OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.02.2011 - 12 B 20.08 - asyl.net: M18691
https://www.asyl.net/rsdb/M18691
Leitsatz:

Die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis aufgrund der Sonderregelung des § 28 Abs. 2 S. 1 AufenthG setzt neben der Erfüllung der dort genannten speziellen Voraussetzungen zusätzlich die Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 voraus.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Niederlassungserlaubis, deutsches Kind, Sicherung des Lebensunterhalts, Regelerteilungsvoraussetzungen, atypischer Ausnahmefall, Kindererziehung, minderjährig,
Normen: AufenthG § 28 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 5 Abs. 3 S. 1, AufenthG § 5 Abs. 3 S. 2,
Auszüge:

[...]

Die Berufung der Klägerin ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der versagende Bescheid ist rechtmäßig, denn die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung der begehrten Niederlassungserlaubnis, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

Nach § 28 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 27 Abs. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG) vom 30. Juli 2004 (BGBl I S. 1950), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2437), ist dem ausländischen Familienangehörigen eines Deutschen im Sinne von § 28 Abs. 1 AufenthG in der Regel eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn er drei Jahre im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist, die familiäre Lebensgemeinschaft mit dem Deutschen im Bundesgebiet fortbesteht, kein Ausweisungsgrund vorliegt und er sich auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann.

Dass die Klägerin, deren minderjährige Tochter ... und deren minderjähriger Sohn ... die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, die in § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ausdrücklich genannten Voraussetzungen erfüllt, ist zwischen den Beteiligten nicht (mehr) streitig. Entgegen der Ansicht der Klägerin ist das Verwaltungsgericht aber auch zutreffend davon ausgegangen, dass ein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gemäß § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG neben den dort bestimmten Anforderungen gleichermaßen die Erfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG – insbesondere die Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) – voraussetzt (I). Daran fehlt es hier, denn die Klägerin und ihre Familie sind nach ihrem eigenen Vorbringen weiterhin auf Leistungen des JobCenters nach den Bestimmungen des SGB II angewiesen. Von der Regelerteilungsvoraussetzung ist auch nicht wegen des Vorliegens eines Ausnahmefalls abzusehen (II). Ebenso wenig folgt ein Anspruch auf die begehrte Niederlassungserlaubnis aus § 4 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 7 Satz 1, 2. Spiegelstrich ARB 1/80 bzw. Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 (III).

I. Der Klägerin ist zwar zuzugeben, dass der Wortlaut des § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG – isoliert betrachtet – keine hinreichend klare Antwort auf die Frage gibt, ob auch die Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG Voraussetzung für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ist. Dagegen könnte insbesondere sprechen, dass die Regelung des § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG – wie die Klägerin betont – mit dem Tatbestandsmerkmal des Nichtvorliegens eines Ausweisungsgrundes ausdrücklich nur eine allgemeine Erteilungsvoraussetzung (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) aufgreift, alle anderen aber unerwähnt lässt.

Gesetzessystematik, Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Norm bestätigen jedoch die Auslegung des Verwaltungsgerichts.

Der Gesetzgeber hat nach der Konzeption des Aufenthaltsgesetzes alle Fälle, in denen er von der Erfüllung bestimmter allgemeiner Erteilungsvoraussetzungen abweichen wollte, ausdrücklich im Wortlaut der jeweiligen Vorschrift kenntlich gemacht (z.B. § 28 Abs. 1, § 29 Abs. 4, § 30 Abs. 3, § 34 Abs. 1 AufenthG). Davon ist das Verwaltungsgericht im Einklang mit der einhelligen obergerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur zutreffend ausgegangen (OVG Münster, Beschl. v. 6. Juli 2006 – 18 E 1500.05 - juris; OVG Bremen, Beschl. v. 13. August 2009 – 1 S 223.09 – juris; OVG Bautzen, Beschl. v. 3. Februar 2010 – 3 D 70.09 – juris; VGH Kassel, Beschl. v. 23. Juni 2010 – 6 A 140.10 – juris; Dienelt in: Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 28 Rz. 17, 20; Marx in: GK-AufenthG, Std. Mai 2008, § 28 Rz. 245). Besonders augenfällig ist die unterschiedliche sprachliche Ausgestaltung der Absätze 1 und 2 von § 28 Abs. 1 AufenthG. Nach § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist die Aufenthaltserlaubnis dem ausländischen Angehörigen eines minderjährigen ledigen Deutschen im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG unabhängig von den Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu erteilen. Im Gegensatz dazu enthält § 28 Abs. 2 AufenthG für den Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis keinen entsprechenden Ausschluss.

