VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Beschluss vom 06.07.2011 - 7 L 1604/11.F.A [= ASYLMAGAZIN 2011, S. 297 ff.] - asyl.net: M18724
https://www.asyl.net/rsdb/M18724
Leitsatz:

Beschränkt ein Asylbewerber seinen Asylantrag nachträglich auf das Gewähren subsidiären Schutzes, kann eine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 nicht mehr erfolgen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Rücknahme, Asylantrag, subsidiärer Schutz, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Verschulden, Flughafenverfahren, Einreiseverweigerung, Schengen-Visum, Spanien, Klagefrist, einstweilige Anordnung, Abschiebungsverbot, Abschiebungsanordnung, sichere Drittstaaten, Iran,
Normen: AsylVfG § 18 Abs. 2 Nr. 2, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VwGO § 60 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 2 Bst. c S. 1, RL 2004/83/EG Art. 2 Bst. e, RL 2004/83/EG Art. 15, VO 343/2003 Art. 2 Bst. f, VO 343/2003 Art. 4 Abs. 5, VwVfG § 22, AsylVfG § 34a Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 26a, GG Art. 16a Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

Der Hilfsantrag des Antragstellers, der Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig zu untersagen, den Antragsteller nach Spanien abzuschieben, ist jedoch mit der Folge begründet, dem Antragsteller zur Durchführung des von ihm eingeleiteten und zwischenzeitlich auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG beschränkten Verfahrens die Einreise zu gestatten.

Der Antragsteller hatte ursprünglich im Rahmen der Einreisekontrolle am 19.05.2011 ein umfassendes Asylersuchen bei der Antragsgegnerin geltend gemacht, die dieses Ersuchen am 25.05.2011 an das Dublin-Verfahren bearbeitende Referat 430 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge weitergeleitet hatte, um von dort aus ein Überstellungsverfahren nach Spanien einzuleiten. Diesen Asylantrag hat der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten mit Telefax vom 28.06.2011 gegenüber dem Bundesamt zurückgenommen, soweit er auf die Anerkennung als Asylberechtigter im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG gerichtet war, und sein Begehren auf die Gewährung subsidiären Schutzes beschränkt. Damit sind die Voraussetzungen für einen Vollzug der von der Antragsgegnerin ausgesprochenen und auf § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylVfG gestützten Einreiseverweigerung vom 25.05.2011 nachträglich weggefallen. Für das allein auf das Gewähren subsidiären Schutzes beschränkte Schutzersuchen des Antragstellers besteht weder auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union noch auf Grund eines völkerrechtlichen Vertrages die Zuständigkeit eines anderen Staates.

Eine Überstellung des Antragstellers nach Spanien auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 ist zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts über den vorliegenden Eilantrag rechtlich nicht mehr möglich. Diese erfasst nämlich nicht solche Sachverhalte, bei denen ein Schutzersuchen von vornherein oder auch nachträglich auf das Gewähren subsidiären Schutzes beschränkt ist.

Nach Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 legt diese Verordnung die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, zur Anwendung gelangen. Der Legaldefinition des Art. 2 Buchst. c) Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 zufolge ist ein "Asylantrag" im Sinne dieser Verordnung der von einem Drittstaatsangehörigen gestellte Antrag, der als Ersuchen um internationalen Schutz eines Mitgliedstaats im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention angesehen werden kann. Nach Satz 2 wird jeder Antrag auf internationalen Schutz als Asylantrag im Sinne dieser Definition angesehen, es sei denn, dass ein Drittstaatsangehöriger ausdrücklich um einen anderweitigen Schutz ersucht, der gesondert beantragt werden kann. Aus dem eindeutigen Wortlaut des Art. 2 Buchst. c) Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 ergibt sich, dass diese nur in Fällen zur Anwendung gelangt, in denen die Rechtsstellung als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, also nach nationalem deutschen Recht ein Status nach § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt wird. Wird ein Schutzersuchen auf das Gewähren subsidiären Schutzes im Sinne des Art. 2 Buchst. e) in Verbindung mit Art. 15 der Richtlinie 2004/83 EG vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (so genannte Qualifikationsrichtlinie) bzw. auf Feststellen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG beschränkt, ist die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 nicht anwendbar (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, 2010, § 27 a Rdnr. 121; Westphal/Stoppa, Ausländerrecht für die Polizei, 3. Aufl. 2007, S. 383; Marx, AsylVfG, 7. Aufl. 2009, § 27 a Rdnr. 18 m.w.Nachw.; anders wohl Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, 3. Aufl. 2010, S. 63).

