VG Regensburg

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Zitieren als:
VG Regensburg, Beschluss vom 14.06.2011 - RN 7 E 11.30189 - asyl.net: M18638
https://www.asyl.net/rsdb/M18638
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung nach Italien.

1. Die allgemeine Darstellung des BAMF, nach welcher alle Dublin-Rückkehrer eine Unterkunft zugeteilt bekommen und sich etliche Personen nur nicht an die zugewiesene Adresse begeben, ist wegen mangelnder Nachweise nicht geeignet, die Glaubhaftigkeit der Antragstellerin (Mutter mit 2-jährigem Kind) in Frage zu stellen.

2. Vollständiger Ermessensausfall im Dublin-Bescheid(entwurf), wenn nicht einmal die besondere Schutzbedürftigkeit der Antragsteller als möglicher humanitärer Grund gesehen wird. Die vom BAMF praktizierte Verwaltungsübung, durch Erlass von gleichförmigen Kurzbescheiden die Prüfung vollständig auf die Verwaltungsgerichte zu verlagern, widerspricht massiv dem Grundsatz der Gewaltenteilung, welcher wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips ist.

3. Mangels fundierter Entscheidung der Exekutive, deren Rechtmäßigkeit im gerichtlichen Verfahren überprüft werden könnte, ist über den Eilantrag im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, einstweilige Anordnung, Schweiz, Zustimmungsfiktion, alleinstehende Frauen, alleinerziehend, besonders schutzbedürftig, Zustellung, Aufnahmebedingungen, Obdachlosigkeit, subsidiärer Schutz, Aufenthaltstitel, Selbsteintritt, Ermessen, Ermessensfehler, Humanitäre Klausel, Rechtsstaatsprinzip, Sachaufklärungspflicht, Amtsermittlung, Überstellungsfrist
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VO 343/2003 Art. 16 Abs. 2, VwGO § 123 Abs. 1, AsylVfG § 31 Abs. 1 S. 3, AsylVfG § 31 Abs. 1 S. 4, VO 343/2003 Art. 6, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, VO 343/2003 Art. 20 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die Antragstellerin hat durch eine individualisierte Darstellung ihre Situation bei den bisherigen Aufenthalten in Italien geschildert. In Einzeldetails ihrer Angaben bei der Polizei, beim Bundesamt und anlässlich ihrer Zeugenaussage im Verfahren RN 7 K 10.30497 ergeben sich zwar Widersprüche. Insbesondere besteht der Eindruck, dass die Antragstellerin bei der Polizei bewusst falsche Angaben zum relativ schnell erlangten Aufenthaltsstatus in Italien gemacht hat. Insgesamt besteht dennoch bisher kein hinreichender Anlass für die Einschätzung, dass es nicht glaubhaft wäre, dass sie bei beiden Aufenthalten in Italien obdachlos war und jedenfalls nach der Rückverbringung aus der Schweiz Zuflucht in der von Flüchtlingen illegal besetzten früheren somalischen Botschaft in Rom (seit einem Bericht des UNHCR aus dem Jahr 2004 als "Dublin-House" bekannt) gesucht hat. Ihre Angaben zu diesen Lebensverhältnissen entsprechen der Darstellung im Bericht von Bethke/Bender zur allgemeinen Situation vieler Dublin-Rückkehrer in Italien. Die Hintergründe und Quellen der entsprechenden Beschreibung werden in der der nunmehr vorliegenden endgültigen Fassung des Berichts (veröffentlicht auf www.proasyl.de) in Fußnoten konkret belegt. Dass Ausländer, die als Flüchtlinge anerkannt sind oder subsidiären bzw. humanitären Schutz erhalten haben, in Italien aufgrund der Ausgestaltung des Sozialsystems dem Risiko ausgesetzt sind, unter menschenunwürdigen Bedingungen leben zu müssen, wird nunmehr auch in einem von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe herausgegebenen Bericht beschrieben (Asylum procedure and reception conditions in Italy, Mai 2011, zu finden über einen Link in www.fluechtlingshilfe.ch/asylrecht/eu-international/schengen-dublin-und-die-schweiz). Der Bericht enthält detaillierte Quellenangaben, deren Objektivität meist nicht in Frage zu stellen ist. Er beschreibt, dass es grundsätzlich Möglichkeiten der Unterbringung gibt, der Zugang mangels ausreichender Kapazitäten aber nicht gesichert sei. Nach der Anerkennung ginge die Verantwortung für Sozialleistungen auf die Kommunen über. Die Ausgestaltung sei von Stadt zu Stadt unterschiedlich. Zuständig sei regelmäßig die Kommune, in der der Asylantrag erstmals gestellt worden sei, obwohl der Aufenthalt in ganz Italien erlaubt sei. Es wird beschrieben, dass in Rom ungefähr 7000 Personen mit Schutzstatus leben, die meisten ohne Unterkunft. Vor dem Hintergrund der beiden Berichte ist die Darstellung der Antragstellerin zu ihren Lebensbedingungen in Italien schlüssig.

