen vom 25.4.2008, VG Cottbus vom 20.2.2009; GK AsylVfG § 27a AsylVfG RdNr. 135). Weiter ist es in Rechtsprechung und Literatur umstritten, ob dem betreffenden Asylbewerber hieraus überhaupt und in welchem Umfang ein subjekt-öffentliches Recht auf Prüfung seines Asylantrags in einem bestimmten Mitgliedstaat zukommt, insbesondere ob einer sog. Ermessensreduzierung auf Null oder zumindest ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung anzuerkennen ist (verneinend: VG München vom 28.1. und 30.5.2008, VG Ansbach vom 18.7.2008, VG Cottbus vom 20.2.2009; bejahend: VG Gießen vom 25.4.2008, VG Würzburg vom 10.3.2009; nur oder jedenfalls subjektives Recht auf fehlerfreie Ermessensausübung GK AsylVfG § 27a AsylVfG RdNrn. 123 ff./l34; Marx § 27a AsylVfG RdNr. 13), insbesondere auch wie bei (unbegleiteten) Minderjährigen zu verfahren ist. Dies alles lässt sich mit der erforderlichen Richtigkeitsgewähr nicht in einem Eilverfahren klären, sondern muss einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben (zum Maßstab dort vgl. Urteile des erkennenden Gerichts vom 16.9.2009, vom 9.8.2010, vom 13.10.2010 und vom 25.11.2010). Weiter muss nach Art. 17 das Ersuchen um Aufnahme des Asylbewerbers bei dem anderen Mitgliedstaat, der für zuständig erachtet wird, in der Ausschlussfrist von drei Monaten nach Antragseinreichung gestellt werden, wobei eine dringende Antwort in einer Frist von mindestens einer Woche erwartet werden kann. Nach Art. 18 Abs. 1 ist über das Gesuch innerhalb von zwei Monaten zu entscheiden und nach Abs. 6 ist die Antwort in jedem Fall innerhalb eines Monats zu erteilen. Die Modalitäten der Wiederaufnahme richten sich nach Art. 20. Wird der Aufnahme zugestimmt, teilt nach Art. 19 der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, dem Asylantragsteller die Entscheidung, den Asylantrag nicht zu prüfen, sowie die Verpflichtung, diesen an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, mit, was zu begründen ist. Die Modalitäten der Überstellung im Einzelfall sind regelmäßig in der nach § 34a AsylVfG zu erlassenden Abschiebungsanordnung festzulegen (GK AsylVfG § 27a AsylVfG RdNr. 293), wobei Einzelheiten dem nationalen Recht vorbehalten sind (GK AsylVfG § 27a AsylVfG RdNr. 287).

Nach diesen Grundsätzen könnte Ungarn zwar zur (Wieder-) Aufnahme des Klägers infolge eines dort gestellten Asylantrags zuständig sein, Selbst wenn dem aktenkundigen Vorbringen des Antragstellers gefolgt würde, wobei erhebliche Bedenken hinsichtlich der Glaubwürdigkeit dieses Vorbringens bestehen, dass er das Gebiet der EU zuerst über Griechenland betreten hat, wäre jedenfalls Ungarn und nicht Griechenland zuständig, da sich auch bei unbegleiteten Minderjährigen nach der Sondervorschrift des Art. 6 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung, die das BAMF nicht erwogen hat, die Zuständigkeit nach dem Mitgliedstaat der Asylantragstellung richten kann. Wie bereits vorstehend erörtert stellt sich aber im Rahmen der sachlichen Prüfung die Frage, ob höherrangiges Recht eine Überstellung nach Ungarn hier zulässt oder ausschließt, was im ersteren Fall eine Ermessensentscheidung über einen Selbsteintritt nach sich ziehen könnte. Diese Frage ist im Anschluss an die dargestellte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aber derzeit als offen zu beurteilen. Hinzu kommt, dass nach dem nunmehrigen Vorbringen des Antragstellers keine wirksame Asylantragstellung in Ungarn vorliegen könnte mit der Folge, dass im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Dublin-II-Verordnung nicht auf den dort gestellten Asylantrag abgestellt werden könnte, sondern möglicherweise der in Deutschland am 6. Juli 2010 gestellte Asylantrag maßgeblich wäre mit der Folge, dass Deutschland originär zuständig wäre.

Demzufolge kommt es entscheidend auf eine Abwägung der widerstreitenden Interessen an. Angesichts der vorgelegten Berichte über die entsprechende Asylsituation in Ungarn und den Vortrag der behaupteten Unwirksamkeit der Asylantragstellung in Ungarn ist daher mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers Vorrang vor dem Vollzugsinteresse der Behörde einzuräumen. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil bei einer Überstellung des Antragstellers offenbar nicht sichergestellt zu sein scheint, dass er Haft bzw. Haftbedingungen ausgesetzt wäre, die mit seinem aktuellen Status als noch Minderjähriger unvereinbar wären. [...]