VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 06.05.2011 - 30 L 861.10 - asyl.net: M18776
https://www.asyl.net/rsdb/M18776
Leitsatz:

1. Bei der Weiterleitungsverfügung an die Aufnahmeeinrichtung im Asylverfahren handelt es sich um einen rechtsmittelfähigen Verwaltungsakt.

2. Die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit getroffene Altersfeststellung ist ausreichend, um im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes die aufschiebende Wirkung nicht festzustellen.

Schlagwörter: Asylverfahrensgesetz, örtliche Zuständigkeit, Antragsgegner, Aufnahmeeinrichtung, Verteilungsverfahren, Bescheid, Weiterleitungsverfügung, überwiegende Wahrscheinlichkeit, Volljährigkeit, Minderjährigkeit, Interessenabwägung, Altersfeststellung, Sachverständigengutachten, Augenschein
Normen: VwGO § 52 Nr. 3 S. 3, AsylVfG § 46 Abs. 2 S. 1, AsylVfG § 22 Abs. 1 S. 2 1. Hs. 2. Alt., AsylVfG § 75
Auszüge:

[...]

Der Antragsteller wendet sich gegen die Vollziehbarkeit seiner Verteilung als Asylsuchender an die Aufnahmeeinrichtung Dortmund.

Der Antragsteller ist bengalischer Staatsangehöriger. Unter der Angabe, er sei als unbegleiteter Minderjähriger tags zuvor eingereist, suchte er am 12. Mai 2010 bei der Zentralen Aufnahmeeinrichtung des Landes Berlin für Asylbewerber (ZAA) um Asyl nach. Als Geburtsdatum gab er den ... 1994 an. Abweichend davon schätzte die Erstaufnahme und Clearingstelle (EAC) das Geburtsdatum des Antragstellers auf den 31. Dezember 1991, seine Minderjährigkeit sei auszuschließen. Der Befund beruhte auf einer Bewertung des äußeren Erscheinungsbildes und des Verhaltens des Antragstellers durch den Sozialarbeiter. Insbesondere seien ausgeprägte Stirn- und Halsfalten, ein sichtbarer Adamsapfel und starker Bartwuchs festzustellen. Der Antragsteller habe eine männlich tiefe Stimmlage. Für die weiteren Einzelheiten wird auf die Dokumentation zur Befragung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Rahmen der Aufnahme in die Erstaufnahme- und Clearingstelle vom 12. Mai 2010 (Bl. 25ff. des Verwaltungsvorgangs) verwiesen. Darauf forderte ihn die ZAA auf, sich zur Aufnahmeeinrichtung nach Dortmund zu begeben. Dagegen hat der Antragsteller am 14. Mai 2010 Klage (VG 30 K 862.10) erhoben und die Anordnung der aufschiebenden Wirkung beantragt. [...]

Der zulässige Antrag hat keinen Erfolg.

Die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts Berlin folgt aus § 52 Nr. 3 Satz 3 VwGO. Eine vorrangige Zuständigkeit (des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen) gemäß § 52 Nr. 2 Satz 3, 1. Halbsatz VwGO ist nicht begründet. Danach ist in Streitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) das Verwaltungsgericht, in dessen Bezirk der Ausländer nach dem Asylverfahrensgesetz seinen Aufenthalt zu nehmen hat, örtlich zuständig. Allerdings steht vorliegend gerade die zuständigkeitsbegründende Verfügung im Streit. Es bleibt deshalb gemäß § 52 Nr. 2 Satz 3, 2 Halbsatz VwGO bei der Zuständigkeit nach Nr. 3.

Der Antrag ist zulässig, insbesondere richtet er sich gegen den richtigen Antragsgegner. Mit seiner Klage und seinem Antrag wendet sich der Antragsteller gegen den Bescheid des Landesamtes für Gesundheit und Soziales – Zentrale Aufnahmeeinrichtung des Landes Berlin für Asylbewerber (ZAA) – vom 12. Mai 2010, mit welchem der Antragsteller an die Aufnahmeeinrichtung Dortmund weitergeleitet wird. Auch wenn insofern eine bundesweit einheitlich gestaltete Vorlage benutzt wird, ist nach dem äußeren Erscheinungsbild des Bescheides die ZAA, also eine Behörde des Landes Berlin, erlassende Behörde. Es handelt sich auch nicht lediglich um die Übermittlung der Verteilungsentscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nach § 46 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG sondern um einen originären Bescheid des Landesamtes für Gesundheit und Soziales nach § 22 Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz, 2. Alt. AsylVfG. Die Mitteilung der als zuständig bestimmten Aufnahmeeinrichtung nach § 46 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG durch das BAMF stellt lediglich einen verwaltungsinternen Vorgang dar. Erst bei der aufgrund dieser Mitteilung von der veranlassenden Aufnahmeeinrichtung – hier der ZAA – erlassenen Weiterleitungsverfügung nach § 22 Abs. 1 Satz 2, 1 Halbsatz, 2. Alt. AsylVfG handelt es sich um einen rechtsmittelfähigen Verwaltungsakt (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 3. November 2009 - VG 19 K 228.09 - unter Hinweis auf Marx, AsylVfG, 7. Auflage 2009, § 46 Rdnr. 26, 40 ff; a. A. etwa VG Berlin, Beschluss vom 19. März 2010 - VG 24 L 76.10 -).