Demgegenüber ist die allgemeine Darstellung im vom Bundesamt vorgelegten Kompendium nach dem alle Dublin-Rückkehrer von der zuständigen Questura eine Unterkunft zugeteilt bekommen und sich etliche Personen nur nicht an die zugewiesene Adresse begeben (vgl. Ziff. 6.4), nicht geeignet, die Glaubhaftigkeit der Angaben der Antragstellerin in Frage zu stellen. Es ist dieser Darstellung insbesondere nicht zu entnehmen, inwieweit die entsprechenden Ausführungen auf Recherche konkreter Rechtsvorschriften, die jedenfalls nicht zitiert werden, und tatsächlicher Verwaltungspraxis durch die Liaisonbeamtin oder nur auf allgemeinen Auskünften beruhen. Auch sonst werden nur allgemein theoretisch mögliche Sozialleistungen beschrieben; offen bleibt, in welchem Umfang theoretisch bestehende Rechte von Ausländern in Italien tatsächlich praktisch durchgesetzt werden können. Die Ausführungen, dass nach Räumung der früheren somalischen Botschaft Ende Februar 2011 "es in Zeitungsberichten geheißen habe, dass die Flüchtlinge in drei kommunalen Zentren untergebracht werden sollten", sind sehr vage. Die Formulierung legt nahe, dass der tatsächliche Verbleib der Bewohner des "Dublin-House" gerade nicht bekannt ist.

Es ist bei den Antragstellern außerdem offen, welchen Aufenthaltsstatus sie in Italien erlangt hatten. Bei der Antragstellerin spricht der ausgestellte zumindest teilweise echte Reiseausweis für Ausländer mit einer Gültigkeitsdauer von drei Jahren für die Gewährung subsidiären Schutzes (vgl. Beschreibung im oben genannten Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, S. 29 f.). Dem entspräche auch die Übernahmeerklärung der italienischen Regierung, in der Art. 16 Abs. 2 Dublin-II-Verordnung zitiert wird. Der Reiseausweis ist aber ausweislich der Ausländerakte beim Landeskriminalamt verblieben. Inwieweit der in der Schweiz geborene Antragsteller bei der Rücküberstellung aus der Schweiz in Italien offiziell registriert wurde, ist offen. Der Erwerb einer falschen Aufenthaltserlaubnis (mit Eintrag des Antragstellers) spricht dafür, dass es der Antragstellerin nicht möglich war, ein echtes Dokument zu erhalten. Ob dies daran liegt, dass sie dafür - wie in den oben genannten Berichten beschrieben - eine Behörde in Trapani hätte aufsuchen müssen oder daran, dass sie aufgrund der geschilderten Umstände der Geburt nicht nachweisen kann, dass der Antragsteller ihr Sohn ist, kann dahinstehen. Der fehlende Nachweis stellt bereits die Zuständigkeit von Italien für den Antragsteller in Frage, die wohl nach Art. 6 Dublin-II-VO grundsätzlich gegeben wäre; zumindest ist unklar, worin die in der Übernahmeerklärung noch geforderte Spezifikation bestehen muss. Selbst wenn die Überstellung akzeptiert wird, ist jedenfalls damit zu rechnen, dass die Klarstellung des Aufenthaltsstatus der Antragsteller schwierig sein wird, was die Geltendmachung sozialer Rechte für sie noch schwieriger machen wird als es generell für Flüchtlinge in Italien ohnehin schon ist.