Dass die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 nicht für Personen gilt, die subsidiären Schutz beantragen (bzw. genießen), ergibt sich auch aus dem Bericht der Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 06.06.2007 zur Bewertung des Dublin-Systems (KOM(2007) 299 endg., S. 6). Dementsprechend wird dort die Absicht verkündet, die Ausweitung des Geltungsbereichs der Verordnung zwecks Berücksichtigung subsidiären Schutzes zu empfehlen. Ein entsprechender Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, vom 03.12.2008 (KOM(2008) 820 endg.) hat dies aufgegriffen. Nach dem vorgeschlagenen neuen Erwägungsgrund 8 "empfiehlt es sich, den Anwendungsbereich dieser Verordnung auf Personen auszudehnen, die subsidiären Schutz beantragt haben oder genießen" (S. 15). Ferner wird vorgeschlagen, die Begriffsdefinition des Asylantrags in Art. 2 Buchst. c) der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 zu ersetzen durch den "Antrag auf internationalen Schutz" als ein Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des Art. 2 Buchst. g) der Richtlinie 2004/83/EG (S. 22).

Der Bundesrat war mit diesen Vorschlägen befasst und hat in seiner Sitzung vom 13.02.2009 diesen durch Beschluss ausdrücklich widersprochen (BR-Drucksache 965/08). Dort heißt es unter anderem:

"Der Bundesrat ist der Auffassung, dass eine Ausweitung des Anwendungsbereichs der Verordnung auf Personen, die subsidiären Schutz beantragt haben, weder erforderlich noch angezeigt ist. Die bisherige Unterscheidung zwischen Asylbewerbern und Antragstellern auf subsidiären Schutz ist schon wegen der oftmals unterschiedlichen Zeitdauer des Schutzbedürfnisses sachlich begründet.

Darüber hinaus dürfte die Integration von Verfahren zur isolierten Entscheidung über die Gewährung subsidiären Schutzes wegen geltend gemachter zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote, ohne dass ein Asylantrag vorliegt, in das Dublin-System Probleme bereiten. (…) Im Übrigen erfordert die von der Kommission zur Begründung einzig angeführte Kohärenz mit den geltenden EU-Rechtsvorschriften, insbesondere der Anerkennungsrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes), keine Erweiterung des von der

Verordnung begünstigten Personenkreises.

Zudem stellt der von der Kommission angeführte Artikel 63 Absatz 1 Buchstabe a EGV vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon keine ausreichende Rechtsgrundlage zur Erweiterung des Anwendungsbereiches der Dublin-Verordnung auf den Personenkreis der Antragsteller auf subsidiären Schutz dar. Die weiter in Betracht kommende Rechtsgrundlage des Artikels 63 Absatz 2 Buchstabe a EGV ermöglicht dem Rat jedoch nur, Mindestnormen hinsichtlich der subsidiär Geschützten zu beschließen. Der Begriff Mindestnormen zeigt, dass die Kompetenz der Gemeinschaft in diesem Bereich beschränkt ist. Eine umfassende Einbeziehung der subsidiär Geschützten begegnet auch deshalb durchgreifenden Bedenken."

Werden somit von der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 Anträge auf subsidiären Schutz nicht erfasst, kann diese nach einer Teilrücknahme des Schutzersuchens und dessen ausschließliche Beschränkung auf subsidiären Schutz nicht mehr zur Anwendung kommen (ebenso VG Augsburg, Urt. v. 23.03.2010 – Au 6 K 10.30006, Asylmagazin 2010, 163; VG München, Urt. v. 09.09.2010 – M 2 K 09.50582, BeckRS 2010, 53226; a.A. VG Saarlouis, Beschl. v. 14.06.2010 – 10 L 528/10, BeckRS 2010, 50026; vgl. in diesem Zusammenhang auch das vom Kammarrätten i Stockholm (Verwaltungsgerichtshof) an den EuGH gerichtete Vorabentscheidungsersuchen vom 27.12.2010, Rechtssache C-620/10). Eine Überstellung des Antragstellers nach Spanien kann daher nicht mehr vollzogen werden.

