OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27.04.2010 - 8 A 888/09.A - asyl.net: M18744
https://www.asyl.net/rsdb/M18744
Leitsatz:

1. Nach der nunmehr geltenden Rechtslage ist (auch) hinsichtlich der Abschiebungsverbote, die nach der Richtlinie 2004/83/EG subsidiären Schutz begründen, zu differenzieren: Ist der Ausländer bereits vor der Flucht Opfer von subsidiären Abschiebungsschutz begründenden Gefahren geworden, so ist zu seinen Gunsten ein herabgesetzter Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzuwenden.

2. Wenn eine Wiederholung der Verfolgung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist, liegen regelmäßig stichhaltige Gründe im Sinne von RL 2004/83/EG Art 4 Abs. 4 vor, um dessen Vermutung der fortbestehenden Verfolgungsgefahr zu entkräften.

3. Es ist Sache des Ausländers, die Gründe für eine Gefahr im Sinne des AufenthG § 60 Abs. 2 schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung eine derartige Gefahr droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigen werden.

Schlagwörter: türkische Staatsangehörige, Kurden, PKK, Sympathisant, Asylantrag, Türkei, Abschiebungsverbot, subsidiärer Schutz, Beweiserleichterung, ernsthafter Hinweis, Vorverfolgung, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2, RL 2004/83/EG Art. 4, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Das Verwaltungsgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Der ablehnende Bescheid des Bundesamtes ist, soweit er Gegenstand des Berufungsverfahrens ist, rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 2 AufenthG. Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer nicht einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden.

1. Abweichend von der früheren ständigen Rechtsprechung, nach der bei Prüfung der in § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG geregelten Abschiebungsverbote ausnahmslos der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen war (so zur Rechtslage vor Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes: BVerwG, Beschluss vom 21. Februar 2006 - 1 B 107.05 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 323), ist nach der nunmehr geltenden Rechtslage (auch) hinsichtlich der Abschiebungsverbote, die nach der Richtlinie 2004/83/EG subsidiären Schutz begründen, zu differenzieren; ist der Ausländer bereits vor der Flucht Opfer von subsidiären Abschiebungsschutz begründenden Gefahren geworden, so ist zu seinen Gunsten ein herabgesetzter Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzuwenden.

Dies folgt aus Art. 4 RL 2004/83/EG. Die dort normierten Verfahrensgrundsätze gelten nicht nur für die Prüfung von Anträgen auf Verfolgungsschutz im Sinne der Genfer Konvention, sondern auch für die Gewährung von sog. subsidiärem Schutz, wie er im deutschem Recht durch die ausländerrechtlichen Abschiebungsverbote in § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG geregelt ist (vgl. EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - C-175/08 -, Rdnr. 80; Hailbronner, AuslR, § 60 AufenthG Rn. 219 ff. ; diese Frage offen lassend: OVG Rh.-Pf., Urteil vom 1. Dezember 2006 - 10 A 10887/06 -, juris, Rn. 47; zur Umsetzung der RL 2004/83/EG in das deutsche Recht vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 - 10 C 43.07 -, BVerwGE 131,198).

Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG sieht eine Beweiserleichterung zu Gunsten von vorverfolgt ausgereisten Antragstellern vor (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Februar 2008 10 C 33.07 -, DVBl. 2008, 1255; EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - C-175/08 -, Rdnr. 81ff.).

Nach dieser Beweisregel ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Der herabgesetzte Wahrscheinlichkeitsmaßstab genügt den Anforderungen der Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der RL 2004/83/EG. Wenn eine Wiederholung der Verfolgung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist, liegen regelmäßig stichhaltige Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der RL 2004/83/EG vor, um dessen Vermutung der fortbestehenden Verfolgungsgefahr zu entkräften (vgl. Bank/Foltz, Flüchtlingsrecht auf dem Prüfstand, Teil 1: Flüchtlingsschutz, Beilage zum Asylmagazin 10/2008, S. 1, 4 f.).

Es ist Sache des Ausländers, die Gründe für eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG schlüssig vorzutragen (zu den Mitwirkungs- und Darlegungsobliegenheiten vgl. auch Art. 4 der RL 2004/83/EG). Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung eine derartige Gefahr droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigen werden (vgl. zu Art. 16 a GG: BVerwG, Beschlüsse vom 21. Juli 1989 9 B 239.89 -, InfAuslR 1989, 349, vom 26. Oktober 1989 9 B 405.89 -, InfAuslR 1990, 38 (39), und vom 3. August 1990 - 9 B 45.90 -, InfAuslR 1990, 344).