Der Gesetzesbegründung kann kein Hinweis darauf entnommen werden, dass trotz der abweichenden Formulierung in § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG in Bezug auf die Lebensunterhaltssicherung eine identische Regelung für den Fall der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG getroffen werden sollte. § 28 AufenthG entspricht vielmehr weitgehend der Vorläufernorm des § 23 AuslG 1990 in der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung (vgl. BT-Drs. 15/420 zu § 28, S. 81). Sie ist lex specialis für den Nachzug zu Deutschen und hinsichtlich der Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 AufenthG sprachlich im Kern § 25 Abs. 3 AuslG 1990 (unbefristete Aufenthaltserlaubnis) nachgebildet. Danach war die dem Ehegatten eines Deutschen erteilte Aufenthaltserlaubnis nach drei Jahren unbefristet zu verlängern, wenn u.a. die in § 24 Abs. 1 Nr. 4 und 6 AuslG 1990 bezeichneten Voraussetzungen (Verständigung in deutscher Sprache; kein Ausweisungsgrund) vorlagen. Nach der Systematik des Ausländergesetzes 1990 war in diesem Zusammenhang der allgemeine Regelversagungsgrund nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990 (Bestreiten des Lebensunterhalts) zu beachten (vgl. Kloesel/Christ/ Häußer, Kommentar zum Ausländerrecht, Std. August 2004, § 25 Rz. 30). Lediglich § 7 Abs. 2 Nr. 1 AuslG 1990 (Ausweisungsgrund) wurde nach der alten Rechtslage durch die spezielle Norm des § 24 Abs. 1 Nr. 6 AuslG 1990 (Ausweisungsgrund) verdrängt (Kloesel/Christ/Häußer, ebd.). Aus der expliziten Erwähnung des Fehlens eines Ausweisungsgrundes in § 24 Abs. 1 Nr. 6 AuslG 1990 konnte daher entgegen der Ansicht der Klägerin nicht geschlossen werden, dass der Gesetzgeber das Vorliegen der übrigen Regelversagungsgründe nicht als erforderlich angesehen hat. Nichts anderes gilt nach den Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes, zumal der Gesetzgeber die im Ausländergesetz 1990 getroffene Wertung durch die Neuregelung des Aufenthaltsrechts noch verstärkt hat, indem er die Sicherung des Lebensunterhalts für alle Aufenthaltstitel von einem Regelversagungsgrund zu einer Regelerteilungsvoraussetzung (§ 5 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) heraufgestuft hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 30. April 2009 – 1 C 3.08 – juris, Rn. 11). Insbesondere führt der Umstand, dass auch die Niederlassungserlaubnis nach dem Wortlaut des § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nur zu erteilen ist, wenn "kein Ausweisungsgrund vorliegt", nicht zu der von der Klägerin sinngemäß gerügten Redundanz, die eine andere Auslegung der Norm nahelegt. Das Tatbestandsmerkmal ist nämlich als zwingende Voraussetzung ausgestaltet und damit strenger gefasst als die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, von der im Ausnahmefall abgewichen werden darf (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 30. Mai 2007 – 13 S 1020.07 – juris, Rn. 7; Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl., 2008, Rz. 738).

Im Ergebnis ist die allein auf die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis zielende Bestimmung des § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG lediglich eine die allgemeine Vorschrift über die Niederlassungserlaubnis (§ 9 AufenthG) verdrängende Spezialregelung (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 6. Juli 2006 – 18 E 1500.05 – juris, Rn 3; Marx in: GKAufenthG, a.a.O., § 28 Rz. 244). Sie stellt deshalb auch nur im Verhältnis zu den in § 9 Abs. 2 AufenthG festgelegten Anforderungen eine privilegierende Sonderregelung für die in einer familiären Lebensgemeinschaft mit einem Deutschen lebenden Ausländer dar mit der Folge, dass nur die Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG insgesamt keine Anwendung finden.

