VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 10.05.2011 - 26 K 5134/10.A - asyl.net: M18667
https://www.asyl.net/rsdb/M18667
Leitsatz:

1. Die Voraussetzungen für die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 8 S. 1, 2. Alt. AufenthG entfallen, wenn der Ausländer wegen versuchten Totschlags rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden ist und in Zukunft - nach der Entlassung - ernsthaft die Begehung weiterer vergleichbarer Straftaten droht.

2. Einem nicht vorverfolgt ausgereisten kurdischen Volkszugehörigen, der sich seit 1996 im Bundesgebiet aufhält, hier jedoch seit Jahren keine politischen Aktivitäten mehr entfaltet hat, drohen bei einer Rückkehr in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die von § 60 Abs. 2 AufenthG genannten Gefahren wegen einer früheren, im Bundesgebiet ausgeübten, aber mehr als zehn Jahre zurückliegenden exilpolitischen Tätigkeit, die in der Veröffentlichung türkei-kritischer Zeitungsartikel und der vorübergehenden Vorstandsmitgliedschaft in einem die kommunistische KP-IÖ unterstützenden Verein bestanden hat.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Türkei, Kurden, schwere nichtpolitische Straftat, subsidiärer Schutz, Abschiebungsverbot, Exilpolitik, Vorverfolgung, Wiederholungsgefahr, Wegfall der Umstände, Unverzüglichkeit,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 8 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 2, AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 3, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Zu Recht hat die Beklagte die Feststellung zu § 51 Abs. 1 AuslG widerrufen. [...]

Für die Frage des Widerrufs kann dahingestellt bleiben, ob sich die maßgeblichen Verhältnisse seit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom 12. Januar 2001 bzw. seit dem Bescheid des Bundesamtes vom 27. Februar 2001 derart erheblich und dauerhaft verändert haben, weil der Kläger seither – jedenfalls spätestens mit Ausscheiden aus dem "W e.V." im Oktober 2001 - jegliche exilpolitische Betätigung, die für die Zuerkennung von Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG maßgeblich war, eingestellt hat. Jedenfalls sind die Voraussetzungen für die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 8 S. 1, 2. Alt. AufenthG weggefallen, weil der Kläger durch Urteil des Landgerichts E1 u.a. wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden ist.

Nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG findet Abs. 1 dieser Vorschrift keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist.

Die Ermächtigung zum Widerruf in derartigen Fällen ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG, demzufolge die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG unverzüglich zu widerrufen sind, "wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen". Dies ist nicht nur dann der Fall, wenn dem Ausländer infolge der Änderung der maßgeblichen Verhältnisse im Herkunftsstaat keine Verfolgung mehr droht, sondern auch wenn inzwischen von ihm nach Maßgabe von § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder für die Allgemeinheit ausgeht (vgl. auch § 3 Abs. 4 AufenthG ) (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 4. Dezember 2003 – 8 A 3766/03.A -). [...]

Bei der notwendigen Abwägung ist die in der Tat zum Ausdruck gekommene kriminelle Energie und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, vor allem die Gefährlichkeit der abgeurteilten Tat, zu würdigen. Auch hat sich das Bundesamt bzw. das Gericht sich damit auseinander zusetzen, ob der Kläger in dasselbe soziale Umfeld zurückgekehrt ist oder zurückkehren wird, aus dem heraus er die Tat begangen hat, und welche Auswirkungen dies gegebenenfalls auf die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholungsgefahr hat. Bei seiner Gefahrenprognose kann das Gericht neben den Strafakten und dem Vollstreckungsheft sowie einem aktuellen Bundeszentralregisterauszug auch inzwischen entstandene ausländerrechtliche Vorgänge und gegebenenfalls Auskünfte der Bewährungshilfe heranziehen. Die Verwaltungsgerichte haben ausschließlich ordnungsbehördliche Überlegungen anzustellen, in deren Mittelpunkt der Schutz der Gesellschaft vor weiteren Straftaten des Ausländer steht. Sie sind bei der Einschätzung des Maßes der Wiederholungsgefahr nicht gehalten, ein gleich großes Restrisiko in Kauf zu nehmen, wie die Strafgerichte. Erforderlich ist eine über die Bewährungsdauer hinausgehende langfristige Gefahrenprognose, in deren Rahmen die Frage zu beantworten ist, ob der Ausländer sich auch ohne den Druck der bei Bewährungsversagen drohenden Verbüßung der Reststrafe voraussichtlich straffrei verhalten wird (vgl. OVG NRW, Urteil vom 29. Juli 2008 – 15 A 620/07.A -).

