SG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
SG Berlin, Urteil vom 24.05.2011 - S 149 AS 17644/09 [= ASYLMAGAZIN 2011, S. 314 ff.] - asyl.net: M18772
https://www.asyl.net/rsdb/M18772
Leitsatz:

1. Die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 ist europarechtskonform einschränkend dahingehend auszulegen, dass sie nur dann Anwendung findet, wenn die Arbeitssuche bereits Zweck der Einreise war. Eine wortgetreue Anwendung des Leistungsausschlusses auf sämtliche Fälle, in denen ein Unionsbürger zum Zeitpunkt der Stellung eines Leistungsantrags ein Aufenthaltsrecht nur zum Zweck der Arbeitssuche hat, ohne Ansehung des ursprünglichen Zwecks der Einreise würde gegen vorrangig anwendbares Europarecht verstoßen.

2. Es ist zweifelhaft, ob der Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 nicht gegen den - unmittelbar anwendbaren - Art. 4 EGV 883/2004 verstößt. Danach haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Gemäß Art. 3 Abs. 3 iVm Art. 70 iVm Anhang X EGV 883/2004 gilt dieser Gleichbehandlungsgrundsatz auch für Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Die Verordnung gilt nach Art. 2 EGV 883/2004 jedenfalls für alle Unionsbürger.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: SGB II, Unionsbürger, Polen, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, Aufenthaltszweck, Gleichheitsgrundsatz, Freizügigkeitsbescheinigung, Sozialhilfe
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, EGV 883/2004 Art. 4, EGV 883/2004 Art. 3 Abs. 3, EGV 883/2004 Art. 70, EGV 883/2004 Art. 2, FreizügG/EU § 5, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1, RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 1, RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2, RL 2004/38/EG Art. 14 Abs. 4
Auszüge:

[...]

1. Die Kläger haben einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II in dem streitgegenständlichen Zeitraum aus § 7 SGB II. Die Klägerin zu 1) gehörte zu dem grundsätzlich leistungsberechtigten Personenkreis gem. § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II. [...]

2. Ein Leistungsanspruch der Kläger scheitert auch nicht daran, dass die Klägerin zu 1) nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen wäre. Nach dieser Vorschrift sind Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen.

a) Nach dem Wortlaut der Vorschrift liegen die Voraussetzungen für einen Leistungsausschluss zwar vor. Die Klägerin zu 1) ist Ausländerin und ihr Aufenthaltsrecht ergibt sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche. Einreise und Aufenthalt der Klägerin zu 1) richten sich nach dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) (vgl. § 1 FreizügG/EU). Die Klägerin zu 1) ist polnische Staatsbürgerin und die Republik Polen ist mit Wirkung zum 1. Mai 2004 der Europäischen Union beigetreten.

Die Klägerin zu 1) hatte im streitgegenständlichen Zeitraum nur ein Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Sie war im Besitz einer Arbeitsberechtigung-EU für berufliche Tätigkeiten jeder Art und plante, ihren Schulabschluss nachzuholen und einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, sobald die Betreuung des Klägers zu 2) gesichert war. [...]

Die Klägerin zu 1) konnte ein Aufenthaltsrecht auch nicht aus der elterlichen Sorge für den Kläger zu 2) ableiten. Zwar steht nach den Urteilen des EuGH vom 23. Februar 2010 in den Rechtssachen Teixeira und Ibrahim dem Elternteil, welches die elterliche Sorge für ein freizügigkeitsberechtigtes minderjähriges Kind ausübt, unter Umständen ein von diesem Kind abgeleitetes Aufenthaltsrecht unmittelbar aus Art. 12 der Verordnung 1612/68 vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu, welches unabhängig davon ist, ob das Elternteil selbst über ausreichende Existenzmittel verfügt (EuGH, Urteile vom 23. Februar 2010, Az. C-480/08 und C-310/08). Dies setzt allerdings voraus, dass das Elternteil selbst einmal Wanderarbeitnehmer war. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Urteil des EuGH vom 8. März 2011 (Az. C-34/09). Soweit der EuGH dort entschieden hat, dass sich aus der Unionsbürgerschaft gem. Art. 20 AUEV ggf. ein Aufenthaltsrecht auch für Eltern eines Unionsbürgers mit Drittstaatsangehörigkeit ergibt, ist dieser Fall hier nicht einschlägig.