Unabhängig von der Frage, ob ein Drittstaat allgemein (noch) als sicherer Drittstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 2 Grundgesetz (GG) anzusehen ist, ist die Überstellung in einen Drittstaat wegen dessen Zuständigkeit nicht zwingend. Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-Verordnung stellt die Ausübung der Berechtigung zum Selbsteintritt in das Ermessen des Mitgliedstaates. Nach dem zugrunde liegenden Vorschlag der Europäischen Kommission für die Vorschrift, soll ein Mitgliedstaat sich aus politischen, humanitären und praktischen Erwägungen bereit erklären können, einen bei ihm gestellten Asylantrag zu prüfen, auch wenn er nach den Kriterien der Verordnung nicht für die Prüfung zuständig ist (vgl. Wiedergabe in der Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22.12.2010, Az. 6 A 2717/09.A). Es liegen zwar keine humanitären Gründe i. S. Art. 15 der Dublin-II-Verordnung vor, da dieser allein an die Familienzusammenführung anknüpft. Daneben besteht aber die allgemeine Ermächtigung des Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-Verordnung, die die Berücksichtigung (sonstiger) humanitärer Gründe und politischer Gründe zulässt. Die Gefahr, dass die Antragsteller wegen der allgemeinen Lebensverhältnisse von Flüchtlingen in Italien, der gegebenen besonderen Schutzbedürftigkeit einer alleinstehenden Mutter mit Kleinkind und dem ungeklärten Aufenthaltsstatus des Antragstellers bei einer Überstellung unmenschlichen Lebensbedingungen ausgesetzt werden, ist ein humanitärer Grund. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, dass die durch das im Rang über dem Grundgesetz stehende Europarecht eröffnete Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts durch Art. 16a Abs. 2 Satz 3 Grundgesetz und/oder § 34a AsylVfG ausgeschlossen wäre. Dies wird offenbar auch von der Antragsgegnerin nicht so gesehen, wie die Praxis des Absehens von Überstellungen bei besonders schutzbedürftigen Personen in den Drittstaat Malta zeigt, die ähnlich auch beim Drittstaat Griechenland bereits vor der allgemeinen Aussetzung praktiziert wurde.

Streitig ist zwar, ob der Ermessenausübung nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-Verordnung auch ein entsprechender subjektiver Anspruch des Asylantragstellers gegenübersteht oder ob die Verordnung allein der internen Verteilung der Lasten und Verantwortung unter den Mitgliedstaaten dient (vgl. Darstellung des Streitstands in der Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22.12.2010, Az. 6 A 2717/09.A). Jedenfalls beim Vorliegen von Gründen, bei denen sich die Gefährdung von Grundrechten geradezu aufdrängt, liegt das Bestehen eines subjektiven Anspruchs nahe. Die Frage kann aber nicht in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes geklärt werden, zumal insoweit ein Verfahren beim Europäischen Gerichtshof bereits anhängig ist (vgl. Vorlagebeschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22.12.2010, Az. 6 A 2717/09.A und Veröffentlichung des Vorabentscheidungsersuchens im Amtsblatt der Europäischen Union vom 26.3.2011, Rechtssache C-4/11). Wegen der betroffenen Rechtsgüter ist daher im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zugunsten der Antragsteller vom Bestehen eines entsprechenden Anspruchs auszugehen.