Eine der Klägerin günstigere rechtliche Beurteilung folgt auch nicht aus Art. 6 Abs. 1 GG. Der Anspruch eines ausländischen Elternteils eines minderjährigen ledigen Deutschen auf Erteilung und Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis (§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG) wird zwar zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet gewährt. Die Regelung berücksichtigt insofern, dass Deutschen das Grundrecht auf Freizügigkeit in Deutschland zusteht (Art. 11 GG) und deren Interesse an der Herstellung/Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft im Inland besonders geschützt ist (BT-Drs. 15/420 zu § 28, S. 81). Um dieses Ziel zu erreichen, hat der Gesetzgeber auf den Nachweis der Sicherung des Lebensunterhalts verzichtet. Der besondere verfassungsrechtliche Schutz von Ehe und Familie verlangt jedoch nicht, dass das Aufenthaltsrecht trotz fehlender Sicherung des Lebensunterhalts durch Erteilung einer Niederlassungserlaubnis verfestigt wird. Dem Sinn und Zweck der Vorschrift wird mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG vielmehr ohne weiteres Genüge getan, wenn der Aufenthalt des Ausländers in Deutschland erlaubt bleibt, solange die familiären Voraussetzungen dafür vorliegen (vgl. Dienelt in: Renner, a.a.O., § 28 Rz. 20). Die Wirkungskraft des Grundrechts wird – anders als die Klägerin meint – durch die von ihr bevorzugte Auslegung nicht verstärkt. Ob ein unbefristetes Aufenthaltsrecht beruflich die Gründung einer selbständigen Existenz ermöglicht oder – rechtspraktisch - die Kreditvergabe durch Geldinstitute erleichtert und damit wiederum die Erwerbsmöglichkeiten erweitert, kann daher im Ergebnis dahinstehen. Die Erreichung dieser Ziele wird vom Schutzzweck der Norm des § 28 Abs. 2 AufenthG nicht erfasst.

Schließlich folgt aus Art. 8 EMRK ebenfalls kein Anspruch der Klägerin auf Erteilung eines bestimmten Aufenthaltstitels. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kommt es allein auf die tatsächliche Möglichkeit zur Fortsetzung des Aufenthalts an. Soweit der nach nationalem Recht erteilte Aufenthaltstitel es dem Inhaber gestattet, im Staatsgebiet des Aufnahmestaats zu wohnen und dort sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens frei auszuüben, stellt die Erteilung dieses Titels grundsätzlich eine hinreichende Maßnahme zur Erfüllung der Anforderungen des Art. 8 EMRK dar (vgl. EuGHMR, Große Kammer, Urt. v. 15. Januar 2007 – Nr. 60654/00 – [Sisojeva u.a.] – InfAusR 2007, 140, Rn. 91). Dies ist hier – wie dargelegt - auf der Grundlage der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG gewährleistet.

II. Von der zwingenden Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts kann weder durch den Rückgriff auf die Regelung des § 5 Abs. 3 Satz 1 und 2 AufenthG noch ausnahmsweise auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls abgesehen werden.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor. Die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 AufenthG wird in § 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht erwähnt. Die Norm ist abschließend. Ihr liegt die Überlegung zu Grunde, dass von Flüchtlingen die Erfüllung der Voraussetzungen der Absätze 1 und 2 des § 5 AufenthG nicht verlangt werden kann (vgl. Dienelt in: Renner, a.a.O., § 5 Rz. 83). Zu dieser Personengruppe gehört die Klägerin nicht. Ebenso wenig ist das Ermessen nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffnet. Bei der in § 28 Abs. 2 AufenthG geregelten Niederlassungserlaubnis handelt es sich nicht um die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes, sondern um eine solche nach Kapitel 2 Abschnitt 6 (Aufenthalt aus familiären Gründen).