Schließlich ist der Leistungsausschluss gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II auch nicht deswegen unanwendbar, weil die Klägerin zu 1) in den Anwendungsbereich des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) fallen würde. Polen gehört nicht zu den Vertragsstaaten des EFA (vgl. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010, Az. B 14 AS 23/10 R).

b) Die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ist jedoch europarechtskonform einschränkend dahingehend auszulegen, dass sie nur dann Anwendung findet, wenn die Arbeitssuche bereits Zweck der Einreise war. Eine wortgetreue Anwendung des Leistungsausschlusses auf sämtliche Fälle, in denen ein Unionsbürger zum Zeitpunkt der Stellung eines Leistungsantrags ein Aufenthaltsrecht nur zum Zweck der Arbeitssuche hat, ohne Ansehung des ursprünglichen Zwecks der Einreise würde gegen vorrangig anwendbares Europarecht verstoßen (zu den in der Rechtsprechung bestehenden europarechtliche Bedenken vgl. Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. Dezember 2010, Az. L 34 AS 1501/10 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. November 2010, Az. L 34 AS 1001/10 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. September 2010, Az. L 10 AS 1023/10 B ER; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 25. August 2010, Az. L 7 AS 3769/10 ER-B).

§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II dient der Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen (Unionsbürger-RL). Nach Art. 24 Abs. 1 der Unionsbürger-RL genießen Unionsbürger, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates aufhalten, grundsätzlich das Recht auf Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen dieser Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten dürfen von diesem Recht gem. Art. 24 Abs. 2 Unionsbürger-RL iVm. Art. 14 Abs. 4 Nr. b Unionsbürger-RL jedoch Ausnahmen vorsehen in Bezug auf Ansprüche auf Sozialhilfe, wenn Unionsbürger eingereist sind, um Arbeit zu suchen.

aa) Zweifel bestehen schon daran, ob die Leistungen nach dem SGB II von dieser Ausnahmeregel überhaupt erfasst sind. Das wäre nur dann der Fall, wenn es um Leistungen der Sozialhilfe im Sinne des Art. 24 Abs. 2 Unionsbürger-RL handelt. Dafür kommt es nicht auf die Terminologie des deutschen Gesetzgebers bei der Abgrenzung des Zweiten und Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch an, sondern auf die europarechtliche Auslegung des Begriffs der Sozialhilfe. Nach dem EuGH stellen finanzielle Leistungen, die unabhängig von ihrer Einstufung nach nationalem Recht den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, keine Sozialhilfeleistungen gem. Art. 24 Abs. 2 Unionsbürger-RL dar (EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009, Az. C-22/08, Rz. 45). Dies könnte auch auf SGB II-Leistungen zutreffen. Die Grundsicherung für Arbeitssuchende soll gem. § 1 Abs. 2 S. 2 SGB II "erwerbsfähige Leistungsberechtigte bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit unterstützen und den Lebensunterhalt sichern, soweit sie ihn nicht auf andere Weise bestreiten können". Außerdem gehört zu den Voraussetzungen für den Leistungsbezug gem. § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II unter anderem auch die Erwerbsfähigkeit. Dies könnte auch nach dem EuGH ein Hinweis darauf sein, dass die Leistungen den Zugang zur Beschäftigung erleichtern sollen (EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009 - Vatsouras, Koupatanze, Rs. C-22/08, Rdnr. 43).