In dem bezüglich der Ermessensausübung bisher existierendem Bescheidsentwurf, auf den die Antragsgegnerin bei der Anfrage des Antragstellervertreters bezüglich der Ausübung des Selbsteintrittsrechts ausdrücklich Bezug genommen hat, wird ausgeführt, dass "humanitäre Gründe nicht ersichtlich seien". Angesichts der Vielzahl von in den letzten Monaten ergangenen Entscheidungen von Verwaltungsgerichten, in denen die Überstellung nach Italien wegen der dortigen (allgemeinen) sozialen Situation von Flüchtlingen ausgesetzt wurde, liegt ein vollständiger Ermessensausfall vor, wenn nicht einmal die besondere Schutzbedürftigkeit der Antragsteller als möglicher humanitärer Grund gesehen wird. Zudem erfordert eine ordnungsgemäße Ermessensausübung eine qualifizierte Abklärung der tatsächlichen allgemeinen Situation von Flüchtlingen in Italien. Es drängt sich auf, dass dafür geprüft werden muss, ob die Einschätzung entsprechend dem vorgelegten Kompendium trotz der oben genannten mit konkreten Quellen belegten anderweitigen Erkenntnissen realistisch ist. Ebenso erfordert eine ordnungsgemäße Ermessensausübung die Prüfung, ob die angenommenen Unterstützungsmöglichkeiten durch Lokalbehörden in Italien speziell für die Antragsteller an dem für sie zuständigen Ort - hier wohl Trapani (Sizilien) - vorgesehen und tatsächlich zu erreichen sind, wobei auch der zur Zeit stattfindende Flüchtlingszustrom aus Nordafrika zu berücksichtigen ist.

Die fehlende ordnungsgemäße Ermessensausübung rechtfertigt eine Ausnahme von Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG und § 34a Abs. 2 AsylVfG. Die vom Bundesamt derzeit praktizierte Verwaltungsübung, durch Erlass von gleichförmigen Kurzbescheiden sowohl die Lösung der vom Verfassungsgeber nicht vorhergesehenen rechtlichen und politischen Problematik der notwendigen Voraussetzungen für die Einordnung eines Staates als sicherer Drittstaat als auch die Prüfung von Einzelfällen vollständig auf die Verwaltungsgerichte zu verlagern, widerspricht massiv dem Grundsatz der Gewaltenteilung. Dieser ist wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips und bei verfassungskonformer Auslegung der Vorschriften heranzuziehen. Der Antragsgegnerin steht anders als den Gerichten für die Aufklärung der tatsächlichen Ausgangsbedingungen in Italien ein eigener Behördenapparat, u.a. das Auswärtige Amt, zur Verfügung und ihr ist auch die Zuhilfenahme von Institutionen der Europäischen Gemeinschaft oder der Vereinten Nationen möglich.

Mangels fundierter Entscheidung der Exekutive, deren Rechtmäßigkeit im gerichtlichen Verfahren überprüft werden könnte, ist über den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden. Diese geht hier zugunsten der Antragsteller aus. Bliebe den Antragstellern der begehrte Erlass einer einstweiligen Anordnung versagt, hätten sie aber in der Hauptsache Erfolg, könnten möglicherweise bereits wegen der Rücküberstellung eingetretene Rechtsbeeinträchtigungen nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die Nachteile der Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz bei späterem Misserfolg in der Hauptsache wiegen dagegen weniger schwer. Insbesondere beginnt die sechsmonatige Frist für die Überstellung nach § 20 Abs. 2 Dublin-II-VO erst ab einer negativen gerichtlichen Hauptsacheentscheidung zu laufen (vgl. EuGH, Entsch. vom 29.1.2009, Az. C-19/08), so dass die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes die spätere Rücküberstellung nicht ausschließt. [...]