Der Antrag ist jedoch unbegründet. Gemäß § 80 Abs. 5 VwGO überwiegt das öffentlichen Interesse am sofortigen Vollzug der Aufforderung des Landesamtes für Gesundheit und Soziales, sich zur Erstaufnahmestelle nach Dortmund zu begeben, das Interesse des Antragstellers von einer Vollziehung einstweilen verschont zu bleiben.

Der angegriffene Bescheid vom 12. Mai 2010 erweist sich nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein gebotenen und erforderlichen summarischen Prüfung als offensichtlich rechtmäßig. Das besondere Vollzugsinteresse folgt bereits aus der gesetzlichen Anordnung des Sofortvollzugs gemäß § 75 AsylVfG.

Nach § 22 Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz AsylVfG nimmt die Aufnahmeeinrichtung, bei welcher sich der Asylbewerber gemeldet hat, den Asylbewerber auf oder leitet ihn an die für seine Aufnahme zuständige Stelle weiter. Mit dem angegriffenen Bescheid erfolgte die Weiterleitung des Antragstellers an die vom BAMF nach § 46 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG als zuständig benannte Aufnahmeeinrichtung Dortmund. Dass die Ermittlung dieser Aufnahmeeinrichtung entgegen der in § 46 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG genannten Kriterien erfolgt ist, ist nicht ersichtlich. Insbesondere kann eine Weiterleitung des Antragstellers an die Aufnahmeeinrichtung nach Dortmund erfolgen, weil er - entgegen seinen Angaben - mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zum Zeitpunkt der Verteilungsentscheidung bereits das 18. Lebensjahr vollendet hatte und damit keinen Anspruch darauf hat, im Rahmen der für zwischen 16 und 18 Jahre alte Asylsuchende geltenden "Kulanzregelung" des Landesamtes für Gesundheit und Soziales nach Berlin verteilt zu werden.

Für die im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes gebotene Interessenabwägung, die sich primär an den Erfolgsaussichten der Hauptsache zu orientieren hat, genügt die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit getroffene Altersfeststellung (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Februar 2010 - OVG 6 S 2.10/ OVG 6 M 21.10) des zusammenfassenden Sachverständigengutachtens des Sachverständigen Dr. Schmidt vom 21. Februar 2011. Die Altersfeststellung beruht auf den tatsächlichen Feststellungen seines Teilgutachtens vom 28. Januar 2011 (Bl. 66ff. d. A.) und denen des zahnärztlichen Teilgutachtens von PD Dr. med. dent. Andreas Olze (Bl. 68ff. d. A.). Das Ergebnis des Gutachtens bestätigt den am 12. Mai 2010 gewonnenen persönlichen Eindruck des Sozialarbeiters der Clearingstelle, wonach aufgrund der ausgeprägten Stirn- und Halsfalten, einer männlich tiefen Stimme, starken Bartwuchs, eines sichtbaren Adamsapfels und des Körperbaus eines Erwachsenen, die Minderjährigkeit des Antragstellers ausgeschlossen wurde, und steht wiederum in Einklang mit weiteren Erkenntnissen, wie etwa dem Lichtbild des Antragstellers. Nach alledem erachtet es die Kammer für nicht geboten, über die hier erfolgte Altersfeststellungen durch ein zahnärztliches Gutachten und die körperliche Untersuchung weitere Aufklärungsmaßnahmen, etwa durch eine radiologische oder MRT-Untersuchung vorzunehmen. Insofern teilt die Kammer die in dem Beschluss der 18. Kammer vom 1. April 2011 (VG 18 L 111.11) getroffene Einschätzung zur Altersfeststellung des Antragstellers. [...]