Die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in seiner die Durchführung von Dublin- Verfahren betreffenden internen Dienstanweisung-Asyl vom 04.03.2010 (verfügbar über www.proasyl.de) vertretene und die sich hieran orientierende Verwaltungspraxis, wonach die Rücknahme eines Asylantrags dessen konstitutive Wirkung nicht beseitige und daher ein an den Zuständigkeitskriterien der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 anknüpfendes Überstellungsverfahren fortgesetzt werden könne, findet weder in der Verordnung selbst noch in der zur Durchführung dieser Verordnung erlassenen Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 vom 02.09.2003 eine rechtliche Grundlage.

Die Verordnung (EG) 343/2003 regelt die Folgen der Rücknahme des Asylantrags (zur Begriffsdefinition vgl. Art. 2 Buchst. f) der Verordnung) nur rudimentär.

Nach Art. 4 Abs. 5 Verordnung (EG) 343/2003 ist der Mitgliedstaat, bei dem der Asylantrag gestellt wurde, gehalten, einen Asylbewerber, der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats befindet und dort einen Asylantrag gestellt hat, nachdem er seinen Antrag noch während des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zurückgezogen hat, nach den Bestimmungen des Art. 20 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 wieder aufzunehmen, um das das Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats zum Abschluss zu bringen (vgl. zur Verpflichtung zur Wiederaufnahme Art. 16 Abs. 1 Buchst. d) Verordnung (EG) Nr. 343/2003).

Die Voraussetzungen dieser "Sonderregel" (Filzwieser/Sprung, a.a.O., S. 84) sind im Falle des Antragstellers nicht erfüllt.

Aus Art. 5 Abs. 4 in Verbindung mit Art. Art. 16 Abs. 1 Buchst. d) Verordnung (EG) Nr. 343/2003 folgt jedoch, dass allein bei einer in diesen Vorschriften beschriebenen Sachverhaltskonstellation der Rücknahme eines Asylantrags das weitere Zuständigkeitsbestimmungs- und Überstellungsverfahren nach Maßgabe der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 erfolgt.

Die Wirkungen der vom Antragsteller vorgenommenen Rücknahme seines Asylantrags in Gestalt der Beschränkung des Schutzersuchens auf subsidiären Schutz bestimmen sich daher nach nationalem Verfahrensrecht. Mangels insoweit spezieller asylverfahrensrechtlicher Bestimmungen ist auf die zu § 22 VwVfG entwickelten allgemeinen Grundsätze zurückzugreifen. Mit der Rücknahme werden bereits durchgeführte Verfahrenshandlungen nicht wirkungslos, da die Rücknahme nur ex nunc wirkt (vgl. Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 7. Aufl , München 2008, § 22 Rdnr. 69; Heßhaus, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), VwVfG, München 2010, § 22 Rdnr. 37; Huck, in: Huck/Müller, VwVfG, München 2011, § 22 Rdnr. 22). Weder die von der Bundespolizei noch die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Rahmen des Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens eingeleiteten Schritte haben mit der Rücknahmeerklärung des Antragstellers ihre Wirksamkeit verloren (a.A. VG Augsburg, Urt. v. 23.03.2010 – Au 6 K 10.30006, Asylmagazin 2010, 163: Ex-tunc-Wirkung). Die partielle Antragsrücknahme steht jedoch einem weiteren behördlichen Vorgehen auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 entgegen.

Auch für die in dem Entwurf des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30.06.2011 enthaltene Anordnung der Abschiebung des Antragstellers nach Spanien mangelt es an einer Rechtsgrundlage. Insbesondere kann diese Abschiebungsanordnung nicht auf § 34 a Abs. 1 S. 1 AsylVfG gestützt werden. Diese Norm setzt, soweit sie auf § 26 a AsylVfG Bezug nimmt, eine Einreise über einen sicheren Drittstaat im Sinne des Art. 16 a Abs. 2 S. 1 GG voraus. Der Antragsteller ist jedoch nicht aus einem sicheren Drittstaat im Sinne dieser Vorschrift (hier: Spanien) nach Deutschland gekommen, sondern traf am 19.05.2011 aus dem Iran kommend mit einem Direktflug am Frankfurter Flughafen ein. Auch die zweite unter anderem das Dublin-Verfahren betreffende Variante des § 34 a Abs. 1 S. 1 AsylVfG kommt – wie bereits dargelegt – nicht zum Zuge. [...]