Entgegen der Ansicht der Klägerin liegen auch keine atypischen Umstände vor, die so bedeutsam sind, dass sie das Gewicht der allgemeinen gesetzlichen Regelerteilungsvoraussetzung beseitigen. Mit der Normierung der Sicherung des Lebensunterhalts in § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass er darin bei der Erteilung von Aufenthaltstiteln im Ausländerrecht eine Voraussetzung von grundlegendem staatlichen Interesse sieht (BT-Drs. 15/420 zu § 5, S. 70). Die Regelung dient dem Zweck, die öffentlichen Haushalte davor zu bewahren, den Lebensunterhalt von hier lebenden Ausländern mit öffentlichen Mitteln sichern zu müssen. Trotz Fehlens der hinreichenden Unterhaltssicherung könnte die Niederlassungserlaubnis somit ausnahmsweise nur dann erteilt werden, wenn der Lebenssachverhalt so atypisch gelagert wäre, dass eine Versagung mit dem gesetzgeberischen Anliegen nicht vereinbar und deshalb als unverhältnismäßig anzusehen wäre.

Gemessen daran bilden allein die geltend gemachte fehlende Berufsausbildung der Klägerin und ihres Ehemannes sowie die Anzahl der minderjährigen Kinder keine besonderen Umstände, die zu einer Korrektur der gesetzgeberischen Regelerteilungsvoraussetzung zwingen. Selbst wenn Erziehung und Betreuung der fünf minderjährigen Kinder die Erwerbstätigkeit eines Elternteils derzeit ausschließen, ist weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich, aus welchen Gründen der jeweils andere Elternteil nicht für die Sicherung des Lebensunterhalts sorgen kann. Dass für die Kinder ... und ... eine erhöhte Betreuungsbedürftigkeit besteht, die eine Berufstätigkeit beider Eltern unzumutbar erscheinen lässt, ist auch im Berufungsverfahren nicht dargetan. Neben den insoweit bereits erstinstanzlich eingereichten und vom Verwaltungsgericht zutreffend gewerteten Unterlagen aus den Jahren 1998 und 2006 sind keine weiteren aktuellen Nachweise vorgelegt worden. Im Übrigen mag es zwar zutreffen, dass es – wie die Klägerin meint - ohne qualifizierte Berufsausbildung äußerst schwierig ist, auf dem Arbeitsmarkt eine Beschäftigung zu finden, die zur Unabhängigkeit von öffentlichen Leistungen führt. Diese Umstände rechtfertigen indes regelmäßig kein Absehen vom Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung, sondern waren vielmehr – wie ausgeführt - Anlass für die gesetzliche Einführung der Regelerteilungsvoraussetzung. Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang mittel- und langfristig auf eine "ökonomische Gesamtrechnung" abstellt und "den Akzent auf die volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung der Kinder als Humankapital in einer alternden Gesellschaft" legt, mag dies ein rechtspolitisch überlegenswertes Ziel sein. Sie übersieht dabei jedoch den mit der geltenden Regelung unmittelbar verfolgten Zweck und verkennt damit die Grenzen der Auslegung.

Dem steht auch nicht entgegen, dass angesichts der nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erteilten befristeten Aufenthaltserlaubnis derzeit ohnehin öffentliche Mittel zur Sicherung des Lebensunterhalts der Klägerin und ihrer Familie eingesetzt werden. Die mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG getroffene gesetzliche Regelung zwingt aus den unter I. genannten Gründen nicht dazu, die Sicherung des Lebensunterhalts auch im Rahmen der hier erstrebten weiteren Verfestigung des Aufenthalts durch Erteilung einer Niederlassungserlaubnis unberücksichtigt zu lassen. Ebenso wenig gebietet Art. 8 EMRK eine abweichende Beurteilung.

III. Schließlich steht der Klägerin auch kein assoziationsrechtlicher Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gemäß § 4 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 7 Satz 1, 2. Spiegelstrich oder Art. 10 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 - ARB 1/80 – zu.

Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs steht den Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, die – wie hier die Klägerin - die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1, 2. Spiegelstrich ARB 1/80 erfüllen, unmittelbar ein europarechtlich begründetes Aufenthaltsrecht zu, das von der Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis unabhängig ist. Die Aufenthaltserlaubnis nach nationalem Recht hat lediglich deklaratorische Bedeutung und Beweisfunktion, nicht aber konstitutiven Charakter (vgl. EuGH, Urt. v. 16. März 2000 - Rs. C-329/97 – [Ergat] – NVwZ 2000, 1277, Rn. 34 m.w.N.; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 11. Mai 2010 – OVG 12 B 26.09 – juris, Rn. 27 ff.). Dem trägt das Aufenthaltsgesetz durch die Regelung in § 4 Abs. 5 Rechnung. Danach ist ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht, zwar verpflichtet, das Bestehen des Aufenthaltsrechts durch den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nachzuweisen, sofern er weder eine Niederlassungserlaubnis noch eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG besitzt. Assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen wird die Aufenthaltserlaubnis jedoch nicht - wie anderen Ausländern - konstitutiv "erteilt" (§ 5 AufenthG), sondern auf Antrag zum Nachweis des bestehenden Aufenthaltsrechts schlicht "ausgestellt" (§ 4 Abs. 5 Satz 2 AufenthG). Lediglich wer sein Aufenthaltsrecht bereits durch einen konstitutiven Titel nach nationalem Recht nachweisen kann, bedarf naturgemäß keiner (weiteren) deklaratorischen Aufenthaltserlaubnis.

Abgesehen davon, dass die Klägerin zu keinem Zeitpunkt die (deklaratorische) Ausstellung eines entsprechenden Nachweises über ihr Aufenthaltsrecht beantragt hat, ist assoziationsrechtlich die Form des nach nationalem Recht auszustellenden Aufenthaltstitels auch nicht vorgegeben mit der Folge, dass aus Art. 7 Satz 1 ARB kein unmittelbarer Anspruch auf die hier allein begehrte Niederlassungserlaubnis hergeleitet werden kann. Dies räumt im Grunde auch die Klägerin ein, die ihre assoziationsrechtlichen Ausführungen selbst nur als stützende Hilfs- bzw. Äquivalenzüberlegungen für die angestrebte Erteilung einer Niederlassungserlaubnis bezeichnet. Gleiches gilt für ihren Hinweis auf Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens – ENA - vom 13. Dezember 1955 (BGBl. II 1959, S. 997), der die Zulässigkeit von Ausweisungen und nicht die Erteilung von Aufenthaltstiteln regelt.

Ebenso wenig kann die Klägerin ihr Begehren auf das Diskriminierungsverbot in Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 stützen. Die aufenthaltsrechtliche Wirkung des Diskriminierungsverbots – sofern eine solche (überhaupt) ausnahmsweise aus Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 hergeleitet werden kann (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 8. Dezember 2009 – 1 C 16.08 – juris, Rn. 14 ff.) – besteht in einem erhöhten Schutz vor aufenthaltsbeendenden Maßnahmen und verleiht somit keinen Anspruch auf Erteilung eines bestimmten Aufenthaltstitels (BVerwG, ebd.). Selbst wenn daher die der Klägerin im Oktober 1995 unbefristet erteilte Arbeitsgenehmigung nach § 19 AFG im Verhältnis zu einer befristeten Aufenthaltserlaubnis trotz der durch das Aufenthaltsgesetz geänderten Rechtslage (vgl. §§ 39 ff., § 105 AufenthG) noch einen "überschießenden" Regelungsgehalt aufwiese, der in Anwendung des assoziationsrechtlichen Diskriminierungsverbots zu einem Anspruch auf Verlängerung des Aufenthaltstitels führte, folgt daraus mangels Sicherung des Lebensunterhalts noch kein Anspruch auf Erteilung der hier allein begehrten Niederlassungserlaubnis. Auch insoweit bestimmen sich Form und Inhalt des zu erteilenden Aufenthaltstitels nach den Regeln des nationalen Rechts. [...]