Andererseits unterscheidet § 1 Abs. 3 SGB II zwischen Eingliederungsleistungen und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Diese Unterscheidung könnte nahe legen, dass nur erstere keine Sozialhilfe im europäischen Sinn darstellen. Dies wird möglicherweise auch durch Art. 70 Abs. 1 iVm. Anhang X der Verordnung 883/2004 vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO 883/2004), welche die Verordnung VO 1408/71 ersetzt hat, gestützt, wonach Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende besondere beitragsunabhängige Leistungen darstellen, die sowohl Merkmale der Sozialhilfe als auch der sozialen Sicherheit aufweisen, d.h. eine Form von Hybridleistungen darstellen. Andererseits ist fraglich, ob sich das Leistungssystem des SGB II sinnvoll aufteilen lässt. Unter § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II fallende Unionsbürger müssten dann die Leistungen nach §§ 14 ff SGB II erhalten, ohne Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu bekommen.

bb) Es ist allerdings weiterhin äußerst zweifelhaft, ob der Leistungsausschluss gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II nicht gegen den – unmittelbar anwendbaren – Art. 4 VO 883/2004 verstößt. Danach haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Gem. Art. 3 Abs. 3 iVm. Art. 70 iVm. Anhang X VO 883/2004 gilt dieser Gleichbehandlungsgrundsatz auch für Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Die Verordnung gilt nach Art. 2 VO 883/2004 jedenfalls für alle Unionsbürger.

cc) Im Ergebnis muss im vorliegenden Fall allerdings nicht entschieden werden, ob die Leistungen des SGB II überhaupt unter Art. 24 Abs. 2 Unionsbürger-RL fallen und ob der Leistungsausschluss gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II insgesamt aufgrund vorrangig anwendbaren Europarechts unangewendet bleiben muss. Ein Anspruch der Kläger auf die geltend gemachten Leistungen besteht schon dann, wenn die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II europarechtskonform einschränkend dahingehend ausgelegt wird, dass sie nur dann Anwendung findet, wenn die Arbeitssuche bereits Zweck der Einreise war.

Ein Leistungsausschluss unabhängig davon, ob die Arbeitssuche bereits zum Zeitpunkt der Einreise Zweck des Aufenthalts war oder erst nach einer Einreise aus anderen Gründen später zum Aufenthaltszweck geworden ist, verstößt gegen die unionsrechtliche Ermächtigung für Leistungsausschlüsse gem. Art. 24 Abs. 2 Unionsbürger-RL. Die Vorschrift des Art. 14 Abs. 4 Nr. b Unionsbürger-RL erfasst nach seinem Wortlaut nur "Unionsbürger [die] in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist sind, um Arbeit zu suchen". Die Einreise und die Arbeitssuche werden somit final verknüpft. Auf einen später arbeitssuchend werdenden Unionsbürger, der zu einem anderen Zweck eingereist ist, findet diese Vorschrift nach ihrem Wortlaut keine Anwendung. Ausnahmevorschriften sind im Übrigen nach ständiger Rechtsprechung des EuGH generell eng auszulegen (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Mai 2010, Az. C-94/09, Rz. 29; Urteil vom 15. April 2010, Az. C-538/08, Rz. 43). Auf Grundlage der einschränkenden Auslegung der Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II liegen die Voraussetzungen für einen Leistungsausschluss nicht vor. Die Klägerin zu 1) ist nicht zum Zweck der Arbeitssuche in die Bundesrepublik eingereist. Zum Zeitpunkt der Einreise war sie erst 14 Jahre alt. Die Klägerin zu 1) hat zum damaligen Zeitpunkt gem. § 3 Abs. 1 FreizügG/EU ihre Eltern begleitet, die ihrerseits wohl zum Zweck der Arbeitssuche bzw. Arbeitsaufnahme in die Bundesrepublik eingereist sind. Ob die Eltern tatsächlich einer selbstständigen oder nicht-selbstständigen Beschäftigung nachgegangen sind, kann hier außen vor bleiben. Es ist davon auszugehen, dass die Eltern und die Klägerin zu 1) zumindest ein Aufenthaltsrecht ggf. aus § 4 FreizügG/EU hatten. Bis zum Jahr 2009 hatten weder die Klägerin zu 1) noch ihre Eltern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erhalten. Im Übrigen besaßen sie nach den glaubhaften Angaben der Klägerin zu 1) Freizügigkeitsbescheinigungen. [...]