Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung nach Italien.
[...]
Der Antrag ist auch begründet. Dem Antragsteller steht der geltend gemachte Anordnungsanspruch zu und er hat diesen glaubhaft gemacht. Unter Berücksichtigung des Vorbringens des Antragstellers und der vorliegenden Erkenntnisse zur Überstellung von Asylbewerbern nach Italien auf der Grundlage der Dublin II-VO wird im Hauptsacheverfahren zu prüfen sein, ob die Vorgaben des Grundgesetzes für die fachgerichtliche Prüfung der Grenzen des Konzeptes der normativen Vergewisserung einer Überstellung nach Italien entgegenstehen. In der Rechtsprechung sind zu dieser Frage bislang etliche divergierende Entscheidungen getroffen worden (vgl. u.a. VG Regensburg, Beschluss vom 14.01.2011, RO 7 S 11.30018; VG Magdeburg, Beschluss vom 31.01.2011, 5 B 40/11: VG Ansbach, Beschluss vom 20.01.2011, AN 9 E 10.30523 - vorläufigen Rechtsschutz verneinend - einerseits; VG Minden, Beschluss vom 07.12.2010, 3 L 625/10.A; VG Gießen, Beschluss vom 10.03.2011, 1 L 468/11.GI.A; VG Wiesbaden, Beschluss vom 12.04.2011, 7 L 303/11.WI.A; VG Schleswig, Beschluss vom 13.04.2011, 1 B 1/11 - vorläufigen Rechtsschutz bejahend - andererseits). Es liegen insbesondere nach den den Beteiligten des Verfahrens bekannten Berichten von Bethke und Bender ("Zur Situation von Flüchtlingen in Italien", Bericht über die Recherche-Reisen nach Rom und Turin im Oktober 2010, veröffentlicht von "Pro Asyl"), ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür vor, dass der Antragsteller im Falle einer Abschiebung nach Italien tatsächlich Gefahr läuft, einer Artikel 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Es sprechen erhebliche Gründe dafür; dass dem Antragsteller eine menschenrechtswidrige Behandlung in diesem Sinne dadurch droht, dass er bei einer Rückkehr nach Italien ohne die Gewährung von Unterkunft und Nahrung in extremer Armut und ohne ein Mindestmaß an erforderlicher medizinischer Betreuung leben müsste und sich insoweit auch nicht selbst helfen könnte. Wie bereits die 1. Kammer des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts in dem zitierten Beschluss vom 13.04.2011 festgestellt hat, stehen die in dem Beschluss beschriebenen Hilfemöglichkeiten nur einem geringen Teil der Flüchtlinge tatsächlich zur Verfügung. Das SPRAR-Hilfesystem ist nicht nur für Asylsuchende zuständig. sondern auch für anerkannte Flüchtlinge und sonstige Schutzbedürftige. Die Anzahl ist für ganz Italien begrenzt auf ca. 3000 Plätze. Werden die betroffenen Flüchtlinge aus den Zentren entlassen und erhalten erst gar nicht einen Platz, sind sie häufig auf sich alleine gestellt. Es gibt keine Unterstützung durch Sozialleistungen. Im Jahre 2008 haben alleine 31.100 Personen in Italien um Asyl nachgesucht. Die Wartelisten für SPRAR-Plätze sind so lang, dass für viele Bedürftige keine realistische Perspektive auf Unterbringung in den Projekten besteht. Die Zahl der SPRAR-Plätze wurde 2009 gegenüber 2008 sogar noch reduziert. Die lokalen Partner, die die SPRAR-Projekte betreiben, tun dies freiwillig. Es gibt keine Verpflichtung der Kommunen, eine gewisse Zahl von Plätzen zur Verfügung zu stellen. Außerhalb des Systems gibt es einzelne lokale, kommunale und private Unterbringungsprojekte, die jedoch nicht die massenhafte Wohnungslosigkeit beseitigen können. Zum Teil handelt es sich dabei auch um reine Schlafunterkünfte, die nur in den Nachtstunden genutzt werden können. Diese Verhältnisse führen dazu, dass - wie in dem Bericht von Bethke/Bender beschrieben - viele Asylsuchende und Asylberechtigte auf der Straße leben bzw. auf Brachflächen oder in besetzten Häusern. Die betroffenen obdachlosen Flüchtlinge sind im wesentlichen damit beschäftigt, kostenlose Essens-, Kleider- und Hygieneangebote oder kostenlose Schlafmöglichkeiten zu finden.