2. Bei Anwendung dieser Grundsätze ist im vorliegenden Fall der gewöhnliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu Grunde zu legen. Die Beweiserleichterung gemäß Art. 4 Abs. 4 der RL 2004/83/EG kommt dem Kläger nicht zugute; denn es steht nicht im Sinne des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zur Überzeugung des Gerichts fest, dass er als politisch Verfolgter aus der Türkei ausgereist ist bzw. dass er bereits vor der Flucht Gefahren ausgesetzt war, die subsidiären Abschiebungsschutz begründen.

a) Bei Beurteilung dieser Frage ist das Gericht nicht an das rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 25. Mai 1992 - 18 K 12346/90 - gebunden. Dieses Urteil hat das Bundesamt verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. vorliegen. Es verhält sich jedoch nicht zu der Frage, ob dem Kläger subsidiärer Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 AufenthG zu gewähren ist. Die Rechtskraft erstreckt sich grundsätzlich nicht auf die Urteilsgründe.

b) Das Gericht hat nicht die Überzeugung gewinnen können, dass die Ausreise des Klägers unter Umständen geschehen ist, die bei objektiver Betrachtung das äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck erlittener individueller Verfolgung oder einer Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG stattfindenden Flucht ergeben (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 1990 9 C 60.89 -, BVerwGE 87, 52).

Das Gericht hält das Vorbringen des Klägers zu den angeblichen Festnahmen und Übergriffen in der Türkei sowie zu seiner Flucht insgesamt für unglaubhaft. Der Kläger hat bei seiner Befragung in der mündlichen Verhandlung in zentralen und entscheidenden Punkten eine andere Verfolgungs- und Fluchtgeschichte geschildert als bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt 1990. Dabei hat das Gericht einen sehr großzügigen Maßstab hinsichtlich der Anforderungen an das Erinnerungsvermögen nach 20 Jahren zugrunde gelegt. Es ist ein natürlicher Prozess, dass sich ein Betroffener nach einem derart langen Zeitraum an viele Details nicht mehr erinnert; seine Erinnerungen verblassen, gehen verloren oder werden im Laufe der Zeit sogar "umgeformt" und damit verändert. Aber auch bei Anlegung eines derart großzügigen Maßstabs sind die Unterschiede zwischen den beiden vom Kläger geschilderten Versionen seines angeblichen Verfolgungsschicksals nur damit zu erklären, dass die Angaben des Klägers nicht der Wahrheit entsprechen. [...]

Die Unterschiede und Widersprüche der beiden vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung geschilderten Verfolgungsversionen betreffen wesentliche Punkte des Kerngeschehens und sind von so grundlegender Bedeutung, dass das Gericht dem Vortrag des Klägers keinen Glauben schenkt. Es liegen deshalb auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger aus politischen Gründen gesucht wurde oder wird.

3. Der Kläger hat auch nicht wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit in der Türkei politische Verfolgung erlitten. Das erkennende Gericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass eine Gruppenverfolgung der Kurden in der Türkei auch bezogen auf den Zeitpunkt der Ausreise des Klägers nicht festzustellen ist (vgl. die vom VG Köln, Urteil vom 25. Mai 1992 18 K 12346/90 - zitierte Rechtsprechung; ferner: OVG NRW, Urteile vom 25. Januar 2000 8 A 1292/96.A -, vom 27. Juni 2002 8 A 4782/99.A - und vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -).

4. Da der Kläger die Türkei unverfolgt verlassen hat, ist im vorliegenden Fall der gewöhnliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Hieran gemessen droht dem Kläger bei einer Abschiebung in die Türkei auch gegenwärtig keine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG.

a) Der Kläger hat allein wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit auch gegenwärtig nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG zu gewärtigen (vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 8 A 273/04.A -, m.w.N.; Urteil vom 15. Oktober 2008 8 A 40/08.A -; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29. Juni 2009, S. 14f.).

b) Dem Kläger droht auch nicht wegen exilpolitischer Aktivitäten nach einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG. Der Kläger hat solche Aktivitäten nicht behauptet. [...]