Die vom Kläger verwirklichte Straftat – versuchter Totschlag - ist der Schwerstkriminalität zuzurechnen. Ihre Begehung bringt das Vorhandensein erheblicher krimineller Energie zum Ausdruck, auch wenn das Landgericht ... im Rahmen der Strafzumessung auf einen minder schweren Fall gemäß § 213 StGB erkannt hat. [...] Ausweislich der Stellungnahme des Leiters der JVA ... vom 3. Februar 2011 ist der Kläger nicht in der Lage, darüber Auskunft zu geben, warum er die Tat begangen hat. Es kann deshalb auch nicht davon ausgegangen werden, dass sich der Kläger bei Tatbegehung in einer psychischen Ausnahmesituation oder Motivationslage befunden hat, die so nicht mehr auftreten kann und wird. Für das Gericht von erheblicher Bedeutung ist, dass der Kläger offenbar weiterhin ein Alkoholproblem hat und insofern in der Vergangenheit nur wenig einsichtig war, wie die Manipulation des Drogen-Screenings im März 2009 zeigt. Die Rückfallquote ist bei Suchtgefährdeten erfahrungsgemäß hoch. Auch ist die soziale Situation des Klägers infolge der mangelhaften Deutschkenntnisse und fehlender Integration keineswegs gesichert.

Das Gericht sieht angesichts all dieser Umstände keinen Anlass und keine Notwendigkeit für die vom Kläger beantragte Einholung eines forensischen Sachverständigengutachtens zur Frage der Wiederholungsgefahr. Die vorliegenden Erkenntnisse sind für die vorzunehmende Prognose völlig ausreichend.

§ 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG steht der Widerrufsentscheidung des Bundesamtes nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift gilt Satz 2 nicht, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte). Dadurch soll der Sondersituation solcher Personen Rechnung getragen werden, die ein besonders schweres, nachhaltig wirkendes Flüchtlingsschicksal erlitten haben und denen es deshalb selbst lange Zeit danach - auch ungeachtet etwaiger veränderter Verhältnisse - nicht zumutbar ist, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 -, a.a.O. ; OVG NRW, Beschluss vom 31. Januar 2008 - 15 A 2409/07.A -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 5. November 2007 A 6 S 1097/05 - juris; OVG Saarland, Beschluss vom 11. Mai 2006 - 3 Q 11/06 - juris; Schäfer, in: GK-AsylVfG, § 73 Rdnr. 59).

Im vorliegenden Fall geht es aber nicht um einen Wegfall der Umstände im Sinne von S. 2 der Vorschrift. Vielmehr beruht der Widerruf auf S. 1. Es gibt auch keinen Grund für eine analoge Anwendung der aus humanitären Gründen geschaffenen Vorschrift auf Fälle, in denen die Rücknahme der Asylberechtigung wegen der Verwirklichung des Tatbestandes des § 60 Abs. 8 AufenthG zwecks Abwendung von Gefahren für die Allgemeinheit erfolgt. Im Übrigen hat der Kläger – wie sich aus den unten stehenden Ausführungen ergibt – ein solches Schicksal nicht erlitten.

Ob das Bundesamt den Widerruf unverzüglich im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ausgesprochen hat, ist nicht entscheidungserheblich. Die Pflicht zum unverzüglichen Widerruf dient ausschließlich öffentlichen Interessen: Ein etwaiger Verstoß hiergegen verletzt keine Rechte des betroffenen Ausländers (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 - a.a.O.). [...]

Der Kläger hat im hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 2 AufenthG wegen drohender Folter

oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (entsprechend Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG). [...]

Bei der gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände im Rahmen der tatsächlichen Feststellung, ob die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG widerlegt ist, kann das Gericht auch der Tatsache Bedeutung beimessen, dass die Türkei als Abschiebezielstaat ein Vertragsstaat der Konvention ist, der sich verpflichtet hat, die darin garantierten Rechte und Grundsätze zu achten (vgl. BVerwG, Urteile vom 7. September 2010 und vom 27. April 2010 a.a.O. jeweils a.a.O.).

Die Beweiserleichterung gemäß Art. 4 Abs. 4 der RL 2004/83/EG kommt dem Kläger vorliegend nicht zugute; denn der Kläger ist nicht als Vorgeschädigter im vorbeschriebenen Sinne anzusehen.