Die besetzten Häuser und die Brachflächen sind auch Anlaufstelle für eine große Anzahl von Personen, die im Rahmen der Dublin-II-VO nach Italien zurücküberstellt werden. Der UNHCR/Rom bezeichnete die ehemalige somalische Botschaft schon im Jahre 2004 als typische Unterkunft für aus anderen europäischen Ländern nach Italien zurücküberstellte Personen. Da ihnen kein Anspruch auf Wohnraum oder existenzsichernde Sozialleistungen zusteht, werden die Betroffenen sich selbst überlassen. Eine bevorzugte Behandlung von Dublin-Rückkehrern ist nicht festzustellen. Laut offiziellem Bericht des SPRAR wurden lediglich 12 % der Dublin-Rückkehrer in den Jahren 2008 und 2009 nach ihrer Ankunft in ein SPRAR-Projekt vermittelt, 88 % hingegen wurden der Obdachlosigkeit überlassen. Im Jahr 2008 wurden von insgesamt 1.308 Dublin-Rückkehrern 148 in ein SPRAP-Projekt aufgenommen, im Jahr 2009 erhielten von 2.658 Unterstellten ca. 314 Personen einen Platz in einer Unterkunft. Offenbar bestehen auch Hilfen bei (Wieder-) Beschaffung von Aufenthaltspapieren. Zuständig für die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis und ggf. eines Reiseausweises ist in der Regel die gleiche Polizeibehörde, die sie beim ersten Aufenthalt des Betroffenen in Italien ausgestellt hatte. Dies bedeutet für die nach Italien zurückgeschobenen Flüchtlinge, dass sie sich - in der Regel ohne Geld für eine Fahrkarte zu haben - an diesen Ort begeben, mehrere Wochen auf die Ausstellung des Dokumentes warten und eine Gebühr für die Neuausstellung bezahlen müssen. Dabei bleiben gerade häufig besonders schutzbedürftige Personen wie Frauen mit kleinen Kindern, Jugendliche und Kranke nach ihrer Bestellung ohne Papiere. Der Antragsteller gehört als minderjähriger Jugendlicher dem bezeichneten besonders schutzbedürftigen Personenkreis an.
Diese Probleme werden auch in der Bewertung des Schweizer Bundesamtes für Migration in seinem Bericht vom 23.9.2009 ("Hintergrundnotiz MILA, Italien Asylverfahren") bestätigt. Dort ist von häufiger Kritik an der ungenügenden finanziellen Ausstattung des italienischen Fürsorgesystems für Asylsuchende die Rede. Das Problem scheint hiernach vor allem daran zu liegen, dass über das einzige staatlich alimentierte Fürsorgesystem, dem SPRAR, nur ein Bruchteil der Asylsuchenden unterstützt werden kann. Private Hilfsstrukturen seien zwar eine willkommene Ergänzung, verfügten jedoch über zu wenig Mittel. Zudem sei die Situation unübersichtlich, so dass es für Asylsuchende mithin schwierig werde, Zugang zu finden oder andere Unterstützung zu erhalten. In großen Städten wie Rom oder Mailand gebe es gravierende Probleme mit obdachlosen Asylsuchenden, auch illegale Barackensiedlungen an den Rändern der großen Städte seien keine Seltenheit.
Vor diesem Hintergrund ist ernsthaft zu befürchtet, dass der Antragsteller bei einer Abschiebung nach Italien - wo er nach über keinerlei familiäre oder sonstige Verbindungen verfügt - infolge mangelnder Hilfen weder eine menschenwürdige Unterkunft noch ausreichend Nahrung oder eventuell notwendige medizinische Versorgung finden wird. Es ist unwahrscheinlich, dass er in einem Aufnahmezentrum oder einer SPRAR-Einrichtung betreut werden würde. Es spricht ferner viel dafür, dass er nicht in der Lage sein wird, sich anderweitig die für eine menschenwürdige Existenz notwendigen Dinge, wie Nahrung, Unterkunft und Bekleidung zu beschaffen. [...]