Im Bescheid vom 28.06.1996, dessen Ziffer 1 infolge der am 12.01.2001 erfolgten (teilweise) Klagerücknahme bestandskräftig geworden ist, hat das seinerzeitige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge festgestellt, dass eine Vorverfolgung des Klägers nicht stattgefunden hat, jedenfalls nicht glaubhaft gemacht ist.

Allerdings ist das Gericht weder an diesen Bescheid des Bundesamtes noch an das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 12.01.2001 gebunden, welches die Frage der Vorverfolgung offen gelassen hat, denn beide Entscheidungen verhalten sich nicht zu der Frage, ob dem Kläger subsidiärer Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 AufenthG zu gewähren ist. Deshalb muss sich das erkennende Gericht bei der Frage, ob der Kläger vor seiner Ausreise im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie einen ernsthaften Schaden bereits erlitten hatte oder unmittelbar von einem ernsthaften Schaden bedroht war, eine eigene richterliche Überzeugung bilden (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. September 2010 a.a.O. und OVG NRW, Urteil vom 27. April 2010 8 A 888/09.A -).

Das Gericht hat nicht die notwendige Überzeugung davon gewinnen können, dass der Kläger als politisch Verfolgter aus der Türkei ausgereist ist und bereits vor der Flucht eine Vorschädigung erlitten hat, die subsidiären Abschiebungsschutz begründet. Hierbei berücksichtigt das Gericht zunächst, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 12.01.2001 seine Klage auf Asylanerkennung zurückgenommen und hierdurch zu erkennen gegeben hat, dass er an seiner Behauptung, schon vor der Ausreise verfolgt worden zu sein, nicht mehr festhalten wollte. [...]

Gilt für den Kläger nicht die Beweiserleichterung im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, so drohen ihm bei einer Rückkehr in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die von § 60 Abs. 2 AufenthG genannten Gefahren wegen seiner früheren exilpolitischen Tätigkeit.

Dies gilt zunächst im Hinblick auf etwaige Strafverfahren wegen Verstößen gegen das türkische Presserecht.

Laut Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 21.11.2000 wurde dem Kläger zwar ein Verstoß gegen Vorschriften des türkischen Presserechts vorgeworfen. Solche Verstöße, die bis zum 12.07.1997 begangen worden seien, habe das Teilamnestiegesetz Nr. 4304 jedoch drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Das gegen den Kläger geführte Verfahren sei von dieser Amnestie betroffen gewesen. Wenn sich der Kläger drei Jahre lang in Presseangelegenheiten nichts zu Schulden kommen lasse, werde das Verfahren gegen ihn eingestellt. Strafen für Pressedelikte, die nach dem 12.07.1997 begangen worden seien, würden durch das neue Amnestiegesetz vom 23.04.1999 ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt und die entsprechenden Verfahren anschließend eingestellt.

Dass der Kläger seit den genannten Zeitpunkten presserechtlich gegenüber der Türkei in Erscheinung getreten wäre, ist nicht vorgetragen. Demnach muss davon ausgegangen werden, dass gegen ihn in der Vergangenheit geführte Verfahren seit längerer Zeit eingestellt sind. Es ist auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass der Kläger wegen Presseartikeln, die im Jahre 1996 oder 1997 veröffentlicht worden sind, bei einer Rückkehr in die Türkei zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Polizeigewahrsam genommen und dort misshandelt würde.

Beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Gefährdung des Klägers im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG besteht auch nicht wegen der vorübergehenden Wahl in den Vorstand des "W e.V." in E1. Gemäß der Auskunft des PP E1 hat der Kläger bereits seit dem 01.10.2001 keinen Sitz mehr im Vorstand des Vereins. Dem PP E1 liegen auch keine Erkenntnisse über politische Aktivitäten des Klägers in den vergangenen Jahren vor. Demnach spricht vieles dafür, dass der Kläger nunmehr auch aus Sicht der türkischen Sicherheitsbehörden als "unbeschriebenes Blatt" gilt. Im Übrigen scheint der Verein in den letzten Jahren keine nennenswerten Tätigkeiten mehr entfaltet zu haben. Der Staatsschutz beim Polizeipräsidium E1 hat erst durch einen Blick in das Vereinsregister feststellen können, dass der Verein noch existiert. Der derzeitige Vereinsvorsitzende ist seit 6 Jahren in Hamburg wohnhaft. Ihm selbst war gar nicht mehr bekannt, dass er noch 1. Vorsitzender des Vereins ist. Dies spricht für sich selbst. [...]